… aus dem Leben eines Zukunftsforschers auf Reisen: Anfang März stand ich innerhalb von sieben Tagen fünf Mal auf der Bühne bzw. leitete einen Workshop. Bei einem war ich aktiver Teilnehmer, immerhin. Hier mein kurzes Reisetagebuch mit wertvollen Einblicken in die Dinge, die die Welt aktuell bewegen.
Meine Reiseroute Mi-Di: Einmal quer durch Deutschland (+ Salzburg)
Skurrilerweise war ich im Februar nur einmal im Kundenauftrag „on the road“, der März begann direkt mit dem Gegenteilprogramm. Denn genau genommen startet unsere Reise am Mittwochabend, dem 1. März und endet am 7. März 2023.
Leipzig und die Bildungsrevolution
Den Ernst-Klett-Verlag (Hauptsitz Stuttgart, die Anfrage kam aus dem Leipziger Verlagsbereich für sozialwissenschaftliche Themen) kennen die meisten von uns dank der schönen Literatur noch aus dem Schulunterricht. Die Geschäftsführung meldete sich bei mir, da ich mich als Zukunftsforscher unter anderem mit den Themen Bildung und KI beschäftige – und da war schon im Januar klar, dass wir sprechen müssen, als die Veröffentlichung von OpenAIs Vorzeige-Projekt ChatGPT die Runde machte.
So lud mich Klett zu einem aktuellen und einflussreichen Thema ein: „ChatGPT im Klassenzimmer: Fluch oder Segen?“. So hieß das Webinar, in dem ich eine digitale Keynote halten und mich anschließend den Fragen des Publikums – vor allem Lehrkräfte – stellen durfte. Warum gerade ich?
- Die Bildungswissenschaft ist Teil der DNS der deutschsprachigen Zukunftsforschung, immerhin wurde das Institut Futur an der Freien Universität am Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie gegründet. Außerdem habe ich in meinem Grundstudium Soziologie / Politik- und Verwaltungswissenschaft auch die Zusammenhänge von Psyche und Gruppenverhalten studiert.
- Mein Whitepaper über zukunftsfähige Bildungssysteme, welches inzwischen übrigens auch über ISSN in der Deutschen Nationalbibliothek gelistet ist, beschreibt ein paar Zukunftsbilder des Bildungssystems – nicht uninteressant, wenn man Teil des Systems ist.
- Mit künstlicher Intelligenz (KI) befasse ich mich professionell seit meinem Studium der Zukunftsforschung und spätestens mit dem Band „Arbeitswelt und KI 2030“ auch in Buchform nachlesbar. Kürzlich hatte ich den fantastischen Dr. Aljoscha Burchardt (DFKI) im Januar (#093) im Podcast „Im Hier und Morgen“ zu Gast, um ChatGPT für alle verständlich zu erklären.
Das Klett-Webinar war am ersten Tag nach Verkündung im Klett-Eventkalender ohne Werbung ausgebucht, daher haben wir es auch nicht mehr beworben. 500 Teilnehmende wollten sich anschauen, was nun das Besondere an ChatGPT ist und welche Impulse wir gemeinsam für die Unterrichtsgestaltung geben. Letztlich war diese Frage natürlich schwieriger zu beantworten als möglicherweise erhofft; schließlich ist jede Klasse anders, jedes Fach in jeder Stufe stellt unterschiedliche Anforderungen – die wichtigste Botschaft lautete daher: Legt euch einen Account an und probiert es selbst aus, bevor das Kind in den Brunnen fällt. So eine starke Verkürzung der Diskussion im Anschluss an meine Keynote. Den meisten sollte klar geworden sein, dass mit ChatGPT endgültig die versteifte Prüfungsversessenheit des deutschen Bildungssystems ein Ende gefunden haben dürfte. Mehr noch: Meine These stellt auf eine Revolution im Bildungssystem ab. Das wird erst in ein paar Jahren so ersichtlich sein, weil die Prozesse zu einem neuen Alltag natürlich langwierig bleiben, doch das Erbe des Bildungssystems gerät schon jetzt ins Wanken. Weg mit den Prüfungen, weg mit den Noten, vielleicht werden sogar die Fächergrenzen endlich eingerissen. Ich bleibe am Ball.
Berlin und die Zukunft Deutschlands
Donnerstagfrüh ging es für mich nach Berlin zu einem Workshop mit D2030 – Deutschland neu denken e. V. und den Projektpartnern des Szenarioprozesses „Neue Horizonte 2045“ – Deutsche Bahn, EnBW und AOK PLUS. Ich bin einer der Expert:innen im Szenarioteam und an der Erstellung von Szenarien beteiligt, die mögliche, konsistente Entwicklungspfade der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft auf dem Weg in die CO2-Neutralität beschreiben sollen. Ich bin Mitglied bei D2030, weil ein nennenswerter Teil der Gründer:innen mich schon lange Zeit auf dem Weg als Zukunftsforscher begleitet und ich weiß, dass methodisch hier alles richtig läuft. 2018 wurden erstmals Szenarien zur Zukunft Deutschlands veröffentlicht, welche nach Beginn der Pandemie sowie nach der Invasion Russlands in die Ukraine einem Stresstest unterzogen wurden. Nun sollen die Szenarien, die übrig geblieben und nach wie vor konsistent wahrscheinlich sind, in einer neuen Runde überprüft und ergänzt werden. Schließlich hat sich auch sonst etwas seitdem getan.
Wir diskutierten in illustrer Runde über die wichtigsten Rahmenbedingungen des Projekts, also die Einflussfaktoren, aber auch den Projektablauf. Im Herbst sollen die Ergebnisse stehen, die übrigens auch unter öffentlicher Beteiligung entstehen. Allein über Wildcards, also ungewisse und potenziell einflussreiche Ereignisse wie Vulkanausbrüche, einen Krieg um Taiwan oder das frühere Erreichen ökologischer Kipppunkte, tauschten wir uns fast eine Stunde lang aus. Übrigens wird es auch einige Möglichkeiten der Beteiligung geben, also lohnt sich ein Newsletter-Abo der Initiative!
Von Berlin aus ging es für mich mit der Bahn zum Düsseldorfer Flughafen, wo ich einen Mietwagen abgeholt habe, mit welchem ich am späten Abend nach Mönchengladbach fuhr – natürlich ein Elektroauto.
Mönchengladbach oder Aachen: Hauptsache ChatGPT!
In Mönchengladbach checkte ich gegen 23 Uhr im Hotel ein und nahm letzte Änderungen und Ergänzungen an meiner Präsentation für den nächsten Tag vor: Eine Keynote bei der Hochschulverwaltung der RWTH Aachen, welche letztes Jahr aufgrund einer Terminkollision bei mir leider nicht möglich war. Umso schöner war es, dass wir nun endlich zusammengefunden haben!
Freitagvormittag legte ich den letzten Teil der Strecke zurück, strandete kurz dank der Inkompatibilität des BYD-Mietwagens in Aachen, denn ich durfte lernen, dass nicht alle Ladestationen zu allen Elektroautos passen. Glücklicherweise hatte ich ausreichend Puffer eingeplant, bin etwas früher als geplant aufgestanden, sodass ich nicht ins Schwitzen kam. Die 90 Minuten Wartezeit bis zum vollen Akku verbrachte ich in der netten Sixt-Station in Aachen, die durch einen Kaffeevollautomaten, sehr freundliches Personal und bequeme Sessel die Strapazen erträglich gemacht hat.
Die letzte Etappe fuhr ich zur Charles Eventlocation in Aachen, um beim Strategietag der RWTH anzukommen. Die Begrüßung des Publikums habe ich natürlich ChatGPT vorlesen lassen, anschließend drehte sich mein Impulsvortrag um Perspektiven auf Zukünfte und welche Strategien es für Führungskräfte gibt, ihre Beschäftigten durch die ungewissen Zeiten zu lotsen. Das Stichwort Employer Branding tauchte möglicherweise auch darin auf.
Nach einer spannenden Fragerunde und Gesprächen mit der Führungsetage der Verwaltung, was denn nun konkret umgesetzt werden könne, stieg ich in den Mietwagen, um zurück zum Flughafen zu navigieren. Denn anschließend musste ich leider ausnahmsweise ein Flugzeug besteigen, immerhin knapp kein Inlandsflug – es ging nach Salzburg. Auslöser dafür war der Streik sämtlicher Verkehrsunternehmen im Nah- und Fernverkehr am 3. März, welchen ich ausdrücklich unterstütze, leider auf Kosten meines ökologischen Fußabdrucks. Dass dieser ohnehin Augenwischerei der fossilen Lobby ist, wissen wir ja zum Glück, dennoch versuche ich natürlich, meine Flüge geringzuhalten.
Salzburg und die Zukunft der Digitalisierung & Dekarbonisierung
Warum eigentlich Salzburg?
Erstens ist Salzburg immer eine Reise wert.
Zweitens war ich dort am nächsten Tag eingeladen, also am 4. März, genauer bei der 8. Konferenz für Interim-Management des Dachverbands der österreichischen Interim-Manager, um eine Keynote über „Dekarbonisierung und Digitalisierung“ vor rund 180 Interim-Managern zu halten. Die wichtigsten Erkenntnisse habe ich ausführlich in einem anderen Zlog-Beitrag über das goldene Zeitalter des Interim-Management festgehalten.
Einen Teil des Programms konnte ich mitverfolgen und habe anerkennend festgestellt, dass die Speerspitze des agilen Managements schon tief in den Themen auf meiner ersten Präsentationsfolie steckt. Digitalisierung ist hier kein Buzzword, sondern alltägliche, operative Praxis. Ebenso Dekarbonsierung, wie ich in einem Vortrag von Dr. Pfeifer sehen konnte: Er referierte vor mir über die Einführung von ESG (ecological and social governance) in Unternehmen, also wie Organisationen Nachhaltigkeitsreporting aufsetzen und die CO2-Emissionen erst einmal erfassen, dann Maßnahmen zur Reduktion umsetzen und vieles mehr.
Der Interim-Management-Bereich ist mir nicht neu und zahlt stark auf meine gängigen Thesen rund um die Arbeitswelt der nächsten 10-15 Jahre ein. Viele Organisationen sind schlicht überfordert mit der Vielzahl dringender und wichtiger Trends, wenn man das so allgemein sagen darf. Dennoch war ich ziemlich baff, als ich auf dem Weg nach draußen – zum Bahnhof – Zuspruch von Dutzenden Teilnehmenden erhielt, in viele Gespräche verwickelt wurde, was mich als typischen Tiefstapler natürlich umso mehr gefreut hat. Wir bleiben in Kontakt!
Balingen / Hechingen und ein intensiver Future Day
Anschließend ging es mit der Bahn von Salzburg nach Balingen in Baden-Württemberg, da ich am Montag einen Workshop (Future Day) in Hechingen gemeinsam mit PROFORE-Partner Sven Göth (FUTURISER) leiten durfte. Dieser wurde seit 2020 verschoben aus den unterschiedlichsten Gründen, einer hatte mit Corona zu tun.
In sechs Stunden haben wir vor einem Team aus zwei unterschiedlichen Unternehmen erst Impulse geliefert, sind dann in die Relevanzbewertung eingetaucht, um schließlich sehr konkrete Ableitungen für nächste Schritte zu treffen. Diagnose: Sieht gut aus, die Potenziale sind gigantisch, möglicherweise später mehr. Dieses Format macht mir besonders viel Freude, weil nicht nur die visionäre Fortschreibung von Trends im Mittelpunkt steht, sondern der konkrete Bezug aufs Geschäftsmodell, das ich vorher in der Regel nicht kenne – und meist auch meine Kundinnen und Kunden nicht so genau beschreiben können.
München und der Spielfilm aus dem Laptop
Montagabend fuhren Sven und ich gemeinsam nach Stuttgart, von dort aus bin ich dann mit der Bahn nach München gereist, um am Dienstag eine lange verschobene Keynote bei Constantin Film – erstmals im Kino-Ambiente! – vor rund 50 Menschen zu halten. Auch hier war der Termin eigentlich für 2021 angesetzt, wurde seitdem mehrfach neu terminiert, nun war es endlich so weit!
Die Kernfrage lautete hier: Womit verdienen Produktionsfirmen eigentlich Geld, wenn ChatGPT, Dall-E und Co. die Produktion von Bewegtbild auf jeden Laptop bringen? (Keine Sorge, es gab auch Antworten) Denn das ist kurz vor Veröffentlichung von GPT-4 eindeutig naheliegend: Wenn schon jetzt Seinfeld-Folgen auf Dauerschleife im Comicstil von einer KI geschrieben und produziert werden, fotorealistische Echtzeit-Generierung von Endlos-Computerspielewelten Einzug in die Gaming-Community halten und immer mehr Menschen unzufrieden mit dem Ausgang von Filmen und Serien sind (wer erinnert sich an den Shitstorm nach der letzten Game of Thrones Staffel?), stellt sich mal wieder die alles entscheidende Frage: Was ist eigentlich der Kern des Geschäftsmodells? Spoiler: Es ist nicht die Produktion des Films. Es ist das Storytelling, die Auswahl origineller Geschichten und Heldenreisen.
Anschließend hatte ich noch zwei Meetings in München, in einem ging es um ein eigenes Projekt, das möglicherweise unter meiner Mitwirkung eines Tages auf Bildschirmen zu sehen sein wird. In dem anderen ging es um mein anderes Großprojekt, in dem wir gerade drei Sammelbände unter der Überschrift „Nachhaltigkeit und Innovation“ im Springer VS Verlag vorbereiten. Stay tuned…
Epilog
Das Thema, das überall die Gespräche dominierte, war ganz klar ChatGPT. Dazu habe ich ja hier und bei GIGA und auch in anderen Medien schon meine Einschätzung geteilt. Natürlich nutze ich dieses und andere Tools wie you.com inzwischen standardmäßig, ebenso tun es Schüler:innen, Redakteur:innen und alle, die mit Text zu tun haben. Ersetzt das nun massenhaft Jobs? Vielleicht in den USA und einigen wenigen Unternehmen in Deutschland. In Wirklichkeit steigern die generativen KIs nun endlich die Produktivität – auf diese Steigerung haben wir sehr lange gewartet. Möglicherweise ist das ein Hebel gegen den Fachkräftemangel… doch ohne Umschulungskonzepte schaffen wir die anderen Herausforderungen nicht.
Am Dienstagabend fuhr ich dann endlich wieder nach Hause. Mit so vielen neuen Eindrücken im Gepäck, dutzenden ungelesenen E-Mails im Postfach und Vorfreude auf mein Zuhause mit anderthalb geliebten Mitbewohner:innen konnte es gar nicht schnell genug gehen…
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