Die Renaissance des Verbrennungsmotors

„Totgeglaubte leben länger“, hat bestimmt mal Albert Einstein oder Mark Twain gesagt. Die Liste der dafür empirisch zur Untermauerung genannter Beispiele wird sich möglicherweise schon bald um einen Kandidaten erweitern, mit dem nun wirklich gerade niemand rechnet: der Verbrennungsmotor.

Elektromobilität ist die neue Religion

Alle Welt und Massenmedien prescht in puncto Antriebstechnologie bzw. Treibstoffe für Autos und andere Fahrzeuge gerade in Richtung E. E ist wie eine neue Religion. E spaltet die Geister, die politischen Lager, die Konzernwelten und das aus vielen Gründen. Diejenigen, die den Markt der E-Mobilität dominieren, haben die etablierte Industrie überrannt. Gefühlt über Nacht brachte Tesla ein fast alltagstaugliches Elektroauto auf den Markt (Roadster), dann ein relativ teures, wirklich alltagstaugliches (S), dann eins zu akzeptablem Preis (3)*, nicht zu vergessen einen SUV (X).

Die Arroganz der etablierten Automobilindustrie wird ihr gerade zum Verhängnis, der öffentliche Kampf gegen E-Autos wurde beigelegt und nun bauen auch sie E-Modelle, manche mehr, manche weniger. Es sei eine „Zukunftstechnologie“ (was für ein Quatsch, die allerersten Autos waren auch elektrisch betrieben), außerdem müsse man sich angesichts der immer schärferen CO2-Auflagen für Automobilbauer darum bemühen, im Durchschnitt weniger Dreck zu emittieren. Deshalb gibt es ja auch bald den E-Smart, damit die Luxuslimousinen desselben Konzerns weiterhin 600 PS mit Diesel- oder Benzinmotoren über die Bundesstraßen jagen können.

Auf der anderen Seite die ausdauernden E-Skeptiker. Lithium-Ionen Batterien, so ihr Plädoyer, mögen zwar mit Inbetriebnahme weniger CO2-Emissionen generieren. Aber für die Herstellung müssen große Mengen sogenannter Blut-Rohstoffe wie Cobalt oder, wie der Name ahnen lässt, Lithium abgebaut werden. Die sind vor allem dort vorhanden, wo Gesundheits- und Arbeitsrechtsstandards reine Theorie sind. Und vielleicht in Sachsen. Außerdem werden große Energiemengen benötigt, um überhaupt eine Batterie herzustellen – was überwiegend noch aus fossilen Quellen befeuert wird. Und dann ist es außerdem so, dass Batterien mit einer sinnvollen Kapazität für mehrere 100km Antrieb eines Autos ein stattliches Gewicht auf die Waage bringen. Deshalb produziert man einen guten Teil der Batterie nur dazu, sich selbst zu bewegen – irgendwie paradox. Unterm Strich, haben kluge Menschen errechnet, dass ein Elektroauto wie der Tesla Model S erst nach 80-100.000 gefahrenen Kilometern wirklich klimapositiv fährt.

Es klingt immer blöd, aber: Zukunftsforscher wissen längst, dass die Zukunft der Branche nicht von Elektromotoren dominiert sein wird. Natürlich lässt es sich nicht mehr verhindern, dass ein gewisser Anteil der Personenfahrzeuge im Jahr 2030 elektrisch angetrieben werden (ich schätze irgendwo zwischen 15 und 25 Prozent). Aber bei all dem Schaumschlagen um die batteriebetriebenen Fahrzeuge schlüpfen ein paar spannende technologische Entwicklungen aus den Kinderschuhen, um die E-Revolution anzugreifen.

Die Revolution der Revolution der Mobilität

Wie verrückt erscheint Ihnen die Vorstellung, CO2 aus der Atmosphäre zu extrahieren, mit Wasserstoff chemisch zu verheiraten und daraus einen flüssigen Treibstoff herzustellen, der in üblichen Verbrennungsmotoren Schub erzeugt? Oder wenn wir giftige Nebenprodukte der Chemieindustrie wie LOHC mit einem ähnlichen Ziel nachnutzen könnten? Genau das passiert gerade. Ich habe im obigen Absatz bewusst nur zwei Quellen verlinkt, es arbeiten diverse Akteure aus unterschiedlichsten Industrien (darunter auch Audi) rund um den Globus daran, die vorhandenen Autos mit Verbrennungsmotor vor dem Exitus zu retten.

Ich wundere mich immer wieder über die Starrköpfigkeit der Öffentlichkeit oder auch Politik, solche Entwicklungen zu ignorieren. Man streitet lieber noch über das böse Cobalt und hackt übel gelaunt Tweets in sein Smartphone (, welches nebenbei bemerkt auch aus einer Menge Blutrohstoffe von oft suizidalen Arbeitern der Zu-zu-zulieferer der schillernden Marken zusammengeklöppelt wurde). Augen auf, liebe Leute: Die Revolution der Revolution hat längst begonnen.

Fazit: Der Verbrennungsmotor ist nicht tot, nur das Verbrennen fossiler Energieträger. Das Wettrennen der Lobbyisten um Fördergelder für entweder Elektromobilität oder die Rehabilitation des Verbrenners dürfte in vollem Gange sein.

PS: Der Vollständigkeit halber: ich fokussiere in diesem kurzen Beitrag bewusst nur auf „herkömmliche“ Elektromotoren vs. Verbrenner, alle anderen Konzepte (von Wasserstoff-Hybrid über Ionenantrieb bis Thorium) klammere ich mal aus. Ergänzungen bitte ins Kommentarfeld ????

*Funny fact: Das Model 3 sollte ursprünglich Model E heißen, was aber von der Konkurrenz markenrechtlich gerichtlich verboten wurde. Aber auch mit S, 3 und X funktioniert der Guckwitz von Elon Musk’s heißem E-Auto-Trio. Wir dürfen gespannt sein, ob er es mit einem Model Y zu einem Vierer verwandelt (Spekulation basierend auf der Biographie von Elon Musk).

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Einzelhandel / Retail der Zukunft

Sterben die Innenstädte bald aus? Nein. Geht künftig überhaupt noch jemand in der Fußgängerzone bummeln, wenn wir doch bequem von der Couch aus sämtliche Konsum-Bedarfe auf unserem Tablet online bzw. mobil bestellen und uns Drohnen beliefern? Wahrscheinlich ja. Ein Plädoyer für Augenmaß bei Trend-Debatten.

Retail 2019: Status Quo des Handels

Der deutsche Einzelhandel steht unter Druck. Die Umsätze steigen zwar voraussichtlich auch 2019 weiter an, doch besonders Kleinstädte und ländliche Regionen werden zunehmend zum „Opfer der Digitalisierung“, wie das Handelsblatt Anfang Januar titelte. Immer mehr E-Commerce und M-Commerce (mobiles Shopping) bedrängen die kleinen Händler, die sich ohnmächtig fühlen. Immer mehr Bestellungen werden über Sprachassistenten wie Amazons Alexa, Apples Siri, Microsofts Cortana, Googles bzw. Alphabets Home oder Samsungs Bixbi aufgegeben – und das bald schon ohne Zutun der Menschen, wenn es nach Unternehmen wie Gupshup geht. Immer mehr Händler fühlen sich ohnmächtig im Angesicht einer wachsenden Marktmarkt der Retail-Goliaths Amazon, Alibaba, H&M und Co.

Walmart hat kürzlich angekündigt, seinen US-Kunden die Lebensmittelbestellungen künftig bis in den Kühlschrank zu liefern. Andere Händler übertrumpfen sich gegenseitig dabei, jegliche Bestellungen vor die Haustür zu bringen – in immer kürzerer Zeit. So möchte Amazon mithilfe des neuen hauseigenen Drohnen-Lieferdienstes Prime Air innerhalb von 30 Minuten Kunden in Großstädten mit ihren Kleinbestellungen bis zu 2,3 kg versorgen (innerhalb eines Radius‘ von 24 Kilometern bis zum nächsten Lager). Dabei ist Amazon seinerzeit zum weltgrößten Handelsunternehmen aufgestiegen, viele Jahre ohne eigene Lager zu besitzen.

Ist das alles Digitalisierung? Absolut. Einer der zentralen Mechanismen der Digitalisierung ist die Plattform-Ökonomie, welche die Grundlage für den Erfolg von Amazon, Facebook, Netflix, Uber, Airbnb etc. bildet. Der Mechanismus lautet: Wenn du eine Software schreiben kannst, die bestehende Infrastruktur und technische Geräte zu deinen Gunsten besser organisiert als das bisherige, analoge System, dann suche dir rechtzeitig einen guten Vermögensverwalter.

Scheinbar ausweglos? Nein! Es ist noch nicht alles verloren.

Ich kenne die Situation im Einzelhandel ganz gut, nicht zuletzt aus biographischen Gründen. Ich stamme aus einer Stadt, die den Niedergang der Fußgängerzone in den letzten 20 Jahren live miterlebt hat. Aus Beratungsprojekten der vergangenen Jahre und Dutzenden Gesprächen mit Insidern kenne ich die Themen, die dem deutschen Retail-Segment Sorgen bereiten. Mit diesem Beitrag lade ich Sie ein, die Situation von Grunde auf neu zu bewerten. Los geht’s mit einem…

Perspektivwechsel: Blickpunkt China

Im Herbst 2018 bin ich im Zusammenhang mit einem Studienprojekt bei meinem alten Arbeitgeber nach China gereist. Dort habe ich mich mit einigen Unternehmer*innen in Shanghai und Peking unterhalten, um dem Mythos auf den Grund zu gehen, dass China uns in puncto Technologie längst überholt hat. Die kurze Antwort auf diesen Mythos lautet: Nein, aber ja. Nein, ein fundamentaler Vorsprung lässt sich nicht attestieren. Aber ja, in China verlassen jedes Jahr grob geschätzt so viele Informatikstudierende die Hochschulen wie hier überhaupt für alle Fächer eingeschrieben sind. Noch ist es nicht soweit, aber es besteht ausreichend Grund, hierzulande alles in Bewegung zu setzen, um den Anschluss nicht zu verlieren. Schließlich wollen wir doch nicht wie bei der MP3 oder dem Automobil im Nachhinein Vordenker auf diversen Gebieten sein, aber anderen den ökonomischen Erfolg überlassen. Oder?

Zurück zum Reisebericht. Besonders lehrreich war für mich auf meiner ersten Chinareise ein ganzer Tag mit Jingdong (JD.COM). Nach eigenen Angaben hat der Konzern im letzten Jahr mehr Waren verkauft als Alibaba, welches im Rest der Welt deutlich bekannter ist, und ist damit zum landesweit größten Online- und Offline-Händler des Landes aufgestiegen. Die Firmenzentrale in Peking ist zunächst unscheinbar und nur das Maskottchen – der weiße Hund – deutet daraufhin, dass in dem verglasten Gebäude keine Bank oder eine gewöhnliche Behörde ihren Hauptsitz hat. Zuvor haben wir mit der lustigen, heterogenen Reisegruppe schon ein paar Stationen in Peking erkundet, haben in einem Jingdong Restaurant-Supermarkt (7FRESH) zu Mittag gegessen und Blockchain-vernetzte Fische in den Aquarien bestaunt. Außerdem durften wir das personalfreie Popup-Geschäft im Erdgeschoss ausprobieren, in dem kein Kassierer sitzt . Hier loggen sich die Kunden beim Eintreten in den Markt mit ihrem Smartphone ein und erhalten einen einmaligen Code aufs Telefon. Kameras und RFID-Chips senden automatisch die vom Kunden ausgewählten an diesen Code, sodass die Software beim Verlassen des Geschäfts automatisch den fälligen Betrag vom Konto des Kunden einzieht. In China gibt es keine Gewerkschaft, die dagegen sein könnte, also wird es einfach gemacht.

In dem Jingdong Hauptquartier habe ich dann also im Rahmen einer kleinen Pressekonferenz einige leitende Mitarbeiter getroffen, darunter auch Chen Zhang, damals noch Chief Technology Officer – also Chef-Ingenieur – von Jingdong. Zhang bringt viele Jahre Erfahrung aus dem Silicon Valley mit und hat in seiner Zeit bei JD.COM das mindset des chinesischen Konzerns maßgeblich geprägt und ungewöhnliche Ideen vorangetrieben. Jingdong konnte nur derart erfolgreich werden, weil die Unternehmensführung früh begriffen hat, dass reiner Handel kein skalierbares Geschäftsmodell ist. Die Margen sind begrenzt und je länger eine Wertschöpfungskette ist, desto weniger Gewinn bleibt am Ende für jedes Glied. Deshalb ist Jingdong ebenso wie die G-MAFIA (Google, Microsoft, Amazon, Facebook, IBM, Apple) zu einem Technologieunternehmen geworden. Ohne Datenauswertung (Big Data bzw. Predictive Enterprise) lässt sich heute kein Sortiment mehr optimieren, keine Lagerdisposition organisieren, kein Transport über tausende Kilometer realisieren – schon gar nicht in einem Markt mit potentiell 1,3 Milliarden Kunden wie in China. Jingdong hat deshalb auch eine eigene Logistikinfrastruktur durchs gesamte Land aus dem Boden gestanzt und testet fleißig autonome Fahrzeuge in der International Auto City in Shanghai (nebst Volkswagen, Ford und Co.).

Neben den üblichen Themen der Retailer – Drohnenlieferungen, Blockchains zur Nachverfolgung der Waren vom Erzeuger bis zum Point of Sale, Lagerautomatisierung, personalfreier Einzelhandel – hat mich ein Thema aus Zhangs Erzählungen besonders fasziniert: Retail as a Service. Das Konzept war mir zwar nicht neu, aber ich habe es zugegebenermaßen vorher nicht vollständig verstanden – nicht zuletzt da es noch keine ernsthafte Umsetzung gab.

Was steckt also hinter Retail as a Service (RaaS)? Ich versuche mich an einer knackigen Erklärung, ohne Gefahr zu laufen, Werbung für Jingdong zu machen. Ein Handelsunternehmen, welches in einer geografischen Region über viel datenbasiertes Knowhow verfügt, kooperiert mit kleinen Händlern. Ende der Geschichte.

Retail as a Service: Fiktive Geschichte einer Implementierung

Konkret kann RaaS folgendermaßen aussehen. Stellen Sie sich vor, Sie betreiben ein Spielwarengeschäft in der Lüneburger Fußgängerzone. Sie spüren seit Jahren, dass immer weniger Kunden zu Ihnen ins Geschäft kommen. Und dann gibt es immer wieder solche, die sich lang und breit von Ihnen beraten lassen und nach einem netten, informativen Gespräch mit folgenden Worten Ihr Geschäft verlassen: „Vielen Dank, ich denke nochmal darüber nach.“ Sie ahnen schon, dass Sie die Kundin erstmal nicht wiedersehen werden, dass sie lieber online bestellt und damit vielleicht ein paar Euro spart, und Sie fühlen sich ausgenutzt. Immerhin haben Sie die Kundin doch beraten und da ist ein kleiner Preisaufschlag doch gerechtfertigt! Ist er auch, doch viele Kunden entscheiden letztlich grundlegend rational. Und die Währung für diese Entscheidung ist der Preis. Dass Sie beide Zeit für das Gespräch investiert haben, dass Sie Miete für Ihr Geschäft zahlen und vielleicht sogar besonderen Wert auf gut ausgebildetes Beratungspersonal legen, juckt den Geldbeutel der wenigsten Kunden. Doch es ist Rettung in Sicht: Unternehmen wie Jingdong erkennen gerade den fragmentierten Markt der kleinen Händler immer mehr als attraktive Partner im RaaS-Sinne. Und das läuft dann so ab.

Ein großes Technologie- und Handelsunternehmen wendet sich an Sie als Inhaber unseres Spielwarengeschäfts, wahrscheinlich via E-Mail. Der große Händler, nennen wir ihn ABC AG, verblüfft Sie zunächst mit einigen Erkenntnissen über Ihre Kunden ohne jemals Ihren Laden oder Lüneburg oder Niedersachsen betreten zu haben. Außerdem kennt er Ihr Sortiment einigermaßen genau und wird schon in einem ersten Gespräch Optimierungsvorschläge nennen, welche Produkte oder Dienstleistungen gerade bei Ihren Zielkunden angesagt sind. Schließlich wird die ABC AG Ihnen ein Angebot machen, über das Sie sicher erst eine Nacht schlafen müssen: Die ABC AG steigt als stiller Beteiliger in Ihrem Unternehmen ein und hilft Ihnen dabei, die lange fälligen Renovierungs- und Modernisierungsarbeiten an Ihrer Ladenfläche zu realisieren.

Nehmen wir an, Sie entscheiden sich für die Kooperation. Dann geht alles ganz schnell. Neben einer Verjüngungskur für Einrichtung und Innengestaltung installiert Ihr neuer Partner ein paar Kameras im Eingangsbereich, die fortan alle Kunden, die damit einverstanden sind, per Gesichtserkennung identifizieren und durch einen Abgleich mit Ihrem Kundenregister (CRM) einsortieren. An kleinen und großen digitalen Bildschirmen in Ihrem Geschäft werden die auf diese Weise erkannten Kunden mit individualisierten Produktvorschlägen und personalisierten Sonderangeboten gelockt. Nimmt ein Kunde ein Produkt aus dem realen Regal, werden zudem auf Wunsch auf einem Monitor in der Nähe Informationen über die Herkunft, Haut(un)verträglichkeiten, Anwendungsmöglichkeiten etc. angezeigt – möglich machen es RFID- oder NFC-Chips an den Produkten und Verpackungen. Die digitalen Preisschilder synchronisieren sich laufend mit den Preisen auf der Online-Plattform der ABC AG, sodass der Kunde überhaupt kein Argument hat, jetzt nicht sofort in Ihrem Geschäft Umsatz zu generieren – andernfalls weiß die ABC AG auch genau, dass exakt dieser Kunde bei Ihnen im Geschäft war und Sie erhalten umgekehrt dennoch eine Verkaufsprovision, wenn der Kunde doch lieber von zuhause aus bestellt.

Zusätzlich bieten Sie natürlich die Möglichkeit an, Ihren Kunden die eingekaufte Ware aus Ihrem Geschäft nach Hause zu liefern; dafür sorgt das durch die ABC AG betriebene, hochgradig automatisierte Logistiknetz mit fliegenden und fahrenden Drohnen. Und letztlich bieten Sie neuerdings nicht mehr nur Spielwaren an, sondern auch einige Artikel und Dienstleistungen, die Ihre Zielgruppe außerdem interessant findet. Wenn wir davon ausgehen, dass Ihr Endkunde in der Regel Kinder und Jugendliche sind, zusätzlich zu diesen aber auch deren erwachsene Verwandte bei Ihnen im Geschäft stehen, könnten diese zusätzlichen Artikel vielleicht die letzten SPIEGEL Bestseller, Küchengeräte oder Gartenmöbel sein. Das wird die ABC AG auf jeden Fall wissen, denn sie weiß sehr viel über diese Menschen, die Ihren Laden betreten – und welche Bedürfnisse sie außerhalb dieses Geschäfts haben. Und das Beste: Sie verfügt über exakt diese Waren und stattet Ihr Geschäft in einer kleinen, dedizierten Motto-Ecke damit aus. Das Sortiment in diesem Bereich wechselt selbstverständlich regelmäßig, immerhin braucht kein Mensch im tiefsten Winter einen Liegestuhl für die Veranda.

Last but not least: Bezahlsysteme / Payment. Ich habe oft das Gefühl, dass alternative Bezahlsysteme hierzulande noch wie Magie anmuten. Am liebsten zahlen die Deutschen noch mit Bargeld, erst 2018 wurde mehr Geld überwiesen als überreicht. Damit sind wir in Bezug auf das Geld bestenfalls konservativ. Einige Händler und Gastronomen rudern sogar wieder zurück, da sie die Gebühren der Kreditkartenunternehmen nicht übernehmen möchten. Dass dieses Argument fahrlässig kurz gedacht ist, weiß jeder, der schon einmal das Lokal gewechselt hat, weil er oder sie nicht mit Kreditkarte zahlen konnte. Umgekehrt ist es ein Leichtes für Händler oder Gastronomen, bestimmte Preise im Sortiment zu heben und somit die Gebühren zu amortisieren. Noch besser, man macht sich unabhängig von den Kreditkartenunternehmen und akzeptiert Paypal, Apple Pay oder Google Pay. Warum Geräte anschaffen, wenn die Kunden ihre Bank in der Hosentasche mit sich herumtragen? Sicherlich müssen sowohl Personal als auch Kunden in der Anfangsphase geschult werden. Doch Ihre Buchhaltung und Steuerberater werden es Ihnen danken, wenn sie keine verklebten Bons mehr Wochen nach Beleg entziffern müssen.

Lohnt sich der Blick nach China? Nun, das liegt ganz an Ihnen. Chen Zhang hat im Gespräch Oktober 2018 angekündigt, dass Jingdong die Expansion ins restliche Asien ab 2019 anschieben wird. Ebenfalls 2019 wird man sich in ersten europäischen Ländern breit machen, darunter auch Deutschland, erste Schritte wurden bereits gegangen. Alibaba übrigens auch. Ob Sie wollen oder nicht, früher oder später wird dieses Thema Sie beschäftigen. Aber verfallen Sie bitte nicht in Angststarre oder kategorische Ablehnung; es geht hier um existenzielle Veränderungen, so hart es klingen mag. Existenziell bedeutet aber auch, dass es zwei Seiten geben wird. Diejenige, die sich den veränderten Rahmenbedingungen erfolgreich anpassen kann und die andere. Das ist eine fast banale Erkenntnis über die Evolution der Ökonomie.

Schön, aber was wird nun aus den Innenstädten?

Richtig, fast vergessen. In der Einleitung habe ich ein Plädoyer angekündigt und zwischendurch viel über Trends aus aller Welt berichtet. Seit Jahrzehnten prophezeien Trendforscher das Aussterben der Fußgängerzonen und folglich der Innenstädte. Ganz Unrecht hatten sie damit nicht. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass dystopische Aussagen meiner Vorgänger*innen oft auch genau dahin führen, wo sich viele Menschen schließlich ihrem Schicksal hingeben: zur Lethargie, dem Veränderungs-Widerstand, der Angststarre. Besonders kommunale Einrichtungen wie städtische Stellen für Stadtentwicklung, Gewerkschaften oder Kammern haben jahrelang zu wenig gegen die Insolvenzwelle besonders der kleinen Händler*innen getan. Umgekehrt haben sie vielleicht zu wenig getan, um ebendiese zu fördern und zu unterstützen bei einer innovativen Restaurierung des Kerns ihrer Kommunen. Digitalisierung ist kein Ein-Mensch-Projekt.

Mein Plädoyer für mehr Augenmaß bei Trend-Debatten geht also so:

Glauben Sie keinem Trend und dessen Jüngern, die behaupten, Ihr Umfeld würde sich praktisch über Nacht diametral verändern. Technologisch könnten wir sicher schon ganz woanders stehen – doch es gibt eben auch soziale, politische und ökonomische Zwänge, die der Technologie Einhalt gebieten. Und das ist nicht gut oder schlecht, das ist so, wie es ist.

Ob als politische Entscheider oder Geschäftsführer*in eines (kleinen) Betriebs: Wagen Sie den Schritt aus der Komfortzone, gehen Sie unkonventionelle Wege dabei, finden Sie alternative Finanzierungskonzepte Ihrer Ideen und Mitstreiter*innen, um Ihre Utopie zur Realität zu machen. Die Städte, denen dies gelingt, werden nicht aussterben. Alles, was Sie dazu brauchen, ist ein präzises Verständnis Ihrer Zielgruppe und deren wirklichen Bedürfnisse – und die sind und bleiben maßgeblich bestimmt durch deren Erbgut. Ich möchte wetten, dass jedes Einzelhandelsgeschäft mit geeigneten Mitteln „überleben“ kann; doch ohne Veränderung des eigenen Geschäftsmodells wird das nichts.

Bei der Entwicklung von Ideen für Ihr neues Geschäftsmodell bin ich gern behilflich – als Workshop-Moderator oder Impulsgeber bei Ihrer Veranstaltung. Schreiben Sie mir gern!

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Tod dem Individualverkehr! Es lebe der Individualverkehr!

Die kürzlich entbrannte Mobilitätsdebatte über „kostenlosen Nahverkehr“ oder „gratis ÖPNV“ lässt Trendforscher abwechselnd schmunzeln und den Kopf schütteln. Ausgehend von unterschiedlichen politischen Lagern ploppt das Thema in aller Regelmäßigkeit kurz auf und verschwindet dann wieder ganz schnell in den Abgründen der vermeintlichen Fachblogs und in den Verbandssitzungen von Interessengemeinschaften, die den Verkehrsmix auf 100% Schiene, 100% Rad, auf jeden Fall aber 0% Pkw diskutieren wollen. Wie die Idee wahrscheinlich Realität werden, komplett anders aussehen und dabei sämtliche etablierte Player ratlos zurücklassen wird, möchte ich in diesem Beitrag skizzieren.

Wie so oft gehen politisch motivierte Grabenkämpfe selten um die wirklichen realen Bedürfnisse der Menschen. Jeder Stakeholder verfolgt die eigene, im Ergebnis gewinnmaximierende Agenda, ohne die eigenen Positionen und den Diskussionsverlauf nach Anpfiff der ersten Halbzeit einem Reality-Check zu unterziehen. Selbstverständlich locken die immer gleichen Diskursverläufe zuallererst die Bedenkenträger aus der Reserve, die eine konstruktive Lösung dann im Keim ersticken. An dieser Stelle möchte ich gar nicht mit dem Finger auf bestimmte Akteure zeigen, jeder ist mal an der Reihe. Und das ist nicht nur meine bescheidene Meinung, sondern hat nicht zuletzt Niklas Luhmann in seiner Systemtheorie damit begründet, dass die systemischen Zwänge einzelner Subsysteme individuelle Motive aushebeln (stark verkürzt – liebe Soziologen, nehmt’s mir bitte nicht übel).

Mobilität in Deutschland

Besonders im deutschen Verkehrssektor haben wir es darüber hinaus mit einem für internationale Vergleiche übertrieben komplexen Geflecht aus wirksamen Gesetzen sämtlicher Ebenen, wechselseitige Abhängigkeiten zwischen Verwaltungsorganen und privaten Unternehmen zu tun. Und – pluralistischer Gesellschaft sei Dank – die Interessenorganisationen reden natürlich auch noch ein Wörtchen mit. Am Ende gewinnt aber ohnehin die Partei mit dem dickeren Sitzfleisch, der größten Nähe des Lobbybüros zum Reichstagsgebäude und natürlich diejenige, welche die meisten Nein-Sager mobilisieren kann.

Schade! In Wirklichkeit wissen nämlich alle Beteiligten, dass das derzeitige System nicht sonderlich modern ist, sondern weit entfernt von agil bzw. adaptionsfähig für das, was uns in den kommenden Jahren erwartet. Die inkrementelle Logik der schrittweisen Ausbesserung von Mängeln ohne den Mut, weitreichende Fortschritte auch nur laut auszusprechen, verwehrt einer ganzen Nation den Zugang zu zeitgemäßer Mobilität. Da ich an dieser Stelle kein Buch schreiben will, endet genau jetzt die Polemik auf Politik und Gesellschaft und ich fokussiere auf das Thema der Einleitung: kostenloser ÖPNV.

Im Jahr 2013 war ich gerade dabei, meine Masterarbeit im Fach Zukunftsforschung mit Fokus aufs Verkehrswesen zu schreiben. Meine Betreuer waren ein Fachexperte aus Forschung und Lehre sowie ein Macher in der Bussparte eines der größten deutschen Mobilitätskonzerne. Das Thema im Wortlaut: „Disruptive Entwicklung ‚kostenloser ÖPNV‘: Utopie oder plausible Zukunft?“. Im Ergebnis ging es mir um den Vergleich der real existierenden Konzepte, die Analyse von Expertengesprächen zur Machbarkeit sowie die Essenz der Gelingensbedingungen. Spoiler: Mit einem gut durchdachten Finanzierungsmodell, das auf einer Bürgergebühr sowie Monetarisierung durch die Nutzer beruht, würde das System in kürzester Zeit gewinnbringend funktionieren. Das haben zwar nicht alle Experten gesagt, aber hier schreibe ja ich meine Einschätzung auf. Leider habe ich dazu keine aktuelle Modellrechnung, das wäre doch mal eine hübsche Aufgabe für unsere Kollegen von der KPMG. Natürlich ist die Idee schnell als Utopie abgetan, weil natürlich die Verkehrsverbünde, sämtliche (Bundes-)Verkehrsgesetze und alle Betreiber etwas dagegen haben könnten. Zack, Willkommen im Land der Visionslosen!

Mobilität ist nicht gleich Verkehr

Wie so oft, verharren die entscheidenden Menschen im trägen Optionstunnel und klammern sich lieber an das, was sie kennen, als nach Möglichkeiten zu suchen. Ein erster Lösungsbeitrag wäre deshalb einzugestehen, dass das derzeitige Verkehrssystem den heutigen Bedürfnissen von Mobilitätskunden nicht mehr gerecht wird. Immer weniger junge Menschen machen einen Führerschein, Autokauf ist zunehmen de-emotionalisiert, der Personentransport ist nicht mehr das, was er einmal war. Menschen möchten von A nach B, soweit, so richtig. Dass der individuelle Verkehrsmittelmix immer intermodaler wird – Pendler fahren mit dem Auto zum Bahnhof, mit dem Zug in die Stadt und mit einem Mietfahrrad ins Büro – ist ebenso nicht neu. Mobilität ist also das Bedürfnis danach, an unterschiedlichen Orten zu leben und zu arbeiten oder Freunde und Familie möglichst effizient zu erreichen. Aha: effizient! Ist es effizient, sowohl ein eigenes Fahrzeug im Wert von mehreren Zehntausend Euro zu besitzen, Versicherung und Steuern sowie Verschleiß zu finanzieren und zusätzlich Geld für öffentliche Verkehrsmittel bis zum Zweirad auszugeben? Und zusätzlich bei jeder Fahrt das Risiko einzugehen, im Individualverkehr in einen Unfall zu geraten? Das muss doch besser gehen. Und das tut es.

Zukunftsforscher erwarten Anfang der 2020er die ersten vollautonomen Fahrzeuge auf deutschen Straßen. Das mag für manchen Leser utopisch klingen oder den Reflex „vielleicht im Silicon Valley, aber nicht hier“ hervorrufen. Erwischt? Ich erkläre gern, warum. Zunächst einmal arbeiten inzwischen sämtliche Autohersteller zusammen mit den größten und innovativsten Technologieunternehmen der Welt daran, den Fahrer am Steuer zu ersetzen. Der Fahrer wird dabei inzwischen übersetzt mit „Sicherheitsrisiko“. Denn schon heute fahren die autonomen Prototypen von Waymo (Ausgründung von Alphabet, Google’s Mutterkonzern), Uber, Baidu, Tesla und Co. sicherer als menschliche Fahrer und verursachen weitaus weniger Unfälle als unachtsame Menschen. Technologisch ist die Aufgabe also sehr bald gelöst. Es wird nicht lange dauern, bis die Statistiken der Vorreiter-Regionen über Sicherheit und auch Ressourceneffizienz jeden Zweifler überzeugt haben werden. Auf diesen Moment warten weltweit zahlreiche Anbieter von (heute noch) Carsharing-Angeboten und Autovermietungen. Sie bereiten derzeit alles Nötige vor, um mit vollkommen neuen Geschäftsmodellen den öffentlichen Verkehr disruptiv zu verändern. Über die Anwendungsfälle habe ich in einem anderen Artikel schon geschrieben. Dass dieser Tag der Todestag des öffentlichen Verkehrs ist, möchte ich hier nun erläutern.

Individuelle Mobilität orientiert sich an den Grundbedürfnissen der Nutzer

Sobald die einschlägigen Unternehmen autonome Fahrzeuge – selbstfahrende Taxis, Hotelzimmer, Restaurants, Büros… – anbieten, sinkt der Preis von Mobilität an sich auf nahe Null Euro. Warum? Es wird nicht mehr darum gehen, eine Fahrt zu bestellen, sondern darum, wie das Gefährt, der fahrende Pod, von innen gestaltet ist. Kein Mensch interessiert sich dann mehr für PS, Verbrauch oder Heckspoiler. Es geht einzig um Entertainment-Systeme, Komfort an Bord oder die Speisekarte. Die Monetarisierung der Leistung folgt nicht mehr der alten Logik des Fahrzeug- oder Ticketkaufs, sondern basiert auf Abonnement-Modellen analog zu Spotify und Netflix mit jederzeit buchbaren Extras, Upselling an Bord und natürlich Werbung. Werbeblocker kosten selbstverständlich extra.

Sobald eine kritische Masse an Fahrzeugen in einem Ballungsgebiet verfügbar ist, hat das letzte Stündlein der starren stationsbasierten Angebote heutiger ÖPNV-Anbieter geschlagen. Denn wer läuft oder fährt schon gern die letzte Meile, wenn ein autonomes Fahrzeug diesen Service inklusive erledigt? Ja, es werden zunächst mehr einzelne Fahrzeuge auf den Straßen fahren. Nein, das wird zu keinem Verkehrsinfarkt führen. Schon heutige Modelle begrenzt autonomer Fahrzeuge zeigen den Effekt, dass zwar die Höchstgeschwindigkeit in Verkehrssystemen abnehmen, die Durchschnittsgeschwindigkeit aber massiv zunehmen wird. Das liegt unter anderem daran, dass die autonomen Pods geringeren Abstand halten und intelligent mit der Infrastruktur interagieren können.

Die Anwendung des ersten kommerziell nutzbaren Quantencomputers von D-Wave in Kooperation mit Volkswagen hat in Peking und Barcelona bereits gezeigt, dass durch die Vernetzung von Fahrzeugen und Ampeln Staus vermieden werden können. Der Computer konnte den Verkehr zwanzig Minuten vorhersagen und wird mit dieser Fähigkeit nicht nur bald meinen Job ersetzen, sondern Verkehrssysteme weltweit organisieren. Und dies war der allererste seines Typs mit nur wenigen Qubits … und wir kennen aus der Vergangenheit den erstaunlichen Effekt exponentieller Fortschritte in der Computertechnologie. Moore’s Gesetz auf Steroiden!

Was ÖPNV-Akteure jetzt tun müssen

Zurück zum ÖPNV. Die eigentliche Aufgabe der Stunde für Anbieter von Verkehrsleistungen im System rund um Betrieb, Verwaltung und Finanzierung der Mobilität lautet: radikales Umdenken. Ein Autohersteller nannte diese Anforderung mal „umparken im Kopf“, wobei ich mir nicht sicher bin, ob wir dasselbe meinen. Wenn ein Fahrgast in Potsdam in die S-Bahn steigt, in Berlin eine Regionalbahn nach Eberswalde nimmt, um dort mit einem (bald autonomen) Mietwagen den Rest zurückzulegen, möchte er nicht unterschiedliche Tarifzonen und Anbieter berücksichtigen müssen. Amazon-Chef Jeff Bezos kommentierte Geschäftsmodelle der digitalen Ära mal sinngemäß so, dass kein gutes Produkt verkauft werden, sondern ein Problem des Kunden gelöst werden muss … womit er auf einer Linie mit Henry Ford liegt, der ja auch keine schnelleren Pferde „herstellte“.

Schon heute lautet der Wunsch vieler Menschen: einmal buchen, ein Paketpreis, egal welcher Anbieter dabei auf welche Weise in die Abrechnung eingebunden ist. Das, was aufgrund der gewachsenen internen Prozesse, träger Unternehmenshierarchien und -kulturen sowie legislativer Hürden für etablierte Akteure eine schier unlösbare Herausforderung ist, denken die neuen, datengetriebenen Unternehmen wie Uber, Waymo oder Tesla von Anfang an mit. Offene Schnittstellen, digital übergangslose Regionswechsel über Stadt-, Land- und Staatsgrenzen hinweg, nutzungsbasierte Abrechnung und natürlich die Monetarisierung sämtlicher Datenpakete. Nutzer sehen allenfalls eine App, wenden sich an „Siri“ oder „Okay Google“ oder finden automatisch das autonome Taxi vor, wenn sie die Arbeitsstelle verlassen; die Mustererkennung weiß ja längst, dass jeden Donnerstag abends immer der Sportkurs stattfindet und auf direktem Wege nach der Arbeit zurückgelegt wird.

Ist die Lage damit im Grunde aussichtslos für heutige Akteure?

Ja, wenn weiterhin abgewartet und stur verwaltet wird. Nein, wenn die wichtigsten Entscheider endlich mit einer konkreten Vision sowie einer ambitionierten Roadmap auftreten.

Zukunft ist ja noch nicht geschrieben, sondern wird von uns gestaltet; also lassen Sie uns in den Austausch treten und das Beste draus machen!

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Die 5-6 Phasen zur autonomen Mobilität

In diesem kurzen Beitrag möchte ich die Phasen / Level zur autonomen Mobilität mit etwas mehr Leben füllen. Wenn Sie das hier lesen, sind Ihnen mit Sicherheit bereits Schaubilder wie das folgende begegnet, die die fünf Phasen (manchmal auch sechs, inkl. der „nullten“) zum autonomen Fahren skizzieren:

THE 5 LEVELS OF AUTONOMOUS DRIVING, (c) www.y-mobility.co-uk

Lassen Sie uns mehr Griffigkeit in diese kühlen Phasenbeschreibungen bringen. Wenn Sie gleich zu einer späteren Phase springen möchten, nur zu:
Phase 1 | Phase 2 | Phase 3 | Phase 4 | Phase 5 | (Zwischen-)Fazit

Phase 0: Keine Automation

Phase 0 ist das, was Sie vermutlich in der Fahrschule gelernt haben. Wahrscheinlich in einem VW Golf, dessen höchste elektrotechnische Errungenschaft das Kassettendeck war. Die gesamte Steuerung oblag dem Fahrer. Das Getriebe hatte maximal vier Gänge (plus Rückwärts). Sie haben auch beim Einparken kräftig gekurbelt, Bremsen war ein Gewaltakt, Anfahren am Berg der Horror. Autofahren war noch richtig Arbeit!. Möglicherweise liegt ihre Fahrschulzeit sogar so weit zurück, dass Sie nicht einmal einen Sicherheitsgurt umlegen mussten, da es ihn schlicht noch nicht gab – die Einbaupflicht für solche Gurte besteht erst seit 1974. Das gesamte Design des Autos orientierte sich daran, erstens dem Besitzer ein Gefühl von Freiheit, Unabhängigkeit zu verleihen und zweitens während der Fahrt erstens nicht auseinanderzubrechen.

Phase 1: Fahrassistenzsysteme

In Phase 1 in Richtung Automatisierung kamen die ersten unterstützenden Funktionen in die Serienausstattung. Dazu gehörten die Servo-Lenkung, Bremskraftverstärker, ABS-Systeme, die die Lenkung des Wagens auch beim Bremsen in Gefahrensituationen ermöglichten, Fahrdynamikregelungen zur Stabilisierung der Fahrdynamik wie ESP und ASR, welche seit 2014 beim Neuwagen verpflichtend sind. Unterm Strich alles kleinere Optimierungen, die vor allem den benötigten Energieaufwand des Fahrers verringerten. Am Außendesign hatte sich nichts geändert, der Innenraum hatte plötzlich etwas mehr Knöpfe im Cockpit – und vielleicht einen CD-Player.

Phase 2: Partielle Automation

Diese Phase dürfte Ihnen bekannt vorkommen, wenn Sie in der Regel mit Mittelklasse-Fahrzeugen reisen, denn Fahrzeuge dieser Entwicklungsstufe sind im Jahr 2018 am verbreitetsten. Nach ABS, ESP, Servolenkung etc. fragen Sie beim Autokauf gar nicht mehr, sie gehören zur Standardausstattung. Wahrscheinlich hat Ihr Fahrzeug ein Tempomat, mit dem Sie die Kontrolle über die Geschwindigkeit ans System übertragen. Vermutlich sind Sie immer noch Selbstschalter ohne Automatikgetriebe (Statistik von 2011). Aber Sie profitieren vermutlich bereits vom automatisch abblendenden Rückspiegel und Fernlicht, haben womöglich eine Start-Stopp-Automatik und vielleicht auch ein fest integriertes Navigations- und Entertainment-System. Einige Dutzend Sensoren sind bereits in Ihrem Fahrzeug verbaut, die die Umgebung analysieren und den Scheibenwischer aktivieren, die die passive Beleuchtung im Innenraum abdunkeln, wenn es draußen dunkel wird, und die die Außenlichter dem Streckenverlauf anpassen. Genauso wie die Lenkung, die bei Verlassen der Spur ohne vorheriges Blinken gegenhält oder zumindest vibriert. Wenn Sie müde wirken, überredet Sie Ihr Fahrzeug zu einer Pause und leitet eine Notfallbremsung ein, wenn etwas in Ihrem Fahrtweg auftaucht – ich hoffe, dieses Feature kennen Sie noch nicht aus eigener Erfahrung. Mindestens aber protestiert Ihr Auto lautstark, wenn Sie ein anderes Fahrzeug im toten Winkel übersehen haben. Ein wachsender Anteil der Pkw ist darüber hinaus mit dem Internet verbunden, um unter anderem aktuelle Verkehrsmeldungen in die Navigation einzubinden oder umgekehrt Betriebsdaten an Hersteller oder Notfallzentralen zu senden. Kombiniert führen all diese Funktionen zu Passagen, in denen bei einer Autobahnfahrt zumindest für ein paar Sekunden das Gefühl automatisierten Fahrens simuliert werden kann. Tempomat und Lane-Assistant und der automatische Abstandshalter klappen solange gut, bis das System Sie daran erinnert, die Hände doch nun bitte wieder ans Steuer zu legen.

Auch in dieser Evolutionsphase des Autos ergeben sich noch keine fundamentalen Veränderungen im Außen- und Innendesign. Je nach Hersteller verändert sich das Design, denn die Außenformen gehen weg von kantig hin zu abgerundet, SUV sind aus dem Stadtbild und den Verkehrsunfallstatistiken nicht mehr wegzudenken. Der Innenraum insgesamt ist komfortabler denn je, die Stoffe edler, Sitze bequemer und selbst in Kleinwagen die Beinfreiheit größer. Einige Mittelklasse-Fahrzeuge erlauben im Stand zum Teil sogar das Zurückstellen der Vordersitze bis in die Waagerechte (geht natürlich nur, wenn hinten niemand sitzt), einige bieten gegen Aufpreis eine Massagefunktion.

Phase 3: Bedingte Automation

Unter guten Wetter- und Straßenbedingungen ist in Phase 3 die Autonomie einen entscheidenden Schritt weiter. Besonders im langsamen Verkehr sind die ersten Level 3-fähigen Fahrzeuge bereits schneller als jeder menschliche Fahrer, da sie die Aufmerksamkeitssekunde des Menschen weit hinter sich lassen. Der Bordcomputer übersteigt die Rechenleistung unserer gängigen Firmen-PCs bei Weitem. Er errechnet permanent sämtliche mögliche Eintrittsszenarien, um im tatsächlichen Falle des Auftretens in Bruchteilen einer Sekunde reagieren zu können. Die meisten Medien berichten leider nur über tödliche oder mindestens verheerende Unfälle mithilfe „autonomer“ Fahrzeuge von Uber oder Tesla, welche statistisch gesehen praktisch nicht geschehen (bei allem gebührenden Respekt für die Opfer!). Dabei gibt es auch eine lange Reihe guter Beispiele, googeln Sie mal „autonomous car prevents crash“ und überzeugen sich im Zweifel von der unglaublichen Leistung heutiger Systeme. Wie dem auch sei, in den Handbüchern der Phase 3-Fahrzeuge und rein regulatorisch die permanente Aufmerksamkeit des menschlichen Fahrers erforderlich. In den USA wird die Gesetzgebung nun aber vorausschauend genau daraufhin angepasst (Meldung vom 4.10.2018), den Weg für selbstfahrende Autos freizumachen. Ford hat beispielsweise bekannt gegeben, Phase 3 komplett zu überspringen und direkt in die nächste Phase einzutreten.

Phase 4: Hohe Automation

In dieser Phase werden erstmals Szenarien wie das folgende Realität: Das Auto fragt, wohin es gehen soll, Sie sagen das Ziel, legen den Sicherheitsgurt an – und los geht’s. Das Fahrzeug startet selbstständig, begibt sich auf die Route und steuert autonom zum Ziel. Es erkennt alle Verkehrszeichen und beachtet haargenau die daran geknüpften Regeln, beschleunigt angemessen und bremst selbstständig ab, wenn ein vorfahrendes Fahrzeug langsamer ist oder anhält. In unsicheren Situationen wird es Sie aber dennoch benachrichtigen und Ihr Eingreifen einfordern. Dennoch ist es nun vollkommen okay, wenn Sie sich zurücklehnen und ein Buch lesen, an der Kundenpräsentation für den Termin am Bestimmungsort arbeiten oder in Ruhe eine Mahlzeit genießen. Das Interieur ist dennoch nach wie vor weitestgehend unverändert; zwei Sitze vorn, eine Sitzbank hinten, womöglich mehr interaktive Elemente im Entertainment-Bildschirm und vielleicht hier und da ein Bordsystem mit den beliebtesten Netflix-Filmen.

Und an dieser Stelle wird sich der geneigte Entrepreneur denken: Da können wir ja plötzlich ganz neue Nutzungswelten ermöglichen! Ja, genau! Wenn der Insasse, der in der Nähe des immer noch vorhandenen Lenkrads sitzt, nicht mehr 100% seiner Aufmerksamkeit auf den Straßenverkehr und die Steuerung des ihn umgebenden fahrenden Vehikels verwenden muss, wird es schnell langweilig. Die ersten Konzeptfahrzeuge in diesem Segment verfügen bereits über schwenkbare Frontsitze und haben beispielsweise einen Tisch in der Mitte, auf dem die Insassen gemeinsam Karten spielen, essen oder arbeiten können. Ein anderer naheliegender Use Case ist es, autonome Lieferfahrzeuge einzusetzen. Im Lager oder dem Produktionsort bestückt, fahren sie selbstständig zur Zieladresse und lassen sich über Kunden-Schnittstellen öffnen. Klingt theoretisch? Der Pizza-Lieferdienst Domino’s macht’s schon heute:

Und damit verabschieden wir uns von unserem klassischen Verständnis der Mobilität. Goodbye, human drivers and thanks for the fish!

Phase 5: Komplette Automation

Dies wird die vollendete Phase der Automation sein. Verabschieden Sie sich bitte gedanklich schon einmal von folgenden Bestandteilen des Autofahrens:

  • Lenkrad
  • Gas- und Bremspedale
  • Rück- und Seitenspiegel
  • Klassische Cockpitbestandteile (Blinker, Scheibenwischhebel, Tankanzeige…)Und mehr noch. Gewöhnen Sie sich auch gedanklich schon einmal daran, dass die selbstfahrenden Kapseln plötzlich in ganz unterschiedlichen Erscheinungsformen möglich sind. Natürlich wird es weiterhin kleinere Fahrzeuge geben, die als Robo-Taxi einen oder mehrere Passagiere befördern. Hinzu kommen größere Gefäße (verkehrswissenschaftlich für Beförderungseinheiten), die Anwendungszwecke in mobile Geschäftsmodelle verwandeln:
  • das fahrende Büro enthält bequeme, produktivitätsfördernde Sitze und hat genügend Steckdosen für Ihr mobiles Office. Natürlich darf ein ausreichend großer Schreibtisch nicht fehlen, vielleicht sogar ein Flipchart / Whiteboard / Smartboard, wenn Sie mit Kollegen eine produktive Session planen. Die Minibar können Sie mit einem entsprechenden Code freischalten. Alle Fenster enthalten LED, die nach Bedarf durchsichtig sind, komplett verdunkeln, eine Präsentation oder jedes beliebige Video zeigen. Die Arbeitsplatte enthält Hologramm-Technologie, um 3D-Modelle in den Raum zu projizieren. Dieses Umfeld passt nicht in einen durchschnittlichen Mittelklassewagen, sondern wird eher einem kleinen Multivan gleichen. Im Kofferraum ist natürlich genügend Platz für das Gepäck für die Dienstreisenden.
  • wenn Sie in ein fahrendes Hotelzimmer einsteigen und die Tür hinter sich schließen, werden Sie auf den ersten Blick keinen Unterschied zu einem heutigen 4- oder 5-Sterne Hotelzimmer ausmachen können. Sie finden einen kleinen Arbeitsplatz mit Stuhl vor, sehen sofort das bequeme Bett mit Nachttisch und ein kleines Badezimmer. Der Anwendungsfall passt für die über 180 Millionen Geschäftsreisen im Jahr 2017 (Quelle), besonders denen über Nacht und am frühen Morgen: am Abend einsteigen, einschlafen, im Hotel-Dock ankommen und das kontinentale Frühstück genießen, bevor es ganz entspannt zum Termin gehen kann.

(Zwischen-)Fazit

Entsprechende Geschäftsmodellideen denken sich übrigens keine Zukunftsforscher aus, sondern Unternehmer. Wir stellen dann die Folgefragen:

was bedeutet der Eintritt selbstfahrender Fahrzeuge für die Luftfahrtbranche oder für die Hotellerie? Was bedeutet es für den Absatz von Fahrzeugen, was für die Versicherungsbranche, die plötzlich keine Endkunden mehr betreut, sondern fast ausschließlich Flottenbetreiber, und plötzlich auch Schäden an oder Servicemängel durch Hotelinterieur versichern soll?
Welche Infrastruktur und Vernetzung von Geräten erfordert die autonome Mobilität? Welche Antennentechnologien sind nötig, welche Software und Deep Learning-Algorithmen kommen zum Einsatz, warum führen Distributed Ledger-Technologien wie Blockchain, Tangle und Hashgraph auf direktem Wege in eine autonome Ökonomie, in der Maschinen bald den Hauptteil der finanziellen Transaktionen auslösen werden?
Welche weiteren Anwendungsfälle für Geschäftsmodelle ergeben sich für andere Branchen?
Ich hoffe, dieser Artikel bietet Ihnen fürs Erste „food for thought“, jede Menge Ansätze für einen Transfer in Ihr Umfeld.

PS: Wenn Sie zu den Pionieren autonomer Systeme reisen wollen, können Sie natürlich in den Westen der USA reisen – so würden es die meisten tun. Spannender finde ich China. Welche Unternehmen sehenswert sind, behandelt dieser Medium-Artikel „Breakdown of self-driving car industry in China“.

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Das Politik-Debakel der Etablierten

Andrea Nahles, (jetzt) Ex-Chefin der SPD-Fraktion und Partei und ehemalige Bundesarbeitsministerin und SPD-Generalsekretärin, ist zurückgetreten. CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer (#akk) wird wohl bald abgewählt. Die Große Koalition (#groko) wankt ob der tektonischen Plattenverschiebungen im politischen Betrieb. Ist die Politik noch zu retten?

Was für ein Scherbenhaufen! Wer dieser Tage die Meldungen aus Presse, Funk und Fernsehen (bzw. Twitter, Youtube und ZEIT Online und Co.) verfolgt, kann nur noch die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Das gilt zumindest für alle Verbliebenen, die ihre Politikverdrossenheit nicht bereits vollends durch die komplette Hingabe zu anderen Themen und Tätigkeiten ausleben. Wenn wir als Indikator für die erste Gruppe die Beteiligung der Wahlberechtigten am Urnengang zu den Europawahlen heranziehen, sind das also EU-weit knapp 51 % (mehr als 200 Millionen Menschen!), in Deutschland sogar 61,4 %. Die Europawahlen wiederum werden gern als Messgröße für kommende Wahlen der nationalen Parlamente herangezogen und damit ist klar: Die ehemaligen Volksparteien haben hierzulande desaströs versagt. Nutznießer der ganzen Tragödie in drei Akten: Die Grünen.

Ein von „den Etablierten“ zweifelsohne unterschätzter Kanal ist das Internet. Also #neuland. In meiner scheinbar naiven Weltsicht war ich bis vor Kurzem noch davon ausgegangen, dass Spitzenpolitiker*innen inzwischen begriffen hätten, was das Internet auch mit ihrem System macht. Ich lag falsch. In epischer Tragweite können wir seit ein paar Tagen und in den folgenden Wochen beobachten, welche Konsequenzen daraus folgen. Erste Stimmen fordern die Auflösung der Großen Koalition (#groko) und Neuwahlen auf Bundesebene (und das ist im trägen, „alternativlosen“ Deutschland!), Revolutionen der Parteiprogramme (Stichwort Kevin Kühnert) bis hin zur kompletten Revision des politischen Systems. Was ist da los!?

Rückblick: Die Demontage der Etablierten

In Zeiten der vernetzten, pluralistischen Gesellschaft möchte auch ich meinen Beitrag zum Diskurs leisten. Dazu eine subjektive A-Chronologie der letzten Meilensteine.

  • 2. Juni 2019: Die Vorsitzende der ehemaligen Volkspartei SPD, Andrea Nahles, tritt von ihren Ämtern als Fraktions- und Parteichefin zurück (mit Wirkung zum 4. bzw. 5. Juni). Sie zieht damit die Konsequenz aus den desaströsen Wahlergebnissen der Europawahlen am 26. Mai 2019. Irgendwer muss ja den Kopf hinhalten.
  • 26. Mai 2019: Europawahlen. Schon die ersten Hochrechnungen verheißen nichts Gutes für die Etablierten. Es zeichnet sich früh ab, dass die Grünenpartei einen historischen Erfolg feiern wird; auch Splitterparteien wie DIE PARTEI oder Volt erhalten Sitze im Europaparlament in Brüssel – natürlich auf Kosten der Etablierten. Dass letztere (zum Teil) überhaupt zur Wahl zugelassen wurden, ist der bereits erwähnten Trägheit der politikverwalterischen Trägheit zuzuschreiben – es wurde schlicht verschlafen, die EU-weite Prozenthürde umzusetzen. Und so hatten Wähler*innen in Deutschland 41 Optionen auf den meterlangen (keine Übertreibung) Stimmzetteln und folglich Schwierigkeiten beim Falten, um das Papier für den Urnenschlitz passend zu präparieren.
  • 18. Mai 2019: Der Youtube-Influencer Rezo veröffentlicht eine Woche vor den Europawahlen ein Video mit dem Titel „Die Zerstörung der CDU“ (s. Quellen). Inhalt des fast einstündigen Videos ist eine überwiegend gut recherchierte Polemik gegen eigentlich alle etablierten Parteien, in dem Rezo gezielt einige Programmpunkte der CDU kritisch diskutiert. Inzwischen wurde das Video gut 14 Millionen Mal aufgerufen, hat über 1,1 Million Likes (Stand: 2. Mai 2019).
  • 20. August 2018: Greta Thunberg legt den Grundstein für die „neue Klimastreikbewegung“ kurz vor den Wahlen zum schwedischen Reichstag. Inzwischen haben sich mehrere Millionen Schüler*innen weltweit angeschlossen und protestieren im Rahmen der #fridaysforfuture Kundgebungen für mehr Wahrhaftigkeit und Konsequenz im politischen Handeln. Neben der inhaltlichen Komponente steckt darin auch eine Drohung: Die solidarischen Schüler*innen werden in den kommenden Jahren schrittweise Wahlberechtigte.
  • 19. Juni 2013: Bundeskanzlerin Angela Merkel trifft den damaligen US-Präsidenten Barack Obama in Berlin. Das Spektakel wird historisch in die Annalen eingehen als der Tag, an dem die Regierungschefin eines der wirtschaftsstärksten Staaten der Welt folgenden Satz prägt: „Das Internet ist für uns alle Neuland.“ Autsch.
    April 2011: In mehreren zumeist nordafrikanischen, islamisch geprägten Staaten rumort es heftig. Ägypten, Libyen, Tunesien… abgesehen von der kulturell-historisch-politisch-verzwickten Situation erlebt die vernetzte Weltgesellschaft hautnah mit, was auf dem Tahrir-Platz passiert: Über Twitter und Youtbe senden vor allem Demonstranten und Regimegegner trotz der Zensur Live-Bilder vom Ort des Geschehens. Die Internet-Präsenz der schrecklichen Zustände ist historisch neu, die Smartphone-Revolution ausgerufen.
  • Ansonsten:
  • 2018 nutzten 57 Millionen Menschen in Deutschland ein Smartphone, fünf Jahre vorher waren es knapp über 40 Millionen, 2009 gerade mal 6 Millionen (Statista). Weltweit hatten 2018 mehr Menschen Zugang zum Internet als zu sauberem Trinkwasser (googeln Sie bitte selbst mit Ihrem Smartphone die jeweiligen Statistiken).
  • „Mitte 2012 hatten 21,4 Millionen Haushalte einen DSL-Anschluss, während 3,6 Millionen Kabel-Internet-Anschlüsse bestanden,[3] womit der DSL-Marktanteil am Breitbandmarkt ca. 86 % betrug.“ (Wikipedia) Wir sind alle vernetzt – ob durch Skype, Whatsapp, Facebook oder die gute, alte E-Mail: Distanzen werden nicht mehr in Metern gemessen, sondern in relativer Nähe und Aufmerksamkeit.
  • 9. November 2007: Das iPhone kommt als erstes voll funktionales Smartphone in Deutschland auf den Markt. Ein historisch bedeutsames Datum – Vorratsdatenspeicherung, Anti-Terror-Gesetz, Mauerfall, Rolling Stone Magazine, 68er Bewegung, Petersburger Abkommen, Pogromnacht, Geburt Jean Monnets, Novemberrevolution… Auch die mobile Anbindung ans Internet, Zugang zum Online-Handel und permanenter Verfügbarkeit von Wikipedia und Chefkoch.de hat die Menschen verändert.
  • 1990 begann die Kommerzialisierung des Internets (Wikipedia zur Geschichte des Internets) und damit war der Grundstein für die Ausbreitung des Omninet gelegt (mein Beitrag zum Thema).

Achtung: Subjektives Zwischenfazit

Die Spitzenpolitik der Bundesrepublik Deutschland hat trotz der offensichtlich nicht erst seit gestern existierenden Vernetzung oder Digitalisierung immer noch nicht begriffen, was es bedeutet, wenn ein Mensch ein „virales Video“ auf Youtube (oder einem anderen digitalen Kanal) teilt. Annegret Kramp-Karrenbauer beispielsweise hat den Einfluss des Internetstars Rezo ganz offensichtlich unterschätzt und sich auf den Rückhalt in ihrem System verlassen. Die CDU ist an ihrer eigenen Struktur gescheitert, adäquat auf Rezo zu reagieren (Philipp Amthor wollte, durfte aber nicht). Die SPD lässt immerhin Generalsekretär Lars Klingbeil, Juso-Chef Kevin Kühnert und MdE Tiemo Wölken gewähren. Beide Aktionen können dennoch nur wenige Scherben aufsammeln, um das Wahl-Drama einigermaßen abzufedern (wobei es wohl nie errechnet werden kann, welche exakten Auswirkungen die jeweilige Taktiken hatten).

So, genug Meinung, eine Episode Wissenschaft, bitte!

Meta-Perspektivwechsel: Systeme

Jedes gesellschaftliche System funktioniert – nach Niklas Luhmann, dem Soziologie-Gott – nach einer eigenen, sich selbst erhaltendenden (autopoietischen) Logik. Ob eine Familie, ein Freundeskreis, ein Landkreis, eine Nation, ein Staatenbund, eine Religion etc.: Menschen organisieren sich in Gruppen und sind per se loyal zu ihren Gruppenmitgliedern. Daraus ergeben sich formelle (v.a. Gesetze) und informelle (v.a. Verhaltensweisen) Kodizes. Dabei spielt die Sprache eine zentrale Rolle: gesprochenes Wort ebenso wie Handlungslogiken, gewissermaßen die Währung jeglicher Transaktion. In der Wirtschaft ist dies das Geld, in sozialen Beziehungen die Zuneigung, in der Informationstechnologie Bits und Bytes, in der Politik die Macht.

In Zeiten der Digitalisierung verwischen diese Grenzen jedoch zusehends. Wo in prä-digitalisierten Zeiten zunächst Gemeinschaften, viel später Gesellschaften, Herzogtümer, Staaten und Staatenbünde organisiert wurden, kann in global vernetzten Zeiten potentiell jeder Mensch mit jedem anderen Mensch Kontakt aufnehmen, solange dieser Zugang zu einem internetfähigen Gerät hat. Die potentielle Größe dieses Netzwerks übersteigt nicht nur die Vorstellungskraft eines durchschnittlichen Homo sapiens – immerhin reden wir hier über aktuell potentiell gut 4^4-1 Milliarden Verbindungen -, sie übersteigt auch die Möglichkeiten der gängigen Systemgrenzen. Kein Wunder, dass viele im Angesicht derartiger Komplexität den Kopf in den Sand stecken und Brexit, Protektionismus und Autoritarismus die Tore öffnen. Immerhin „war ja früher alles besser“.

Die heutigen Systeme sind maßlos überfordert mit den jüngsten technologischen Entwicklungen. Einige Politiker*innen haben zwar Twitter für sich und ihre Selbstdarstellung entdeckt, doch das ist nicht Digitalisierung. Es gibt gute Gründe, warum Gewaltenteilung (Legislative, Exekutive, Judikative) in demokratischen Systemen eingeführt wurde – und vor allem bestand historisch gesehen die Notwendigkeit dazu, diverse Prozesse und (Handlungs-)Logiken innerhalb dieser Systeme auf individuelle und soziale Fähigkeiten zu delegieren. Es wäre aber zu kurz gedacht zu behaupten, dass die o.g. Zäsuren neuer Medien im politischen Diskurs lediglich Modeerscheinungen oder Zeitgeist waren. Für das neue Zeitalter der digitalisierten Ära des Homo sapiens brauchen wir nicht nur gebildete Politik und Verwaltung, sondern ein grundlegend neues Denkmuster (mindset).

Dass diese Perspektive extrem kurz diskutiert wird, bitte ich zu entschuldigen. Wichtiger ist für diesen Beitrag, wie es nun weitergehen soll.

Grundrisse für eine zukünftige Politik

Juso-Chef Kevin Kühnert hat in einem Interview nach den Europawahlen gesagt, dass Personaldiskussionen für ihn weder an erster noch an zweiter Stelle kommen. Das ist nicht nur rhetorisch absolut brillant, weil er sich selbst natürlich durch solche Aussagen nach oben katapultiert, sondern nüchtern betrachtet sogar richtig (und in dem Interview dann natürlich nicht vertieft diskutiert). Das Schicksal einer Partei, also einer hochprofessionell organisierten Interessengemeinschaft, sollte nicht von ein paar (aus-)gewählten Köpfen abhängen. Das historisch gewachsene System der Parteienlandschaft sieht aber aktuell keinen anderen Weg vor und Updates fallen dem alten System noch schwer – heute noch wird vielerorts über die Entscheidung der Grünenpartei einer Doppelspitze für den Fraktionsvorsitz gelästert. Wie Max Weber Anfang des 20. Jahrhunderts schrieb, ist Politik das Bohren dicker Bretter… um im mechanischen Bild zu bleiben: der Bohrer benötigt eine Renovierung. Also, ein paar Denkanstöße für Renovierungsbedarf in Politik und Verwaltung:

  • Geschwindigkeit vs. Augenmaß: Die Welt tickt spätestens seit Whatsapp, Echtzeit-Brokerage und just-in-time-Produktion schneller als es das politische System abbilden könnte. Selbstverständlich sind menschliche Gehirne nicht dafür gemacht, sämtliche mögliche Konsequenzen einzelner Entscheidungen vorzudenken und ex ante in die Verhandlungen einzubeziehen. Ebenso selbstverständlich gibt es berechtigte Interessen von Unternehmen, Bürgerrechtsbewegungen, Klimaaktivisten etc., die ein Wörtchen mitreden wollen bei Entscheidungen. Neben Ausschüssen, Instituten für Technikfolgenabschätzung und Beratungsunternehmen geht der Blick fürs große Ganze (und viele Steuergelder) verloren. Lösungsansatz: Mithilfe von künstlicher Intelligenz im Status Quo können längst Zusammenhänge sichtbar gemacht werden, die kein Mensch mit dem bloßen Auge erkennen mag. Das Ergebnis sind keine deterministischen ja/nein-Entscheidungsvorlagen, sondern nahezu holistische Auswertungen der Gegenwart und Vergangenheit. Warum nutzen Top-Konzerne wie Apple, Microsoft, Softbank oder Alphabet solche Software – aber Staaten nicht?
  • Politik vs. Wissenschaft: Insbesondere im Zuge der Klimadebatte frage ich mich oft, wieso ernsthaft Plenardebatten über das Ausmaß der menschlichen Schuld am unbestreitbaren Klimawandel geführt werden – und ganz besonders darüber, welcher Staat bzw. welches Volk mehr schädliche Emissionen verursacht hat. Diese Diskussionen würde ich gern in die Kaffeeclubs der Abgeordneten verbannen und stattdessen verbindliche Maßnahmen vorantreiben. Nicht nur auf dem Gebiet der Klimaforschung läuft uns die Zeit davon; auch in der Bildung, der Integration, dem sozialen Vertrag zwischen Alt und Jung (Stichwort sichere Rente), der Infrastruktur, der Entwicklung künstlicher Intelligenz und vielen mehr werden persönliche oder Partei-Meinungen ausgetauscht, wo längst wissenschaftliche Evidenz existiert. Projektmanager aus agilen, marktführenden Unternehmen würden nur den Kopf schütteln, wenn sie das Management von Parlamentsdebatten analysieren müssten. Weniger Rhetorik, mehr (potentiell unliebsame) verbindliche Entscheidungen!
  • Arbeitgeber vs. Arbeitnehmer: Jeder Strukturwandel bringt Auswirkungen für die Wirtschaft mit sich. Es hilft aber nichts, sich vor den Konsequenzen zu drücken. Arbeitgeberverbände betteln um Steuererleichterungen und Minderung bei den Sozialabgaben, Arbeitnehmerverbände sprechen sich offen gegen „disruptive“ Innovationen aus, um Arbeitsplätze zu sichern. Ein scheinbar unlösbarer Konflikt, da beide in unterschiedlichen Systemen agieren. Die einen wollen Profite maximieren, die anderen Arbeitsbedingungen konservieren. Beide scheitern an global vernetzten Systemen, die leider wenig Rücksicht auf geografische Systeme nehmen. Wer Arbeitsplätze sichern möchte, muss langfristige, realistische Prognosen zurate nehmen und die Transformation rechtzeitig einleiten anstatt den alten Status Quo zu bewahren, bis der Umschwung plötzlich radikal vor der Tür steht. Wer Profite maximieren möchte, muss zeitgemäße Organisations- und Prozess-Werkzeuge bemühen anstatt Aktionäre kurzfristig durch inkrementelle Verbesserungen in der Bilanz zu befrieden.
  • Fraktionszwang vs. Gewissen der Abgeordneten: Vom Tag der Wahl in den Bundestag findet sich ein/e Abgeordnete/r in einem fundamentalen Gewissenskonflikt wieder. Einerseits die Wahlversprechen gegenüber den Bürger*innen, andererseits die Verpflichtung gegenüber der eigenen Fraktion, die nicht in erster Linie die Landespolitik der Gewählten in ihren Grundfesten verankert hat. Wie sollen diese Differenzen vereinbar sein? Nun, durch Vernetzung (von sozialen Medien bis blockchain / DLT Abstimmungen) können alle Interessierten, Involvierten, Betroffenen technisch simpel an Entscheidungen partizipieren. Für den Bau eines Schwimmbads sind dies die Steuerzahler*innen einer Kommune oder eines Landkreises; für die Entscheidung von Tempolimits auf Autobahnen alle Verkehrsteilnehmer*innen, und so weiter. Direkt-digitale Demokratie ist das Schlagwort.

Kurzum: Das Ende der Geschichte…

… tritt wieder nicht ein. Der renommierte Politikwissenschaftler Francis Fukuyama prophezeite 1992 nach dem Fall des Eisernen Vorhangs das „Ende der Geschichte“, nicht zuletzt da die Ideologie-Frage zwischen Kapitalismus und Kommunismus geklärt schien. Aber das ist natürlich Quatsch. Auch wird die Utopie einer perfekten Gesellschaft und Politik weder durch meine noch durch anderer Leute Vorschläge nächstes Jahr am 1. Januar eintreten.

Mein persönlicher Ansporn auf einem Weg in eine „Welt mit Zukunft“ ist und bleibt es jedoch, auf Missstände hinzuweisen und konstruktive, oft fundamentale Lösungsansätze zu präsentieren. Wenn Sie bis hierhin gelesen haben, möchte ich mich zunächst für die Aufmerksamkeit bedanken. Wenn Sie einen neuen Gedanken gedacht haben, freue ich mich über Kommentare und Vervielfältigung meiner Gedanken – und erst recht über die Umsetzung im Kleinen wie im Großen. Außerdem soll auch dieser Beitrag wie immer als Einladung zum Perspektivwechsel dienen; denn wenn wir so weitermachen, wie bisher, kommen wir nicht weiter.

Ausgewählte Quellen

Institut für deutsche Wirtschaft IWD (2019): Was der Wahlbeteiligung auf die Sprünge hilft.

Luhmann, Niklas (2002): Einführung in die Systemtheorie.

Photo by Andrew Buchanan on Unsplash

Rezo ja lol ey (2019): Die Zerstörung der CDU:

Thunberg, Greta (2019): TED Ein eindringlicher Appell, schnellstens gegen den Klimawandel vorzugehen:


Vergessen Sie das Wort „Auto“

Jedes Kind weiß inzwischen, dass die technischen Geräte, die wir heute noch Auto nennen, bald fahrerlos über die Straßen sausen werden. Und doch fehlt der breite Diskussion noch eins: Tragweite. Abgesehen von Organisation und Technologie der selbstfahrenden Autos wird dabei der bevorstehende Wandel der Sprache schnell vergessen … dabei sprechen wir ja heute auch nicht von mechanischen Pferden, wenn wir Autos meinen. So werden wir 2030 auch nicht selbstfahrende Autos sagen und etwas anderes meinen. Ein kurzer Abriss der kommenden Jahre sowie zwei knackige Szenarien, aus denen ca. fünf Geschäftsmodelle hervorgehen.

Autonomes Fahren: Maschinen treffen schon jetzt bessere Entscheidungen

Zunächst einmal möchte ich an dieser Stelle einmal schriftlich und öffentlich fixieren, dass meiner Einschätzung nach die erste Level 5-Fahrt in komplexen Verkehrssituationen noch vor dem Jahr 2020 stattfinden wird. Die ersten kommerziell erhältlichen selbstfahrenden Autos (mit Level 4) werden dann kurz darauf folgen – allerdings noch mit der gesetzlichen Einschränkung, dass noch ein Lenkrad für den Notfall vorhanden sein muss. Dass ich nicht lache. Ich stelle mir solche Annahmen immer gern bildlich vor. Was tut ein menschlicher Insasse, wenn die Superintelligenz des automobilen Boardcomputers nach der Auswertung von 1GB Daten (über eine Milllion Datenpunkte) pro Sekunde zu dem Ergebnis kommt, dass sie selbst diese Situation nicht mehr retten kann? Richtig: gar nichts. Dann ist es zu spät. Anders beschrieben: was tun Menschen, wenn ihnen unerwartet jemand die Vorfahrt nimmt oder ein Tier vors Auto läuft? Antwort: In der Mehrzahl der Fälle reagieren sie irrational, affektiv und falsch. Unser Erbgut enthält leider keinen vorgefertigten Instinkt für derartige Situationen.

Schon 2018 haben Auswertungen ergeben, dass die autonomen Fahrzeuge weniger Unfälle verursachen als menschliche Fahrer (Quelle1, Quelle2); in unserem Medien-Dunstkreis erscheint immer nur die Meldung über die Fehler der Autopiloten. Menschen neigen dazu, neue Lösungsansätze zunächst skeptisch zu beäugen, vielleicht hat auch diese Eigenschaft die Spezies weit gebracht. Öffentliche Debatte hin oder her: die Zulassung autonomer Fahrzeuge erst auf Autobahnen voranzutreiben, ist allenfalls aus Akzeptanzgründen richtig. Mehr Bedarf besteht in den Stadtzentren, in denen zwar über die letzten Jahre immer weniger, aber doch noch viel zu viele Lebewesen durch unachtsame Fahrzeugführer verletzt oder getötet werden.

Zoom out: Geschäftsmodelle in selbstfahrenden Autos

Zurück zum großen Bild. Autos steuern sich bald selbst. Inwiefern verändert diese baldige Realität das Aussehen von Autos? Entfernen die Ingenieure bei Daimler, Volkswagen, Tesla und Toyota einfach brav Lenkrad, Pedale, Handbremse, Fahrtrichtungsanzeiger und Scheibenwischer und das war’s? Danach einfach so weiter wie bisher? Dass das nicht alles ist, kann ich Ihnen schon jetzt mit extrem hoher Wahrscheinlichkeit erläutern. Wenn Fahrzeuge sich selbst steuern, stellen sich die Innenraumdesigner plötzlich gänzlich neuen Fragen. Anstatt ein sicheres und möglichst komfortables Cockpit um einen Fahrer herum zu designen, der idealerweise nicht zu sehr durch Zusatzfunktionen abgelenkt und defokussiert wird, dreht autonomes Fahren diesen Spieß um. Endlich dürfen die Designer der Automobilindustrie Fahrzeuge gestalten, die sich um den Beifahrer drehen und das Erlebnis innerhalb eines fahrenden Blechkastens erhöhen, denn dann sind alle Insassen Beifahrer und Ablenkung ist gut!

Und mehr noch: Überlegen Sie sich bitte, was Sie alles endlich während der Fahrt tun dürfen, wenn Sie nach einem langen Arbeitstag nach Hause pendeln oder früh morgens zu einem Kundentermin jagen. Endlich dürfen Sie sich vorbereiten oder schlafen, Sie können unbeschwert mit beiden Händen essen, können Computerspiele daddeln oder sich mit Ihrer Familie Aug in Aug befassen. Im Übrigen stammen diese Szenarien nicht von Science-Fiction-Fans, sondern aus den Produktionshallen der Industrie. Kaum ein Automobilhersteller hat nicht bereits Prototypen vorgestellt, am spannendsten finde ich persönlich jedoch die Zusammenarbeit von Toyota und Softbank in dem Joint Venture Monet. Denn anders als die Konkurrenz der etablierten Fahrzeugindustrie hat Monet verstanden, dass Toyota in ein paar Jahren aufhören wird, mit dem Verkauf von Fahrzeugen Geld zu verdienen. In der Logik des „Mobility as a service“ (MaaS) gilt die gebuchte Fahrt, vielmehr noch die erzeugten Daten über Fahrt und Insassen sowie die gegebenenfalls verkauften Premiumleistungen.

Wie läuft das in der Zukunft ab? Zwei Szenarien:

Freitag, 11. Februar 2022. Meine Präsentation beim Frankfurter Geschäftspartner ist gut gelaufen und ich verlasse gegen 16:30 Uhr dessen Büro. Ich freue mich auf die Geburtstagsparty meines besten Freundes heute Abend – doch ich weiß genau, dass zwischen der Drehtür vor mir und meiner Haustür rund 400 Kilometer liegen. Zum Glück muss ich nicht mehr einen Mietwagen selbst steuern, denn dann bräuchte ich mit Pausen erstens gut vier Stunden für den Weg und müsste mich dann zuhause noch an den Schreibtisch setzen und das Meeting nach- und alles für die Kollegen aufbereiten. Früher kam ich wegen so etwas immer viel zu spät und innerlich aufgewühlt zu Partys. Stattdessen erwartet mich bereits mein Uber Office, denn es wusste dank meiner Kalenderfreigabe und der aktivierten Extra-Schnittstelle, dass ich heute kein Best Western Sleep oder Starbucks Diner benötige. Ein Fahrzeug, das insgesamt etwa so groß ist wie ein SUV der 2010er Jahre öffnet seine Türen, ich werfe meinen Rucksack in den großzügigen Innenbereich, setze mich dazu – erstmal Beine laaang austrecken – und sage: „hallo Uber, einmal nach Hause, bitte“ – „alles klar, los geht’s! Wir erreichen dein Zuhause um 20:19 Uhr, wenn du unterwegs keine Pause benötigst. Ich jedenfalls nicht, mein Akku ist voll geladen!“ Ich klappe den Bürosessel mit Massagefunktion aufrecht, packe mein Notebook auf den Tisch und beginne mit der Nach- und Aufbereitung des Meetings. Um 20:17 Uhr rollen wir bei mir zuhause vor die Haustür, was mir genügend Zeit verschafft hat, aus dem Meeting-Outfit zu schlüpfen und zur Party zu radeln. Um Punkt 21 Uhr schlage ich bei der Party auf und bin der erste Gast – und blicke in verdutzte Gesichter: „Du schon hier?!“
Am selben Tag hat Onkel Wilhelm wieder einiges vor. Morgens der monatliche Checkup beim Hausarzt, nachmittags ein paar Kleinigkeiten einkaufen – ein „echter“ Supermarkt und sein eigenwilliger Einkaufszettel sind ihm immer noch lieber als Online-Bestellungen – und abends Schachspielen im Nachbarort. Er hat sich viele Jahre darauf gefreut, nicht mehr selbst fahren zu müssen, deshalb steht pünktlich um 7:50 Uhr morgens sein Bosch Taxi vor der Haustür, um ihn in die Innenstadt zu fahren. An Bord läuft Wilhelms Lieblingsradiosender BOB Radio. Keine zehn Minuten später erreichen sie das Ziel. Anstatt einen Parkplatz vor dem Ärztehaus zu belegen, dampft das „Taxi“ nach erfolgreicher Beförderung wieder ab, um weitere Aufträge entgegenzunehmen und autonom zur Ladesäule zu navigieren. Nach dem Arzttermin kommt ein anderes Taxi, dieses Mal von Lyft – dem effizienz- und komfortgetriebenen Mitfahrer könnte es nicht egaler sein, welcher Hersteller oder Betreiber hinter der Beförderung steckt. Die Bezahlung klappt dank NFC-Erkennung kontaktlos und bei manchen Anbietern auch noch automatisch per Lastschrift mit den alten Bankkonten. Da Onkel Wilhelm wie viele andere während der Fahrzeit Werbespots auf seinem Smartphone oder auf der Frontscheibe schaut, welche inzwischen ein Mixed Reality-Display ist, liegt der Fahrpreis für die drei Fahrten zum Arzt, Supermarkt und zum Schachfreund in Summe bei unter 10 Euro. Dieses Szenario beinhaltet einen der größten Treiber der autonomen Mobilität: Menschen, die noch nicht (Kinder und Jugendliche) oder nicht mehr (Senioren oder körperlich und geistig Beeinträchtigte) fahren dürfen und somit im Jahr 2018 noch auf den guten Willen motorisierter Verwandter und Bekannter oder auf unflexible ÖPNV-Lösungen setzen müssen.

Zoom in: Wer sind die Treiber der autonomen Fahrzeuge?

Klingt nach Utopie? Aus mehreren sicheren Quellen kann ich sagen, dass dieses Bild nicht utopisch ist, sondern aus den Geschäftsmodell-Abteilungen unterschiedlichster Akteure stammt. Erste Prototypen existieren sogar und werden auf den großen Messen der Welt (z.B. IAA) seit einiger Zeit präsentiert. Auch die Zulieferer wie Bosch machen sich bereit für diese neue Spielrunde und schmieden spannende Allianzen wie mit der Deutschen Telekom oder der hochinnovativen IOTA Foundation. Sehr zum Leidwesen der etablierten OEMs wie Daimler, Volkswagen oder BMW. Und auf der anderen Seite des großen Teichs sitzt Erzrivale der deutschen Ingenieure, Tesla Motors von Elon Musk, Waymo von Alphabet, Uber, GM, Ford … und in Asien Baidu, Yutong, Nissan, Toyota und so viele mehr. CBInsights hat hier die 44 größten Player autonomer Entwicklung zusammengestellt.

Die Herleitung ist kinderleicht. In den industrialisierten Staaten stagniert der Absatz von Pkw oder ist sogar rückläufig. Die Märkte sind gesättigt. Die Hersteller müssen sich etwas neues überlegen, um die Erlösströme nicht versiegen zu lassen. Diesen Umstand kombinieren wir mit der inzwischen verfügbaren Rechenleistung und Rechnergröße von Computern, den Fortschritten in der Entwicklung von Machine Learning et voilà: der Grundstein für eine Kehrtwende des fundamentalen Geschäftsmodells klassischer Autobauer ist gelegt. Angefangen hat das Rennen zum autonomen Fahrzeug mit Elon Musks Ankündigung, mit Tesla die ersten autonomen Fahrzeuge in Serie zu produzieren; aktuell (Mai 2019) dominieren US-amerikanische Firmen, wobei sich chinesische Hersteller anschicken, am Tesla-Thron zu wackeln.

Sie alle gehören nicht unbedingt einer altruistisch motivierten Heilsarmee an. Nein, sie erschließen sich mit den Mitteln der Digitalisierung das wertvollste Gut der Konsumenten: Zeit. Mehrere Millionen Stunden pro Tag sitzen Menschen allein in Deutschland hinterm Steuer. Angenommen, sie würden zwar in einem Fahrzeug sitzen (captive audience), hätten diese Zeit jedoch frei für andere Dinge. Für Werbung. Für Entertainment. Für Entspannung. Für Kaufempfehlungen. Den Konsumenten wird dies als „customer centricity“ verkauft werden; in Wirklichkeit ist es natürlich die Gewinnmaximierung über Zusatzangebote.

Fazit: Autonomes Auto ist nicht gleich Auto

Unser Verständnis von einem Auto beinhaltet die Vorstellung, dass ein Mensch aktiv mittels Bedienung von Lenkrad, Beschleunigung, Bremse etc. den Fahrverlauf beeinflusst. In dem Moment, wenn wir genau das nicht mehr tun, sondern uns lieber zurücklehnen in unserem per App bestellten mobilen Büro, Hotelzimmer oder Robotaxi, handelt es sich nicht mehr um ein Auto. Meine Prognose ist, dass wir in Deutschland spätestens im Jahr 2030 sogar erste großflächige Verbote für von Menschenhand gesteuerte Fahrzeuge erleben werden. Anderswo natürlich schon viel früher, nicht nur das Silicon Valley sind uns ja bekannterweise weit voraus, Dubai natürlich auch, Frankreich möchte europäischer Pionier werden.

Wie dem auch sei. Wir werden diese selbstfahrenden Fahrzeuge nicht mehr Auto nennen, sondern müssen einen neuen Begriff dafür finden. Müssen? Werden. Das ist ein ganz normaler Prozess der menschlichen Evolution. Wie gesagt, sprechen wir ja heute auch nicht von mechanischen Pferden, wenn wir eigentlich Autos meinen… es werden mobile Zweckerfüller sein. Und in einigen Jahrzehnten fragen Ihre Enkel Sie dann: „Wie meinst du das, Oma, du hattest einen Führerschein? Das war erlaubt?!“


Das Zeitalter der Exnovation

Innovation war gestern. Die wenigsten kennen heute den Unterschied zwischen inkrementeller und disruptiver Innovation. Spielt aber auch keine Rolle, denn viel wichtiger ist im 21. Jahrhundert die Fähigkeit zur Exnovation.

Homo sapiens und Innovation

Unsere Spezis, der homo sapiens, hebt sich durch eine essentielle Eigenschaft von anderen Säugetieren ab: mithilfe von immer ausgefeilteren Werkzeugen und Techniken (=Technologie) werden scheinbar unüberwindbare Hürden genommen*. Dazu gehört im weitesten Sinne auch die Sprache und Schrift, ebenso die Nutzung des Feuers, die Erfindung des Rades, des Webstuhls und der Dampfmaschine. Die Geschichte der Innovation ist spannend, turbulent und teils tragisch, aber dazu kommen wir später.

Ein wesentliches Merkmal der Innovation ist, dass durch die Entwicklung neuer Methoden, Werkzeuge oder eben Technologien alte, bis dahin gültige Vorgehensweisen obsolet werden. Soweit, so trivial. Das kann schrittweise (inkrementell) oder schlagartig (disruptiv) passieren. Ein paar Beispiele, um diese Begriffe mit Leben zu füllen:

Beispiele für inkrementelle Innvationen:

Regenschirme wurden aus dem frühen Mittelalter bis in die Zeit der Aufklärung im 18. Jahrhundert nur spärlich verwendet. Passte auch einfach nicht zu der Zeit… jedenfalls entwickelten sich die regenabweisenden Helferlein über die Jahrhunderte bis heute zu wahren Spezialisten weiter – nicht zuletzt angefacht durch den Wettbewerb im aufkommenden Kapitalismus. Die Wikipedia-Liste der Typen von Regenschirmen ist länger als mein 15″ Notebook-Monitor anzeigen kann. Quintessenz: Das Produkt wurde über Jahrhunderte in vielen kleinen Schritten optimiert, um es den Gegebenheiten und dem Kundennutzen anzupassen.
Schreibinstrumente. Wie viele unterschiedliche Kugelschreiber, Füllfederhalter, Bleistifte, Permanentmarker sind heute erhältlich? Zurück geht die Geschichte ins Jahr … weiß niemand so genau. Die Menschen der Steinzeit verwendeten bereits Kreide, Knochen und Kohle, um Botschaften in den Wänden ihrer Behausungen zu verewigen. Innovation ist also älter als homo sapiens, aha! Wie dem auch sei, heute schreiben wir noch immer unsere Gedanken für uns selbst und unsere Nachwelt auf; mit gewöhnlichen Stiften über Luxusausführungen von Montblanc bis zu digitalisierenden Kontaktstiften von Apple oder HP. Inkrementelle Innovation!
Matratzen, Stühle, Brücken… Die meisten allgegenwärtigen Errungenschaften der Menschheit wurden inkrementell entwickelt und über viele Jahrhunderte zum jetzigen Stand optimiert. Das mindert nicht ihren unabdingbaren Wert für unseren Alltag, ist aus jetziger Sicht eindeutig inkrementell. Strohmatten wurden verbessert, Schemel komfortabler gestaltet, vormalige Flussüberquerungen „überbrückt“. Schritt für Schritt.

Beispiele für disruptive Innovationen:

Das Automobil verdrängte zur Jahrhundertwende um 1900 Kutscher, Stallungen und Reitbetriebe vom Markt. Genauso wird es bald klassischen Autobauern, deren Zulieferern für Schaltgetriebe oder Rückspiegel und Führerscheinanbietern gehen. Marktführer werden aus ihrem eigenen Markt verdrängt? Disruptive Innovation!
Digitalkameras verdrängten analoge Modelle vom Markt, weil sie zu vergleichbaren Preisen erhältlich waren und über die klassische Funktion des Festhalten von Momentaufnahmen in der Lage waren, diese Eindrücke beliebig oft zu vervielfältigen. Immer wieder ironisch: Die erste Digitalkamer wurde von einem Mitarbeiter des damaligen Marktführers Kodak entwickelt, aber vom Vorstand abgelehnt – entsprach ja nicht der Produktpalette… wenige Jahre später meldete der Konzern Insolvenz an. Disruption!
CDs verabschiedeten Vinylplatten vom Massenmarkt, DVDs lösten VHS-Kassetten ab, MP3s und Streaming-Plattformen ersetzten in kurzer Zeit sämtliche Datenträger und verlagerten das Geschäft ins Internet. Nur wenige wissen, welche Branche insbesondere das Format für Videoaufnahmen dominiert… schreiben Sie gern einen Kommentar dazu ????
Smartphones läuteten in kürzester Zeit den Niedergang der klassischen (Mobil-)Telefonindustrie ein, in der selbst 2007 – nach Ankündigung des Apple iPhone – noch (retrospektiv) amüsante Leichtigkeit ob der drohenden Innovation herrschte. Nokia als Marktführer verlor in kürzester Zeit den Boden unter den Füßen – disruptive Marktverschiebung.
Prinzipien geklärt? Okay, dann weiter ins 21. Jahrhundert!

Innovation im 21. Jahrhundert

Ich spare mir an dieser Stelle die Auflistung der bahnbrechenden Innovationen des 21. Jahrhunderts. Allerdings möchte ich an einem Beispiel zeigen und punktuell auf Beispiele aus anderen Bereichen verweisen, welche meine These belegen sollen: Für den Großteil der Akteure in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik ist das Zeitalter der Innovation vorbei; das Zeitalter der radikalen Exnovation hat begonnen.

Nie zuvor hat die Menschheit in einer vergleichbaren Geschwindigkeit Innovationen entwickelt wie heute. Ich sage in meinen Vorträgen oft: „Heute ist der letzte Tag in Ihrem Leben, an dem die Veränderungsgeschwindigkeit so langsam war.“ Denn dank der Mooreschen und Metcalfeschen Gesetze beschleunigt sich noch ein paar Jahre die Geschwindigkeit der potentiell möglichen Technologieinnovation. Ob wir das nun gut finden oder nicht, Technologie und die Logiken in unserem Wirtschaftssystem treiben unsere Welt. Das führt unweigerlich dazu, dass an manchen Stellen Lösungen oder Produkte erfunden werden, die andere ersetzen.

Ein tragisches Beispiel lässt sich seit ein paar Jahren in einer der wichtigsten Industrien für das deutsche Wirtschaftssystem beobachten: die Automobilindustrie hat viele Jahrzehnte lang davon profitiert, vermeintlicher Vorreiter in der Entwicklung von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotoren (Ottomotoren mit Benzin oder Dieselantriebe) zu sein. Ungeachtet der globalen Gemengelage haben die großen Konzerne herrlich egozentrisch weiter an ihren Modellen gefeilt, Märkte erschlossen, Margen gesteigert, die Aktionäre glücklich gemacht – auf Kosten der Steuerzahler sowie der Umwelt. Das kriminelle System, welches Emissionswerte der Motoren wissentlich manipuliert hat, flog viel zu spät auf und die Image-Schäden der „systemischen“ Marken fällt verhältnismäßig gering aus. Außerdem: Hauptsache, die Karre schafft auf der Autobahn 250 km/h.

Also machten die Großen weiter wie gewohnt, auch wenn ich aus vertraulichen Gesprächen mit diversen Insidern von Volkswagen, Daimler und BMW weiß, dass die Konzerne auf Panikmodus operieren und eher einem Wespennest als einem wohl sortierten Unternehmen gleichen. Wie dem auch sei: Das althergebrachte Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr. Um das zu erkennen, muss man kein teuer bezahlter McKinsey-Berater im VW-Konzern sein. Längst stehen alle Zeichen auf „Mobilität als Dienstleistung“ (mobility as a service, MaaS) über Absatz von Fahrzeugen, längst werden alternative Antriebe marktreif, längst sind internationale Wettbewerber im Silicon Valley, China oder Israel viel weiter in der Entwicklung autonomer Fahrzeuge. Und doch hängt auch im Jahr 2019 in Deutschland noch jeder dritte Arbeitsplatz mittelbar an der Automobilindustrie inkl. Zulieferer und Peripherie.

Es ist inzwischen eine unausgesprochene Gewissheit, dass die goldene Zeit des Autostandorts Deutschland vorbei ist. Doch was nun? Diese Zäsur der Innovationsgeschichte wird in die Geschichtsbücher eingehen. Stellt sich die Frage, wie mit diesem rosa Elefanten umzugehen ist. Ein inhärentes Merkmal der Innovation ist, dass aufgrund von grundlegenden Innovationen (wie jetzt E-Antriebe, Plattformökonomie und autonome Fahrzeuge) Arbeitsplätze wegfallen. Das traf seinerzeit die Landwirte, dann die Weber, dann die Fernsprechverbinder und so weiter. An dieser Stelle möchte ich ausdrücken, dass jedes einzelne und familiäre Schicksal, das durch Arbeitsplatzverlust geprägt wird, potentiell tragisch ist. Über Verantwortung sprechen wir ein andernmal. Gleichzeitig können wir durch die Eigenheiten des menschlichen Strebens zu immer neuen Innovationen doch auch mal etwas lernen, immerhin haben nicht zuletzt Martin Luther, Johannes Calvin und schließlich Max Weber, der die Idee der Protestantischen Ethik viel später verschriftlichte, schon vor vielen Jahrhunderten gewusst, was technologische Innovationen mit sich bringen.

Exnovation im 21. Jahrhundert

Infolge mehr oder weniger radikaler Innovationen entwickeln (in der Regel) Unternehmen Geschäftsmodelle, die den Kundennutzen auf neue Art und Weise befriedigen (mithilfe wissenschaftlicher Erkenntnisse). Ein Teil der bitteren Wahrheit ist, dass infolgedessen die ehemaligen Anbieter der (nun) überholten Vorgehensweisen Marktanteile einbüßen und dies die Beschäftigungsgrundlage für die Menschen in dem Sektor entzieht. Wechseln wir mal die Perspektive. Die „alten“ Anbieter haben den Zeitgeist verschlafen, weshalb nicht die Innovation an sich, sondern die konservativen Arbeitgeber und manchmal auch die Arbeitnehmervertretungen „Schuld“ sind am Strukturwandel. Hätten sie sich rechtzeitig um nahende Entwicklungen gekümmert und ihr Geschäftsmodell, ihre strategischen Investitionen, ihre Personalpolitik etc. daraufhin justiert, wären sie dem Drama entgangen. Sind sie aber nicht. Also streichen Bayer 4500 Stellen, ThyssenKrupp 6000, die Deutsche Bank über 7000, insgesamt könnten durch die Großbankenfusion von Deutscher Bank und Commerzbank 50.000 Stellen wegfallen. Was viel klingt, ist im Vergleich zur Automobilindustrie mit den tausenden Zuliefererbetrieben eine kleine Nummer. Meiner Ansicht nach ist das fahrlässig.

Nach den 1950er Jahren erlebte Deutschland einen unvergleichlichen Wirtschaftsaufschwung. Der Volkswagen, die billige Atomkraft, wiederkehrende diplomatische Akzeptanz und starke Wirtschaftsbündnisse sind nur einige der Kennzeichen für bislang prosperierenden Reichtum. Über die Jahrzehnte haben die größten Konzerne des Landes dabei offensichtlich eine Tugend des Mittelstandes verlernt. Die besagt, selbst in zufriedenstellenden Zeiten (= bei guter Auftragslage, bei hinreichend vielen Produktinnovationen) auch den Gesamtmarkt nicht aus dem Blick zu verlieren. Dieser hat schon in den späten 00er Jahren klare Signale gesendet, dass das Zeitalter der klassischen Industrien durch globale und digitale Akteure und Plattformen bedroht ist. Das für die Automobilindustrie schmerzliche Stichwort lautet an der Stelle „Tesla“, für Versicherer ist es „check24“, für Notare „Blockchain“ und für Mediziner „Watson“.**

Innovation heißt heute auch Exnovation

Die Gemeinsamkeit all dieser vermeintlich innovativen Unternehmen: Sie haben sich zu sehr auf Innovation versteift. Das geschah sicher nicht ganz ohne Zutun ihrer Beratungsfirmen, die das Augenmerk schon immer auf die Cash Cows gelegt haben und Prozesse strikt dahingehend optimierten, Einsparungen an den wirklich wichtigen Stellen zu rechtfertigen. Innovation ist wichtig und richtig, doch ist es im 21. Jahrhundert umso wichtiger, alte Wahrheiten immer wieder auf den Prüfstand zu stellen.

Innovationen trieben den Status Quo schon immer zum Umdenken und neu handeln. Übersetzt in Unternehmenssprache heißt das Schlagwort also Exnovation: die Fähigkeit, gelernte und bewährte Methoden zu verlernen, abzulegen, neu zu denken. Wir müssen uns damit anfreunden, Werkzeuge, Methoden, Technologien, Produktionsstätten, Arbeitsroutinen und Prozesse zu ersetzen, um im 21. Jahrhundert als Organisation zu überleben. Auch, wenn es erstmal wehtut.

Anmerkungen

* Richtig, andere Spezies verwenden auch Werkzeuge, um Probleme zu bewältigen, und nutzen auch Sprache. Das ist aber nicht Thema dieses Beitrags.

** Dieser Schmerz wäre nebenbei bemerkt nicht so groß, wenn die erwähnten Akteure rechtzeitig schwache Signale (weak signals) ernst genommen hätten. Klar, es gibt unzählbar viele schwache Signale über Technologie- oder Geschäftsmodellinnovationen „da draußen“. Nicht jedes ist seriös. Doch genau das ist ja der Zweck der Zukunftsforschung: Erwartbare, wahrscheinliche und konsistente Bilder der Zukunft zu zeichnen, um die Entscheidungen der Gegenwart zu verbessern.


Omninet: Die Zukunft des Internets der Dinge (IoT)

Sie kennen das Internet der Dinge bzw. (Industrial) Internet of Things und fragen sich, wohin die Reise geht? Fragen wir doch die Zukunftsforschung!

Kurze Geschichte des Internets

In Zeiten der Digitalisierung kommt niemand mehr an Computerthemen vorbei. Aber Moment! Hand aufs Herz: seit wann gibt es diese Digitalisierung eigentlich? Das hängt vom Maßstab ab, den man anlegt.

  • In der breiten Wahrnehmung der westlichen Welt tauchte Digitalisierung erst nach der Jahrtausendwende auf, als sich „dieses Internet„, wie es damals oft noch despektierlich genannt wurde, langsam ausbreitete. Zu dem Zeitpunkt hatten Sie vermutlich schon einen PC zuhause und vielleicht auch schon eine Internetleitung mit mehr als 56k- oder ISDN-Modem. Schon 1994 wurde Amazon gegründet, ab 1995 wurden im Online-Auktionshaus ebay Waren zwischen Privatpersonen gehandelt.
  • Die Kommerzialisierung des Internet begann 1989 und damit fiel nicht nur ein eiserner Vorhang. Plötzlich war es dank dem Domain Name System (DNS) möglich, über Eingabe von www-Adressen und einem Browser – damals wahrscheinlich noch Netscape oder Opera – eine Website aufzurufen, die irgendwo auf der Welt von Pionieren des world wide web erstellt wurde. Zuvor waren schon in den 1960er Jahren globale Verbindungen entstanden; vor allem getrieben durch das Militär, befeuert durch den „Sputnik-Schock“. Die ersten E-Mails wurden in den späten 1970ern versendet.
  • Schon im Jahr 1938 stellte Konrad Zuse den ersten modernen und vor allem digital arbeitenden Computer auf Grundlage von Transistoren fertig. Alle antiken Vorläufer funktionierten rein mechanisch (z.B. Abakus) und haben wenig mit dem Thema dieses Beitrags zu tun.Können wir uns für diesen Artikel darauf einigen, dass Digitalisierung und dessen Grundlagen – digitale Computer und Internet – erstens schon älter sind als gemeinhin anerkannt und zweitens ihr volles Potenzial noch lange nicht ausgespielt haben. Es hat gerade erst angefangen.

Vom Internet zum Internet of Things zum Internet of Everything

Mit den ersten vernetzten Rechnern wurde schnell klar, dass neben dem „Mooreschen Gesetz„, welches die exponentielle Verdopplung der Rechengeschwindigkeit und Speicherkapazität von Computersystemen bei gleichem Preis beschreibt, ein weiterer, mächtiger Mechanismus seine Wirkung entfalten würde. Das „Metcalfesche Gesetz“ besagt, dass in Kommunikationsnetzwerken der Gesamtnutzen proportional zur Anzahl der möglichen Verbindungen steigt, während die Kosten nur proportional zur Anzahl der Teilnehmer steigen. Übertragen auf das Internet hat die Kombination aus beiden Gesetzen rasant dazu geführt, dass immense Werte quasi aus dem Nichts erzeugt wurden allein durch die Vernetzung an sich. Dieser Wert lässt sich schwer quantitativ oder qualitativ bemessen, was nicht zuletzt durch eine „Dotcom“-Spekulationsblase im März 2000 tragisch belegt ist.

Heute nutzen wir alle das Internet ganz selbstverständlich. Wir googeln alles, was wir nicht selbst wissen, schlagen bei Wikipedia anstatt im Lexikon nach, bieten Waren auf Online-Tauschbörsen an, bestellen Bücher, Möbel und Lebensmittel im Internet. Ohne das Internet würden viele Regale in Ihrem Supermarkt anders aussehen, die Kommunikation mit Freunden und Verwandten über Landesgrenzen hinweg wäre schwer oder sehr teuer, und Sie würden erheblich weniger hochwertig produzierte Serien oder Katzenvideos von Hobbyveterinären konsumieren.

Als Folge der Miniaturisierung der Computerchips nutzt ein in Deutschland lebender Mensch 1,6 Handys, 95% der 14- bis 49-Jährigen nutzt ein Smartphone, immer mehr Wearables wie Smartwatches vernetzen die vorhandenen Geräte mit dem digitalen Zwilling der Besitzer, während die Datenströme in die Cloud (also in Rechenzentren irgendwo auf der Erde) führen und einen Mehrwert generieren. In der Industrie sind Anlagen und Geräte miteinander vernetzt, jeder heute verkaufte Neuwagen hat eine Internetverbindung, das Internet der Dinge ist Gegenwart. Hier gilt schon längst das Metcalfesche Gesetz: diejenigen Unternehmen, die die Geräte verkaufen, müssen nicht unbedingt den größten Umsatz machen. Eine Software-Schicht mischt sich sehr erfolgreich in die Erlösströme ein und Entwickler von San Francisco über Berlin und Tel Aviv bis Bangladesh verdienen mit.

Im Schnitt besaß im Jahr 2018 jeder deutsche Haushalt 500 vernetzte Geräte, weltweit sollen es bis 2020 rund 50 Milliarden sein. Der Trend ist ungebrochen: alles, was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert werden. Ich weiß nicht, wer diese Feststellung als erstes machte, vermutlich jemand aus dem Silicon Valley. Übersetzt bedeutet dies – für dieses Thema -, dass alle Alltagsgegenstände in den kommenden Jahren mit IP-Adressen und Sendefunktion ausgestattet sein werden, darunter Bekleidung, Hausgeräte, Verpackungsmaterial, Möbel, Körper, innere Organe…

Kurze Zukunft des Internets: Das Omninet

    • Jedes Hörgerät, jeder Herzschrittmacher, jeder smarte Spiegel enthält inzwischen mehr Hightech als die Computer, die die Mondmission errechnet haben. Selbst der Gesundheitsbereich unterliegt natürlich inzwischen der freien Marktlogik – wo ein Angebot existiert, das ein (möglicherweise bis dahin unbekanntes) Bedürfnis befriedigt, kann weltweit die Märkte erobern.
    • Bereits heute tragen über 50.000 Menschen weltweit einen NFC- oder RFID-Chip unter der Haut (t3n 2017), ich bin einer von denen. Heute lassen sich auf den etwa reiskorngroßen Implantaten Daten speichern, beispielsweise die Gesundheitsakte, Links zur Lieblingsmusik oder soziale Profile. Alles, was Sie mit einer Hotelzimmerkarte erledigen, kann der Chip; vorausgesetzt, das Kartenschreibgerät an der Hotelrezeption ist kompatibel damit. Alles, was eine Kreditkarte kann, wenn Sie damit kontaktlos an der Supermarktkasse zahlen, kann der Chip. Aus Insider-Gesprächen weiß ich, dass die großen Kreditkartenfirmen noch zögern, eine nennenswerte deutsche Bank jedoch an der Zulassung eines Banking-Prozesses arbeitet, um den Cyborgs das kontaktlose Bezahlen auch ohne Geldbörse zu ermöglichen.
    • IBM hat 2017 angekündigt, in fünf Jahren das „lab on a chip“ auf den Markt zu bringen. Die Idee: ein Nanochip von der Größe weniger Nanometer wird in die Blutlaufbahn injiziert, um permanent Vital- oder Enzündungswerte des Menschen zu beobachten. Viele tödliche Krankheiten – darunter Brust- und Prostatakrebs – werden leider zu oft zu spät erkannt, da sie im frühen Stadium noch keine Beschwerden verursachen, wenn die Heilungschancen noch bei nahezu 100% liegen.
    • Eine Handvoll Unternehmen entwickelt Kontaktlinsen, die mittels Computerchip nicht nur die Sehkraft auf bis zu 150% steigern, sondern auch virtuelle Informationen wie Navigationsdaten, ein Fußballspiel oder Wikipediaartikel einblenden können. Die Marktreife dieser Linsen, die sich nicht ausschließlich auf Menschen mit Sehschwäche konzentrieren werden, erwarte ich ebenfalls im Jahr 2022.
      In den 2030er Jahren könnten Unternehmen wie Neuralink Minichips für den Einsatz im Gehirn auf den Markt bringen. Der Zweck: Speicherung von Gedanken in einer Cloud, Download von Wissen aus dem Internet, Optimierung der Denkleistung basierend auf KI.… und all diese Geräte sind mit dem Internet verbunden. Willkommen im Omninet, in dem Sie und Ihr digitaler Zwilling eine eigene IP-Adresse haben werden. Im Übrigen wird Ihr digitaler Zwilling eigene Entscheidungen treffen und anhand der Gesetzgebung als elektronische Person selbstständig haftbar dafür sein.

Erklärt mir bitte jemand, warum angesichts dieser revolutionären Fortschritte der vergangenen paar Jahrzehnte noch kein Schulfach Digitalisierung existiert, warum Beschäftigte nicht regelmäßig digital weitergebildet werden, warum es kein ernsthaftes Digitalisierungsministerium gibt und warum immer noch an der alten Wirtschaftslogik festgehalten wird?

Unsortierte Quellen

Wikipedia (2019): Digitalisierung, online: https://de.wikipedia.org/wiki/Digitalisierung, abgerufen am 19.05.2019.

Wikipedia (2019): Geschichte des Computers, online: https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_des_Computers, abgerufen am 19.05.2019.

Wikipedia (2019): Internet, online: https://de.wikipedia.org/wiki/Internet, abgerufen am 19.05.2019.


Verantwortung: CO2 kompensieren

Willkommen in der moralischen Zone! Lassen Sie uns ein bisschen über Verantwortung philosophieren. Heute: CO2 kompensieren.

Als Homo Sapiens im 21. Jahrhundert tragen wir eine ungeheure Verantwortung für den Fortbestand des Planeten, auf dem wir leben – ob wir das nun wollen oder nicht. Präzise ausgedrückt stimmt das natürlich nicht ganz. Dem Planeten Erde ist es herzlich egal, was auf ihm passiert, er existierte bereits gut 4,6 Milliarden Jahre, bevor die Menschheit in ihrer heutigen Form sich durchsetzte. Doch unsere Spezies bzw. die nachfolgenden Generationen dürften sehr wohl ein Interesse daran haben, darunter also auch Ihre und meine Nachkommen.

Sie sind vermutlich hier gelandet, weil Sie ohnehin gut gebildet sind und sich fragen, was der Gondlach nun über Verantwortung zu sagen hat. Sie wissen, dass der Klimawandel anthropogen induziert ist. Sie wissen, dass CO2 und andere Treibhausgase den Prozess noch beschleunigen und dass eine Reihe von uns lieb gewonnenen Verhaltensweisen für die vermehrte Freisetzung klimaschädlicher Gase sorgen, darunter: motorisierter Individualverkehr, Flugzeugreisen, Kreuzfahrten, konventionelle tierische Landwirtschaft (und damit mittelbar der Konsum von Fleisch, Milch, Eiern und anderen Tierprodukten), … und so weiter. Bei all dem wissen Sie auch insgeheim, dass Sie selbst mehr tun könnten, um dem Klima einen Dienst zu erweisen. Ja, ich auch.

(Nicht nur) Mein Job ist geprägt durch zahlreiche Dienstreisen im Jahr. Nicht immer ist es dabei möglich, auf Reisen per Flugzeug zu verzichten, jedes Mal stehe ich persönlich vor einem Dilemma. Es gibt nur eine Möglichkeit, CO2 in der Atmosphäre umzuwandeln und den Treibhauseffekt eventuell zu verlangsamen: Bäume pflanzen. Mir fehlt leider sowohl Zeit als auch der grüne Daumen, dies selbst zu tun, weshalb ich mich vor einigen Jahren auf die Suche nach einer Alternative gemacht habe. Und ich bin fündig geworden und möchte diesen letzten Ausweg aus dem Klimadilemma jedem ans Herz legen. Inzwischen existieren einige Organisationen, die Ihre Klimasünden durch Aufforstungsprogramme rund um die Welt zumindest ein bisschen wieder gut machen. Googeln Sie mal CO2 kompensieren. Meine Wahl fiel auf Atmosfair.

Aber vergessen Sie dabei bitte nicht, dass natürlich nur die Vermeidung von klimaschädlichen Treibhausgasen das Klima retten kann. Die Kompensation von CO2 allein kann den Klimawandel nicht aufhalten.

Ich möchte mich mitnichten an der Ausstrahlung der wunderbaren Greta Thunberg bedienen, aber ihr TED-Talk passt einfach unheimlich gut zu diesem Beitrag. Auf der Seite wird auch das Transkript (in 29 Sprachen) zur Verfügung gestellt. Teilen erwünscht, handeln empfohlen.

 

Danke für Ihre Aufmerksamkeit! Wenn Sie persönliche Erfahrungen oder Tipps zum Thema haben, scheuen Sie nicht die Kommentarfunktion.


05/2019: Karrieremesse im Süden

Bei der Karrieremesse im Süden durfte ich am 9. Mai 2019 meine Forschung und Gedanken über Zukünfte mit Studierenden und Absolvent*innen aus der Umgebung teilen - hier gibt's den Vortrag in voller Länge.

https://youtu.be/voRNZdTYLLw