Zukunftsfähige Bildungssysteme

https://www.kaigondlach.de/portfolio/whitepaper-zukunftsfaehige-bildungssysteme/

#02.03 Depressionen, Big Five for Life und ein bisschen China: Fritjof Nelting Im Hier und Morgen

Wieder eine Sonderepisode! Dieses Mal zu Gast: Fritjof Nelting. Er ist unter anderem Geschäftsführer des Gezeitenhauses, einem Familienunternehmen, das private Fachkliniken für Psychosomatik und Traditionelle Chinesische Medizin betreibt. Außerdem wurde er als "Top 40 under 40"-Unternehmer ausgezeichnet, denn er hat diverse weitere Unternehmen mit auf den Weg gebracht. Außerdem wollen wir mal gemeinsam zum Mond fliegen. Oder Mars.

Wir unterhielten uns über psychosomatische Krankheiten, darunter Depressionen oder Alkoholsucht - und wie man seinen Kompass wieder neu kalibriert, beispielsweise mithilfe der Big Five for Life. Außerdem kam das Tabuthema der vergessenen Kinder in Deutschland zur Sprache. Schließlich redeten wir über Chinas Blick auf Deutschland.

Teaser gefällig? Hier geht's zur 15-Sekunden-Vorschau:

Wie finden Sie diese Podcast-Folge? Nutzen Sie für das Feedback gern mein Kontaktformular oder meine Profile auf Linkedin, Twitter, Facebook oder Instagram.


#02.02: Sozialunternehmerin Sina Trinkwalder Im Hier und Morgen

In dieser Sonderepisode spreche ich mit Sina Trinkwalder, einer der bekanntesten Unternehmerinnen des Landes. Sie hat diverse Unternehmen gegründet und legt dabei seit 2010 den Fokus auf sozial und ökologisch nachhaltige und wertvolle Projekte. Dafür wurde sie mit diversen Preisen ausgezeichnet, darunter auch mit dem Bundesverdienstkreuz.

Wir hatten viel Spaß und haben viel geflucht, denn unsere Themen reichten von ihrer Firma Manomama und deren Entstehungsgeschichte über gesellschaftliche Themen mit Sprengkraft (wen können wir überhaupt noch wählen und warum gibt es im Internet so viele Idioten?) bis zur Frage, wie man besser lebt. Hören Sie direkt rein:

Teaser gefällig? Dann gern erstmal in die 15-sekündige Vorschau reinhören:

Wie finden Sie diese Podcast-Folge? Nutzen Sie für das Feedback gern mein Kontaktformular oder meine Profile auf Linkedin, Twitter, Facebook oder Instagram.


#02.01 Klima-News in die Primetime mit Norman Im Hier und Morgen

In dieser Episode geht es wieder um den Klimawandel, genauer: um die Berichterstattung in den Medien. Verglichen mit anderen wichtigen Themen kommt die Klimakrise nämlich kaum vor, nur in speziellen Formaten - außerhalb der besten Sendezeiten.

Die Initiative KLIMA° vor acht ist angetreten, das zu ändern. Sie möchte bewirken, dass auch die breite Bevölkerung stärker über die Zusammenhänge des Klimawandels informiert werden. Um mehr zu erfahren, habe ich einen der Gründer und Pressesprecher Dr. Norman Schumann eingeladen und ihn ausgequetscht.

Erstmal in die Vorschau reinhören?

Wie finden Sie diese Podcast-Folge? Nutzen Sie für das Feedback gern mein Kontaktformular oder meine Profile auf Linkedin, Twitter, Facebook oder Instagram.

Mit dieser Episode hat sich auch der gesamte Podcast gewandelt; Intro und Outro sind neu, professionell produziert und nun auch auf noch mehr Plattformen verfügbar.


Wie wird Künstliche Intelligenz die Zukunft verändern?

Zu diesem Thema werde ich immer häufiger als Keynote Speaker angefragt. Das hat verschiedene Gründe – ich hoffe, dass mein Vorname* keiner davon ist. Es hat eher etwas damit zu tun, dass ich 1. Zukunftsforscher und 2. Hobby-IT-Nerd bin. 3. werden nur wenige technologische Entwicklungen unserer Zeit gleichzeitig derart über- und unterschätzt.

Eine derart globalgalaktische Fragestellung lässt sich in einem kurzen Blogbeitrag nur unbefriedigend beantworten. Aber ich möchte Ihnen gern ein Gefühl dafür geben und mir gleichzeitig Mühe, mich kurz zu fassen und trotzdem nicht zu viel auszuklammern.

Was ist Künstliche Intelligenz (KI)?

Bevor wissenschaftlich geprägte Menschen sich einer Fragestellung nähern, klären wir immer erst die grundlegenden Definitionen. Bereits 1955 prägte der US-amerikanische Informatiker und Autor John McCarthy bei der „Dartmouth Conference“ den Begriff „Künstliche Intelligenz“. Theoretisch wurde natürlich bereits vorher über die potenziellen Denkfähigkeiten von Maschinen spekuliert, an der Stelle ist in erster Linie Alan Turing zu nennen. Dieser entwickelte auch den Turing-Test, welcher feststellen soll, ob eine Maschine in der Kommunikation noch von einem Menschen zu unterscheiden ist oder nicht. Der Turing-Award wiederum wird seit 1966 jährlich verliehen und ist so etwas wie der Nobelpreis für Informatiker:innen.

Künstliche Intelligenz ist dem Gehirn nachempfunden

Seit fast 70 Jahren steht nun also der Begriff Künstliche Intelligenz im Raum, doch praktisch hat die Entwicklung erst seit der Jahrtausendwende Fahrt aufgenommen. Das hat viel mit dem Geschwindigkeitsanstieg von Computerchips zu tun (s. Moore’sches Gesetz). Denn die Grundlage für KI ist natürlich genau das: sehr schnelle Rechenmaschinen, die in kurzer Zeit viele Daten verarbeiten können. Der Grundgedanke dahinter ist die Annahme, dass unser Gehirn letztlich auch nichts anderes tut als sehr viele Reize (= Daten), die permanent auf uns einprasseln, schnell zu verarbeiten. Wir nutzen dafür die Macht der Neuronen und Synapsen zwischen unseren Ohren; ein Computer nutzt dafür seinen Prozessor (CPU oder GPU) und die Festplatte (oder andere Speichereinheiten).

In unserem Hirn feuern die Synapsen in atemberaubender Geschwindigkeit, wenn bspw. ein optischer Reiz vom Auge ans Gehirn gesendet wird. Diverse Prozesse des Gehirns prüfen zunächst, ob der Reiz eine Bedrohung darstellt, ordnet den Reiz sodann in bekannte Muster ein und aktiviert die Datenverarbeitung – beispielsweise, um eine Handlung auszuführen oder erst einmal ausgiebig darüber nachzudenken. Jeder Mensch hat dafür seine eigenen Muster und Vorurteile, was auch einen Teil meines Slogans „Zukunft ist eine Frage der Perspektive“ begründet. Für die Thematik der Künstlichen Intelligenz ist für uns aber wichtiger, dass diese Datenverarbeitung unseres Gehirns schrittweise von der Informatik (und Kybernetik) imitiert wird, um automatisierte Denkmaschinen herzustellen. Manche sprechen bereits von Leben 3.0 (vor allem der MIT-Professor Max Tegmark), also einer synthetischen Form des Lebens, die sich ihrer selbst bewusst werden und nach eigener Agenda handeln könnte.

Definition Künstliche Intelligenz (EU)

Es ist nicht leicht, eine geeignete Definition Künstlicher Intelligenz zu finden. Ich habe mich für die Variante der High-Level Expert Group on Artificial Intelligence der Europäischen Kommission entschieden:

„Künstliche-Intelligenz-(KI)-Systeme sind vom Menschen entwickelte Software- (und möglicherweise auch Hardware-) Systeme, die in Bezug auf ein komplexes Ziel auf physischer oder digitaler Ebene agieren, indem sie ihre Umgebung durch Datenerfassung wahrnehmen, die gesammelten strukturierten oder unstrukturierten Daten interpretieren, Schlussfolgerungen daraus ziehen oder die aus diesen Daten abgeleiteten Informationen verarbeiten und über die geeignete(n) Maßnahme(n) zur Erreichung des vorgegebenen Ziels entscheiden. KI-Systeme können entweder symbolische Regeln verwenden oder ein numerisches Modell erlernen, und sind auch in der Lage, die Auswirkungen ihrer früheren Handlungen auf die Umgebung zu analysieren und ihr Verhalten entsprechend anzupassen.“
zitiert nach: Europäische Kommission (2020): Weißbuch: Zur Künstlichen Intelligenz – ein europäisches Konzept für Exzellenz und Vertrauen, S. 19. Online: https://ec.europa.eu/info/publications/white-paper-artificial-intelligence-european-approach-excellence-and-trust_en (Abruf am 20.01.2021)

Kurz: KI-Anwendungen sind technische Einrichtungen, die computergestützt Daten verarbeiten und autonom Entscheidungen treffen.

Kurz und laiengerecht: KI ist nicht, wenn eine Maschine etwas kann, was bisher nur Menschen konnten. KI ist, wenn eine Maschine etwas kann, aber niemand genau versteht, warum.

Was ist Künstliche Intelligenz nicht?

Intelligent.

Vieles im Feld der künstlichen Intelligenz wirkt geradezu magisch, wenn man die Grundlagen nicht durchdrungen hat. Das ist auch nicht schlimm, dafür haben Sie ja mich. Maschinen vollbringen zwar bereits Wunder, doch hat das wenig mit der „Intelligenz“ der Maschine zu tun.

Schwache Künstliche Intelligenz

Die wichtigsten Felder der Künstlichen Intelligenz tummeln sich unter dem Begriff des Maschinellen Lernens (inkl. Maschine Learning, Deep Learning, Artificial Neural Networks). Das Prinzip des Maschinellen Lernens (ML) orientiert sich zwar an Lernvorgängen biologischer Wesen, doch wird in der Regel sehr klar vorgegeben, was die Maschine erledigen und wie sie lernen soll (hier unterscheidet man noch das überwachte und unüberwachte Lernen). Dabei geht es bislang immer um sehr spezifische Problemstellungen, die von der Maschine gelöst werden sollen. Es ist also eine schwache Intelligenz (engl. narrow artificial intelligence).

Starke Künstliche Intelligenz

Das Ziel der Entwicklung, gewissermaßen der „heilige Gral“ der KI-Forschung, ist zwar die allgemeine KI (engl. artificial general intelligence). Doch davon sind wir noch viele Jahrzehnte bis Jahrhunderte entfernt; manche nehmen sogar an, dass dieser Schritt unmöglich ist. Dazu müsste nämlich die Maschine ein Bewusstsein entwickeln – und wir müssten das auch erkennen. Der aktuelle Pfad zeigt in eine vollkommen andere Richtung: Menschen entwickeln begrenzt intelligente Maschinen, um die Probleme der Menschen und der Umwelt zu lösen. Ich habe weniger Angst vor einer bösartigen Künstlichen Intelligenz nach dem Terminator-Vorbild als vor einem irren Diktator, der perfekt trainierte Killermaschinen in den Krieg sendet. Daher befürworte ich auch ein Moratorium von KI-Systemen in bestimmten Bereichen, darunter auch Kriegsführung.

Schauen wir uns ein paar wichtige Meilensteine der Künstlichen Intelligenz an, um zu verstehen, wo wir stehen.

Status Quo (ausgewählte Use Cases)

Seit gut zehn Jahren überschlagen sich die Meldungen über Durchbrüche in der KI-Entwicklung. Ich habe ein paar Schlaglichter für Sie ausgewählt, mit denen Sie mindestens im Freundeskreis, vielleicht sogar in der Geschäftsführung punkten können:

2011: IBM Watson gewinnt bei Jeopardy

Der von IBM entwickelte Supercomputer Watson wurde 2011 auf die zwei besten menschlichen Kandidaten in der Quizshow Jeopardy losgelassen. Die Show funktioniert so, dass die Moderation eine Antwort nennt und die Kandidat:innen die gesuchte Frage finden müssen. Watson wurde darauf trainiert, alle vorigen Sendungen mit einer Lexikon-Datenbank zu verknüpfen sowie natürliche Sprache zu verstehen. Darüber hinaus wurde er mit einer begrenzten Risikobereitschaft ausgestattet, denn bei derart offenen Fragestellungen kann man nicht immer auf die hundertprozentige Gewissheit warten, bis man den Buzzer drückt. Sie ahnen bereits, wer als Sieger aus dem Spiel ging: Watson. Schauen Sie selbst:

https://www.youtube.com/watch?v=P18EdAKuC1U

Das ist nett, doch für die echte Welt noch wenig hilfreich. Das hat sich schon bald geändert, als Watson bereits 2013 für den Einsatz in der Onkologie weiterentwickelt wurde. Seither gilt Watson als bester Krebsdiagnostiker der Welt dank seiner übermenschlichen Fähigkeit, beliebig viele Daten zu kombinieren und bspw. MRT-Bilder von Patienten mit der Datenbank bekannter Krebsarten zu korrelieren. Das Ergebnis seiner Berechnung erscheint nach wenigen Sekunden auf dem Tablet des behandelnden Arztes, der sehr viel schneller und effizienter eine Aussage treffen und ggf. eine Therapie wählen kann:

https://www.youtube.com/watch?v=HkEOJnn_zlg

2011: Sprachassistenten auf dem Vormarsch

Sprechen Sie gelegentlich mit Siri, Alexa, Hey Google, Cortana oder Bixby? Das sind die beliebtesten Sprachassistenten, die inzwischen von ungefähr drei Vierteln der in Deutschland lebenden Menschen genutzt werden – sogar beim Banking. Die Grundlage ist das sogenannte Natural Language Processing (NLP), also die Verarbeitung natürlicher Sprache. Da wenige Menschen eine komplett korrekte Aussprache haben, mussten die Assistenten lernen, Dialekte zu erkennen, Betonungen zu gewichten und all das, was unser Ohr und Gehirn sonst für uns übernimmt zu lernen. 2011 kam Siri auf den Markt und war noch vergleichsweise dumm, konnte nur eine kleine Bandbreite vorgefertigter Sprachbefehle verarbeiten – und das nur dann, wenn der Mensch sehr deutlich gesprochen hat. Das hat sich seither geändert, weil inzwischen Milliarden bis Billionen Aufnahmen verarbeitet und analysiert wurden, um daraus neue Muster zu erkennen. Daraus entsteht für die Nutzer:innen ein klarer Vorteil, nicht zuletzt für wenig technikaffine Menschen sind Sprachassistenten ein einfacher Zugang zu Technologie, bspw. um im Smart Home Licht, Musik oder Temperatur sowie im modernen Fahrzeug das Navigationssystem freihändig zu steuern.

Andere Anwendungen kombinieren die Sprach- mit der Stimmanalyse, um Marker in der Stimme zu analysieren und wahlweise den emotionalen Zustand (engl. affective AI), psychologische Grundbedingungen oder schwere Erkrankungen darin zu erkennen.

2016: AlphaGo bezwingt den besten Go-Spieler

Als ein Schachcomputer 1997 gegen den damaligen Weltmeister Garry Kasparov gewann, staunte die Welt. Das hatte nur bedingt etwas mit KI zu tun, weil Schach zwar einerseits als Spiel der Könige ein gewisses Strategieverständnis voraussetzt, letztlich aber vor allem Erfahrung und Vorausdenken kommender Kombinationen und Zwänge des Gegners erfordert. Das war relativ leicht programmiert. Anders sieht es beim chinesischen Brettspiel Go aus, in dem es ungleich mehr Kombinationen gibt (mehr als Atome im Universum). Man kann einer Maschine nach heutigem Stand nicht alle möglichen Kombinationen beibringen, weil das Brett größer und die Funktionen der Figuren weniger determiniert sind. Deshalb dachten selbst führende KI-Expert:innen bis 2016 auch, dass es noch mehrere Jahre oder Jahrzehnte dauern würde, bis ein Computer gegen einen menschlichen Go-Spieler gewinnen könnte. Sie lagen falsch.

In einem atemberaubenden Duell trat der damals beste Spieler Lee Sedol gegen AlphaGo an, welches von Alphabet (Googles Mutterkonzern) entwickelt wurde. Der Computer gewann deutlich mit 4:1 und verblüffte vor allem durch seine Kreativität; einige Spielzüge konnte die Fachwelt und die Kommentatoren einfach nicht einordnen. Sie erschienen zunächst irrational, haben sich aber viele Runden später als raffinierte taktische Manöver entpuppt. Inzwischen gibt’s sogar eine Dokumentation zu AlphaGo:

https://www.youtube.com/watch?v=WXuK6gekU1Y

Auch hier stellt sich wieder die Frage, wo der Sinn in einer Maschine liegt, die Menschen in ihren eigenen Spielen schlagen. Ganz einfach; AlphaGo wurde bald zu AlphaFold und begann, die grundlegenden Muster der Biologie zu erforschen. Die KI bzw. das maschinelle Lernen von AlphaFold erreichte Ende 2020 den Durchbruch und sagte die Proteinstruktur basierend auf der Aminosäuresequenz des Proteins voraus; eine 50-Jahre alte Herausforderung der Biologie. Wozu nützt das? Viele Krankheiten sind direkt mit Proteinfunktionen verknüpft, darunter Krebs und Demenz. Das bedeutet, nun können Forscher:innen besser Krankheiten verstehen und hoffentlich bald wirksame, potenziell auch individualisierte Gegenmittel dazu entwickeln:

https://www.youtube.com/watch?v=gg7WjuFs8F4

Ein ähnliches Verfahren wurde übrigens von Pharmazieunternehmen angewandt, um Gegenmittel für Covid-19 zu entwickeln. Bedeutet in kurz: Künstliche Intelligenz beschleunigt die Forschung und Entwicklung in der Medizin und Pharmakologie enorm.

2019: Bildmanipulation in (bald) Echtzeit mit StarGAN v2

In Zeiten von Fehlinformationskampagnen und Fake News fehlte gerade noch eine Software, die beliebige Bilder manipulieren kann. Donald Trump zeigt den Hitlergruß? Kein Problem, StarGAN kann das. Hitler umarmt Barack Obama? Auch das dürfte kein Problem sein, doch spätestens hier würden historisch Gebildete den Fehler bemerken. Das ist leider nicht immer so, da die Fälschungen immer besser werden. Mitschuld daran trägt die Technologie „StarGAN“ (das GAN steht für „Generative Adversarial Networks“). 2019 haben Forscher:innen das erste Mal diese Netzwerke antrainiert und vorgeführt, die Weiterentwicklung wurde bereits wenige Monate später unter Open Access veröffentlicht. Sehen Sie hier, was die KI kann:

https://youtu.be/qM5UjcJlDts

In wenigen Jahren erwarte ich daher Film- und Serienproduktionen, die komplett ohne Set und Schauspieler:innen produziert wurden – und dennoch mit realistischen Figuren bestückt sind. Und wer weiß, vielleicht werde ich auch meine Vorträge mit StarGAN automatisieren?!

2020: Textautomatisierung mit GPT3

Schließlich ein wichtiger Durchbruch auf dem Gebiet der automatisierten Texterstellung. Das Kürzel GPT3 steht für „Generative Pre-trained Transformer 3“ und ist die Weiterentwicklung eines von OpenAI initiierten Projekts, um Texte von KIs schreiben zu lassen. Die beiden Vorläufer waren schon erstaunlich, doch GPT3 toppt alles vorher Dagewesene. Die britische Tageszeitung „The Guardian“ hat einen kompletten Artikel aus der „Feder“ von GPT3 veröffentlicht:

https://www.theguardian.com/commentisfree/2020/sep/08/robot-wrote-this-article-gpt-3

Kurz darauf traten Studierende gegen GPT3 in einen Wettbewerb um das bessere Essay – raten Sie, wer gewann: https://mixed.de/openai-gpt-3-vs-studis-wer-kriegt-die-besseren-noten/

… genau, die KI. Professor:innen haben den Unterschied nach kleineren Anpassungen nicht festgestellt:

GPT-3 ist kein Musterschüler, erzielte aber brauchbare Noten. | Bild: EduRef

Lustige Anwendungen

KI-Anwendungen werden auch oft noch eher experimentell und vor allem von einer großen Community von IT-Geeks entwickelt. Diese Seite listet kostenlose, meist unterhaltsame Anwendungen auf – darunter ein Kunstsimulator, eine Songtexte-KI oder KI-colorierte Filmklassiker: https://boredhumans.com/

Business-Anwendungen

In meinen Vorträgen zeige ich auch je nach Kontext aktuelle Anwendungen aus den Bereichen Justiz, Personalwesen, Mobilität (v.a. autonomes Fahren), Bildung, Handwerk, Medizin, Maschinenbau (und viele mehr) und was eben gerade passt. Das würde hier aber den Rahmen sprengen. Ich würde behaupten, dass es keine größere Branche gibt, in der es nicht bereits Anwendungen gibt, die Prozesse mithilfe von KI automatisieren oder autonomisieren. Gleichzeitig arbeiten KI-Forscher:innen weltweit daran, KI-Anwendungen erklärbar zu machen – subsumiert unter dem Stichwort explainable / intelligible AI (erklärbare oder sich selbst erklärende KI).

Nehmen Sie gern Kontakt auf, wenn Sie eine individualisierte Zusammenstellung in Keynote-Form interessiert.

Ausblick 2050: Transmodern Liberty

Was kommt danach?

Klassischerweise schauen Zukunftsforscher:innen eher 5-10 Jahre in die Zukunft. Aber dazu erscheint dieses Jahr noch ein Buch, dessen Mitherausgeber ich bin („Arbeitswelt und Künstliche Intelligenz 2030“). Daher möchte ich hier den Blickwinkel auf die fernere Zukunft richten: 2050.

Die Schnittstelle von KI-Anwendungen ist: Bei dieser Welle der Industrialisierung geht es nicht (nur) darum, physische Körperkraft auf Maschinen zu übertragen, sondern auch kognitive Fähigkeiten. Daher sind auch hochqualifizierte Akademiker:innen nicht sicher vor Automatisierungstendenzen. Die Auswirkungen davon können sehr vielseitig sein und werden je nach Wirtschafts- und Gesellschaftskontext in den nächsten Jahrzehnten sehr unterschiedlich bewertet werden. In den meisten industrialisierten Volkswirtschaften ist ein (bedingungsloses) Grundeinkommen sehr wahrscheinlich – nicht zuletzt, da es von der aktuellen Wirtschaftselite sogar vorangetrieben wird. Wer zahlt die Steuern? Na, die Roboter und Algorithmen!

Mein Zukunftsbild im technologischen Bereich nennt sich „Transmodern Liberty“. Der Begriff setzt sich aus den Elementen einer Transmodernen Gesellschaft sowie einer neuen Qualität des Freiheitsbegriffs zusammen und ist eine optimistische Variante der Zukunft. Mein Szenario beinhaltet unter anderem folgende Aspekte:

Technologie macht Menschen menschlich

Was widersprüchlich klingt, ist mein voller Ernst. Der richtige Einsatz der Technologie, allen voran Künstliche Intelligenz, könnte im besten Fall dazu führen, dass erstmals in der Geschichte der Menschheit alle Menschen menschlich sein dürfen. Was heißt menschlich? Für mich heißt das, sich nicht tagtäglich um die Versorgung existenzieller Bedürfnisse kümmern zu müssen. Dieses Privileg war seit Beginn der Menschheit (wenn überhaupt) einer kleinen Elite vorbehalten. Doch wenn die Grundbedürfnisse durch automatisierte Prozesse gedeckt werden können, entsteht zumindest die Möglichkeit, dass Erwerbsarbeit obsolet wird – stattdessen gehen Menschen „arbeiten“, weil es ihren individuellen Stärken und Interessen entspricht und sie dadurch einen Beitrag zur Gesellschaft leisten.

Sapiens 2.0 wird geboren

Oft spreche ich in meinen Vorträgen über den Homo Prospectus als zukunftsdenkenden Menschen. Das ist ein Bestandteil einer neuen Form der Menschlichkeit; damit sind nicht genetisch optimierte Menschen gemeint, sondern diejenigen mit einem kosmopolitischen Mindset und dem Verständnis der Transmodern Liberty. Sie basieren auf einer aktualisierten Fassung der Aufklärung und des Humanismus, erkennen jegliches Leben als gleichwertig an und sind ohne äußere Zwänge frei in der Entfaltung der eigenen Biographien.

Automatisierung der Diplomatie und Global Governance

Neben der Produktion alltäglicher Güter und der Infrastruktur muss natürlich auch die Staatsführung automatisiert werden. Wem nützt es, wenn innerhalb einiger geschlossener Nationalstaaten die Wirtschaft automatisiert wird, der Nachbarstaat aber regelmäßig diplomatische Krisen verursacht oder Spitzenbeamten und -politiker:innen korrupt sind? Eben. Hier erkennen wir zunehmend den Trend zu einer echten Tianxia, also einem global inklusiven Politiksystem: Es erkennt einerseits die kulturellen und historischen Verschiedenheiten der Menschen und Territorien an, nivelliert andererseits aber menschliche Abgründe wie Gier, Hass oder Rache durch kluge Diplomatie. Wenn ein Computer im Go gegen einen Menschen gewinnt, wird er jawohl auch bald eine diplomatische Krise moderieren können. Fragen Sie mal die Menschen in Krisen- und Kriegsgebieten, die haben schon heute keine Lust auf Terror.

Zurück in die Gegenwart

Künstliche Intelligenz wird die Welt mindestens genauso stark verändern wie Strom oder die Bändigung des Feuers. Das sage nicht ich, sondern Google CEO Sundar Pichai 2018, doch ich stimme ihm zu. Gleichzeitig setze ich mich dafür ein, mehr Aufklärung zu schaffen und das Thema zu entmystifizieren. Die Erwartungen für das laufende Jahrzehnt reichen von der Angst vor einem Terminator-Szenario oder Komplettautomatisierung bis zu Unverständnis für „dieses lästige Informatik-Gequatsche“ und dem verheerenden Digitalisierungsnotstand in Deutschland. Damit muss endlich Schluss sein.

Wir brauchen mehr Aufklärung, bessere Bildung, mehr Information aber auch beherzte Diskussionen zur Primetime. Ich bin für viele Initiativen offen, daher: sprechen Sie mich an, wenn Sie das auch so oder so ähnlich sehen. Oder laden Sie mich als Redner ein, der Ihnen und Ihrem Publikum genug Gedankenfutter für die kommenden Jahre auf den Weg gibt.

* auf Deutsch und Englisch steckt ja das Kürzel für Künstliche Intelligenz in meinem Vornamen. Vielleicht ist es aber auch kein Zufall!?

** Der Vollständigkeit halber für meinen Sprachfimmel: Künstliche Intelligenz wird die Zukunft genauso wenig verändern wie alles andere. Sie wird sie aber prägen.

Photo by Morning Brew on Unsplash


03/2021: Futures Outlook into the Post-Covid World

Im März 2021 hat mich die Deutsch-Baltische Außenhandelskammer für eine Online-Keynote unter dem Titel "Futures Outlook into the Post-Covid World" eingeladen. Hier ist das komplette Video (auf Englisch).

Darin ging es unter anderem um das Konzept des "Homo Prospectus", also wie wir Menschen eigentlich gut darin sind, in die Zukunft zu schauen - es aber im Laufe des Lebens oft verlernen. Weiter ging's mit dem Thema Zukünfte, also Futures auf Englisch - und wie allein die Erkenntnis, dass die Zukunft natürlich nicht determiniert ist, vielen Menschen hilft. Weiter habe ich unterschiedliche Post-Covid-Trends behandelt, um schließlich auf mein Konzept der Gigatrends hinzuweisen, die mir dabei helfen, große Muster besser zu verstehen.

https://www.youtube.com/watch?v=glciANdtYSo

#01.17 Bill Gates und sein Buch über die Klimakatastrophe: Buchkritik Im Hier und Morgen

Bill Gates hat ein Buch darüber geschrieben, wie wir eine Klimakatastrophe verhindern können. Als einer der reichsten Männer der Welt hat er einen speziellen Blick auf den Klimawandel - und er steht nicht selten in der Schusslinie diverser Gruppierungen.

Ich habe mir das Buch direkt nach Erscheinung gekauft, rezensiert und nun auch eine Podcast-Episode darüber erstellt.

Podcast: Bill Gates' Buch über die Klimakatastrophe - Analyse des Zukunftsforschers

https://soundcloud.com/zukunftsforscher/017-bill-gates-buch-klimakatastrophe-kommentar-zukunftsforscher

Podcast: Bill Gates' Buch über die Klimakatastrophe auf Spotify

https://open.spotify.com/episode/0cKhCabk5ZolenoGqRl5nV?si=cf1d43430ef24a68

Podcast: Bill Gates' Buch über die Klimakatastrophe auf Itunes


#01.16 Klimaschutz und Emissionshandel mit Ruth von Heusinger (ForTomorrow) Im Hier und Morgen

Klima retten durch ein CO2-Abo - klingt abstrakt?

Um eine Klimakatastrophe zu verhindern, müssen wir CO2-Emissionen reduzieren. Das geht unter anderem über Emissionshandel, den Ruth durch ihr Projekt ForTomorrow auch Privatpersonen zugänglich macht. In dieser Folge unterhalten wir uns vor allem über den Klimawandel und den Handel mit CO2-Zertifikaten - sowie Ruths "Robin Hood Projekt" im Emissionshandel.

Podcast: Klimaschutz und Emissionshandel mit Ruth von Heusinger von ForTomorrow

https://soundcloud.com/zukunftsforscher/016-klimaschutz-und-emissionshandel-ruth-von-heusinger-von-fortomorrow/s-LKeEtOLGeZN

Podcast: Klimaschutz und Emissionshandel mit Ruth von Heusinger von ForTomorrow auf Spotify

https://open.spotify.com/episode/7txUqJMOfCBpriadqJlIBQ?si=a94feb8e8e0a43f8

Podcast: Klimaschutz und Emissionshandel mit Ruth von Heusinger von ForTomorrow auf Itunes

Podcast: Klimaschutz und Emissionshandel mit Ruth von Heusinger von ForTomorrow auf Youtube

https://youtu.be/37fgvVAsFhA

Premiere am Donnerstag, 11. März 2021, um 20:15 Uhr auf Youtube


Bill Gates: Wie wir die Klimakatastrophe verhindern (Rezension)

Bill Gates ist ein polarisierender Mensch. Er ist ...

  • einer der Gründer von Microsoft, einem der nach wie vor erfolgreichsten und wertvollsten Technologieunternehmen der Geschichte.
  • der Erfinder von Windows, einem der Gründe, dass fast jeder Mensch Zugang zu einem Personal Computer und dem Internet hat.
  • einer der reichsten Menschen aller Zeiten - als Folge der ersten zwei Punkte.
  • Philanthrop und als Mitgründer der Melinda und Bill Gates Foundation einer der größten Geldgeber für karitative Projekte, die zum Aussterben einiger schlimmer Krankheiten besonders in Schwellen- und Entwicklungsländern beigetagen haben.
  • Technologie-Junkie, der für jedes Problem der Menschheit mindestens eine technologiebasierte Lösung kennt.
  • einer der wenigen Businessmenschen, die keinen Hehl daraus machen, sich in die Politik einzumischen; seit vielen Jahren gehört er zum Inventar globaler Veranstaltungen - bei der Münchener Sicherheitskonferenz am 19. Februar 2021 war er der einzige Nichtpolitiker auf der Agenda.
  • Ziel diverser Verschwörungstheorien, die sich in ihrer Absurdität gegenseitig übertrumpfen, wohl als Folge aller obigen Punkte.

All das weiß Bill. Nun hat er mit "Wie wir die Klimakatastrophe verhindern" (original: "How To Avoid a Climate Disaster") einen Ratgeber vorgelegt, der wohl die Bestsellerlisten stürmen wird. Veröffentlicht am 16. Februar reicht ein Blick in die Bewertungen auf beliebigen Portalen, um ein Gefühl für die Polarisierung dieser Person und natürlich auch des Buchs selbst zu bekommen. Deshalb habe ich mir das Buch sofort bei Veröffentlichung bestellt, gelesen und diese Rezension verfasst. Wer das Buch selbst noch lesen möchte, sollte die Inhaltsübersicht überspringen.

Update: Dank mehrfacher Rückfrage habe ich auch eine Podcast-Episode mit ausführlicherer Kritik und persönlicher Note dazu aufgenommen.

Tenor: Die Welt geht unter, aber ...

Bill Gates ist bekannt als sympathischer, superreicher Nerd, der sich sowohl verständnisvoll und geduldig als auch wahnsinnig klug inszeniert. Es wundert daher nicht, dass auch sein neuestes Buch rhetorisch brilliant formuliert und komponiert ist. Der Aufhänger dafür ist schnell umrissen:

  1. Die Welt geht unter: Das 1,5-Grad-Ziel aus dem Pariser Klimaabkommen ist so gut wie verloren. Wenn wir nichts tun, werden die Folgen für alle Menschen auf der Welt verheerend sein - für die Ärmsten der Armen natürlich zuerst.
  2. Das Ziel ist zwar einigermaßen klar, aber die Pläne zur Erreichung nicht. Und es gibt (oft nachvollziehbare) nationale oder regionale Interessen, die eine schnelle Umkehr zu einer "grünen" Strategie verhindern. Die Anreizsysteme müssen global angepasst werden.
  3. Viele Zusammenhänge des Klimawandels sind wissenschaftlich gut erforscht und doch noch nicht in letzter Konsequenz bei allen angekommen. Mit diesem Ratgeber möchte Bill Gates dieses Vakuum nutzen.

Die Hoffnung aus der Einleitung ist also im Wesentlichen: die Welt geht unter, aber wenn wir jetzt - und in den nächsten 30 Jahren - alles richtig machen, haben wir gute Chancen auf ein Leben in Wohlstand, Reichtum und endlos verfügbarer, sauberer Energie.

Inhaltsübersicht: Onkel Bill erklärt die Welt

Bill Gates hört man gern beim Reden zu, denn er erklärt die Welt immer so, als wäre eigentlich alles ganz einfach. Dabei nutzt er sehr einfache Sprache, erklärt Fachbegriffe unaufdringlich, sodass sich weder der Leser beschränkt vorkommt, der den Begriff vorher nicht kannte, noch diejenige genervt fühlt, die täglich damit operiert. Diese sprachliche Komponente darf man nicht unterschätzen; sie ist einer der Gründe, warum ich wie gesagt davon ausgehe, dass die Bestseller-Position schon gesichert ist.

Und es gibt ein weiteres "trotz": Gates stellt zwar viele Themen immer wieder in den globalen Kontext, nennt vereinzelt Beispiele aus Europa, Asien, Afrika, Lateinamerika und Ozeanien; im Wesentlichen geht es aber um die USA. Und die scheinen auch der Adressat des Sachbuchs zu sein, also die Landbevölkerung der Vereinigten Staaten von Amerika. Die, die den Klimawandel immer noch nicht ernst genug nehmen, immer noch mehr übertrieben schwere Fahrzeuge kaufen und billig betanken, mehr Fleisch konsumieren als der Rest der Welt zusammen und mit kruden Methoden billiges Erdöl und -gas verbrennen, als wäre das folgenlos für den Planeten.

In zwölf Kapiteln nimmt Onkel Bill die Leser:in also an die Hand und erzählt eine in sich sehr konsistente Geschichte davon, wie die Klimakrise verhindert werden kann, warum das überhaupt wichtig ist und welche Gesellschaftsbereiche zu welchem Grad zum Klimawandel beitragen - und welche Lösungen wir benötigen, um das zu stoppen. Hier die wichtigsten Aussagen aus den zwölf Kapiteln, im Anschluss die Bewertung:

  1. Wir müssen es bis 2050 schaffen, keine weiteren Treibhausgase zu emittieren bzw. mehr Kohlenstoffdioxid aus der Atmosphäre entfernen, als wir hineinblasen.
  2. Das ist allein deshalb eine Mammut-Aufgabe, da der jährliche Energiebedarf bis dahin um mindestens 50% ansteigen wird und gleichzeitig die Nutzwerte erneuerbarer Energien leider - anders als bei Moore's Law - nicht exponenziell wachsen, und weil die Politik zu kurzfristig denkt.
  3. Für alle klimawandelintensiven Produkte und Prozesse gibt es mehr oder wenig gut zugängliche "Green Premiums", die oft so teuer oder unattraktiv sind, dass sie zu lange brauchen, um sich durchzusetzen (Beispiel Elektroautos oder Recycling-Baustoffe).
  4. Der Strombedarf allein wird sich bis 2050 verzwei- bis verdreifachen, insbesondere Schwellen- und Entwicklungsländer müssen dazu auf fossile Energieerzeugung zurückgreifen, da sie schlicht günstiger und effizienter sind; die einzige Option ist es daher, Kernkraft aus der Schmuddelecke zu holen und dezentrale, kleine, dafür aber moderne Kernkraftwerke zu bauen (die emittieren kaum CO2).
  5. Fast ein Drittel der Treibhausemissionen stammt aus der Produktion moderner "Dinge" wie Zement, Beton, Plastik, Glas, Aluminium oder Dünger; da durch die erwartete Wohlstandsentwicklung im Globalen Süden in den nächsten Jahrzehnten ein dauerhafter Bau-Boom erwartet wird, werden auch diese Bereiche stark wachsen und müssen a) mit "nachhaltigen" Energien versorgt werden und b) wiederverwertete oder aufgewertete Baustoffe mit einbeziehen.
  6. Rinder sind einer der größten Treiber des Klimawandels und stoßen allein gut 4% der globalen Treibhausgasemissionen aus (!), industrielle Tierhaltung ist aus diversen Gründen ökologischer und sozialer Irrsinn, weshalb alternative Lebensmittel und Landwirtschaftsformen gefördert werden müssen.
  7. Transport und Mobilität machen insgesamt nur 16% der globalen Treibhausgasemissionen aus, aber immerhin - alternative Kraftstoffe müssen so schnell wie möglich Benzin und Diesel ersetzen, aber besonders die großen Fahr-, Flug- und Schwimmzeuge könnte man auch mit kleinen Atom-Reaktoren bewegen.
  8. Wohnräume zu kühlen oder zu erwärmen wird angesichts des Klimawandels und der Wohlstandssteigerung des Globalen Südens immer mehr Emissionen produzieren, weshalb Klimaanlagen und Heizungen sehr schnell grüner werden müssen.
  9. Der Klimawandel trifft die Ärmsten am härtesten, nicht zuletzt weil diese oft in Regionen leben, in denen die Auswirkungen extremer Wetterereignisse sich am heftigsten zeigen; Trinkwasseraufbereitung und Küstenschutz sollten schnell mehr Menschen zugänglich gemacht werden, was wiederum auf lange Sicht sehr viel Geld spart.
  10. Politik und staatliche Anreize für Forschung und Entwicklung spielen eine zentrale Rolle auf dem Weg, damit der Markt in die richtige Richtung gelenkt wird.
  11. Bis 2030 werden wir die Emissionen nicht auf "null netto" bringen, nicht zuletzt wegen der Covid-19-Pandemie, die vieles ins Wanken gebracht und Prioritäten verschoben hat; staatliche Förderung in F&E muss verfünffacht werden, die Preise für CO2 müssen wirksam erhöht werden und Welthandel muss an Klimaeinhaltung gebunden sein.
  12. Jede:r von uns ist Konsument, politisches Individuum, Mitarbeiter und/oder Arbeitgeber; es gibt nicht die eine Antwort, aber wir können alle einen Beitrag leisten.

Klimawandel ist die Wurzel, aber...

... alles, was wir in der "modernen Zivilisation" machen, zahlt darauf ein. Nahezu alles um uns herum produziert nach heutigem Stand von der Produktion bis zur Entsorgung Emissionen und die Errungenschaften der letzten 200 Jahre basieren auf billiger, aber schmutziger Energie.

Ich hatte schon vor der Lektüre damit gerechnet, dass das Thema Kernenergie bzw. Atomkraft eine wesentliche Rolle in dem Buch spielen wird, um zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: die Treibhausgasemissionen zu senken, während der Energiebedarf der wachsenden Weltbevölkerung weiterhin steigt. Gates macht seine eigene Position sehr transparent, nicht zuletzt da man weiß, dass er die Forschung des Unternehmens TerraPower maßgeblich vorantreibt und finanziert. Ziel des Unternehmens ist es, kleinere Kernkraftwerke zu etablieren, die weniger Abfall erzeugen als herkömmliche Reaktoren und somit eine Zwischenlösung für die Übergangszeit in der Dekarbonisierung sein können. Dass das Thema insbesondere seit dem Reaktorunglück von Fukushima und anderen stark polarisiert, ist offensichtlich. Die Debatte ist emotional und trägt zumindest offiziellen Statistiken nur wenig Rechnung - so bleibt es je nach Betrachtung alternativlos, den Energiehunger der Menschheit zu sättigen. Wie mit dem radioaktiven Müll umgegangen werden soll, der zwar weniger als bei herkömmlichen Kraftwerken ausfällt, aber immer noch ein Problem darstellt, diskutiert der Autor leider nicht.

Fazit: Lesen!

In der Essenz liest sich Bill Gates' Buch einfach weg und wer sich schon einmal mit Klimawandel beschäftigt hat, wird viele bekannte Fakten wiederfinden. Den Vorwurf einiger Kritiken, Bill Gates würde in diesem Buch lediglich auf eine technologische Lösung der Klimakrise pochen, teile ich nicht: Alle Kapitel zeigen die Verstrickung technologischer Lösungen mit gesellschaftlichen Dynamiken und politischen Ansätzen. Das Buch zeigt meiner Meinung nach, dass wir eigentlich schon alles wissen und nur noch die Bereitschaft fehlt, auf globaler Ebene wirklich wirksame und verpflichtende Schritte zu verabschieden. Diese dürfen jedoch nicht bloß in Legislaturen gedacht werden, sondern müssen den Horizont deutlich erweitern; und da wird es knifflig. Insofern scheint der Subtext des Buchs auch zu schreien: Liebe FridaysForFuture, bleibt laut und unbequem, bis wirklich verbindlich gehandelt wird.

Kurz: Eine lesenswerte Lektüre.

Rezensierte Ausgabe: Bill Gates (2021): How to avoid a climate disaster, Penguin Random House, UK. 1. Auflage, ISBN: 978-0-24144830-4.
Auf deutsch bei Buch7 bestellen.


Wie wird der Corona-Sommer 2021?

Ausnahmezustand seit einem Jahr. Alle Welt hofft auf Lockerungen, Aufatmen, Impfungen, zurück zu Normal. Das System steht auf dem Prüfstand - wie geht es weiter?

Nach dem Corona-Winter ist vor dem Corona-Winter

Während ich diese Zeilen schreibe, ist noch Winter - Ende Februar 2021. Falls Sie das hier deutlich später lesen, zur Erinnerung: Klimawandel sei Dank hatten wir im Februar europaweit eine heftige Kältewelle, ausgelöst durch verirrte Polarwirbel - gefolgt von den wärmsten Februartagen seit Beginn der Wetteraufzeichnungen (dazu habe ich eine Podcast-Episode aufgenommen).

Nun, da der Frühling den Fuß in der Tür hat, hoffen viele auf Lockerungen der Pandemieauflagen. Doch sie werden leider weitere Enttäuschungen hinnehmen müssen; Virologen sind sich einig, dass insbesondere die neuen, mutierten Varianten des Sars-Cov-2-Virus (vor allem B.1.1.7 und B.1.351) noch ansteckender sind als die ursprüngliche Virusform. Da wir alle im letzten Jahr viel über exponentielle Entwicklungen gelernt haben, können wir uns mit einfachen Mitteln selbst ausrechnen, was das für die Verbreitung und Ansteckungsgefahr bedeutet: Die Infektionszahlen (und damit auch die Inzidenzwerte, also Infektionen pro 100.000 Einwohner:innen) steigen noch schneller, wodurch kritische Werte überschritten werden und Einschränkungen des öffentlichen Lebens bestehen bleiben oder sogar verschärft werden. Ob dadurch auch die Sterberate steigt oder sich das Virus abschwächt, wird derzeit diskutiert. Dennoch: wir müssen aktuell davon ausgehen, dass Corona uns noch eine Weile begleiten wird.

Nun stehen wir wieder mitten in der Zwickmühle. Außer Stillstand scheint es keine Option zu geben - und das ist auch der Punkt, an dem staatliche Maßnahmen zu Recht kritisiert werden. Inzwischen liegen jedoch auch ausreichend Erkenntnisse über verschiedene nationale Strategien vor; der "schwedische Weg" ist gescheitert, komplette Verleugnung (der weißrussische oder tansanische Weg) ebenso. Dann wäre da noch die Wahlkampfvariante aus den USA, wo bislang am meisten Menschen an den Folgen der Covid-19-Erkrankung gestorben sind - ein tragisches Armutszeugnis für die mächtigste Nation der Welt. Dann wäre schließlich ein letzter Hardliner-Weg zu erwähnen, dem viele nicht so Recht trauen: China hat mit der bekannten diktatorischen Härte und harten Quarantäne-Auflagen für sämtliche Einreisende angeblich das Virus ausgerottet. Aus irgendwelchen Gründen glauben wir diesen Meldungen weniger als denen aus Ozeanien, denn auch in Neuseeland und Australien (zusammen ca. 12 Millionen Einwohner) gibt es nahezu keine Fälle mehr.

Deutschland hat sich für eine der sozialsten und gleichzeitig teuersten Varianten entschieden. Und warum? Weil wir können. Und weil die Bundestagswahlen in diesem Jahr anstehen.

Corona und Bundestagswahlen

Was haben nun die Wahlen mit der deutschen Corona-Strategie zu tun? Das ist eigentlich ganz einfach.

Welche Menschen sind durch Corona am stärksten gefährdet? Faustregel: Je älter, desto schlimmer. Genauer gibt es einen signifikanten Anstieg der schweren Krankheitsverläufe ab einem Alter von 50 Jahren. Ein Blick auf die Bevölkerungspyramide verrät, warum diese Menschen nun besonders geschützt werden: Weil sie in der Überzahl sind. 45% der Bevölkerung in Deutschland sind 50+ Jahre alt, 16% unter 18 Jahren, bleiben noch 39% für die 18- bis 49-Jährigen. Und wer wählt wie? Laut Bundeswahlleiter bewahrheitet sich auch hier eine einfache Faustregel: Je älter, desto konservativer.* So ist es die offensichtlich alternativlose Option, insbesondere die ältere Bevölkerung zu schützen.

Verstehen Sie mich nicht falsch, aus (neo-)humanistischer Perspektive finde ich es richtig, Menschenleben zu schützen - unabhängig vom Alter, Herkunft, sexueller oder kultureller Identität etc. Die Wahl der Corona-Strategie in Deutschland folgt aber leider nur bedingt humanistischen Idealen, sondern einem klaren machtpolitischen Kalkül. Politikberatungen werden im Hinblick auf die bevorstehende Bundestagswahl im September sehr genau darauf geachtet haben, welche soziodemografischen Schnitte sich mit und ohne Corona ergeben. Das Alter (und damit das statistische Risiko einer schweren Erkrankung) ist nach wie vor eine sehr einfache Linie für den Wahlkampf.

Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir letzten Frühling einen harten Lockdown für vier Wochen durchgeführt. Doch das war natürlich nicht vermittelbar, da die Menschen mehr Angst vor einer Diktatur haben als dem Virus. Und damit sind wir beim nächsten Abschnitt.

Querdenker töten

Das Wortspiel habe ich von Die PARTEI kopiert. Natürlich soll die Überschrift keine Handlungsempfehlung sein, ich hoffe, Sie ergänzen sie im Kopf mit dem Akkusativobjekt: "Menschen". Warum, löse ich im letzten Absatz dieses Abschnitts auf.

Verschwörungsmythen gehören zu den Menschen wie die Gute-Nacht-Geschichte. Letztere hat einen pädagogischen Zweck und wird in fast allen Kulturen praktiziert. Erstere kann unterhaltsam sein, solange sie klar als Fiktion gilt oder tatsächliche Zusammenhänge aufdeckt - wenn nicht, ist sie mitunter gefährlich. Offensichtlich hat eine ganze Generation zu viel Akte X geschaut, während sie den Geschichtsunterricht geschwänzt hat. Über Jana aus Kassel wurde schon viel gesagt und geschrieben. Kurz: Sie ist als denkwürdiges Beispiel in die Mediengeschichte eingegangen, was alles falsch laufen kann und warum wir immer noch nicht genug für die Aufarbeitung unserer Geschichte tun (falls Sie das verpasst haben).

Ich habe mir viel Mühe gegeben, die "Querdenken-Bewegung" zu verstehen, deren Ängste und persönlichen Motive. Ich habe mich in Social Media auf lange Diskussionen eingelassen, viel Zeit und noch mehr Nerven investiert. Dabei habe ich immer wieder gefragt, woher die Rage kommt und vor allem, welche Quellen zu den teilweise haarsträubenden Behauptungen herangezogen wurden. Letztlich bin ich zu einer sehr einfachen und gleichsam traurigen Erkenntnis gelangt: Die gemeinsame Schnittmenge der Querdenker ist eine bedingungslose Ablehnung wissenschaftlicher Methode oder Rationalität. Die einzigen Argumente, die ich den Diskussionen und Aufnahmen von Demonstrationen entnehmen konnte, sind individueller und emotionaler Natur. Das macht sie nicht verboten, aber man muss sie als solche kennzeichnen.

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/d/d0/The_X-Files-Poster.jpg

Und damit wären wir wieder beim Thema Schwarmdummheit (auch dazu gibt's eine Podcast-Episode). Wenn Menschen sich gehört fühlen, folgen sie oft blind dem Anführer - so wie A. Hildmann oder A. Hitler (wobei der Vergleich zum Glück gewaltig hinkt). "I want to believe", so das Motto aus der Serie Akte X. Und tatsächlich sind wir so gut darin, dass der Glaube wirklich manchmal Berge versetzt - wenn wir nur konsequent genug an etwas glauben, finden wir plötzlich überall Belege dafür. Querdenker finden vielfach Belege für die wirren Behauptungen - in Blogs, auf einigen Youtube- oder Tiktok-Kanälen, von Nachbar Schneider. Das individuelle Weltbild wird damit verdichtet und alles ergibt einen gruseligen Sinn. Leider sind sie dann oft resistent gegen eine kritische Infragestellung ihrer Annahmen; also wirklich wissenschaftliches Vorgehen. Es ist nicht immer gut, der Masse zu glauben, aber wie wahrscheinlich ist es, dass >90% der unabhängigen Forschungsinstitute der Welt und daran angegliedert Millionen erfahrener Wissenschaftler:innen sich irren und eine globale Verschwörung der Superreichen unterstützen? Und wie wahrscheinlich ist es, dass Nachbar Schneider einfach nur seiner allgemeinen Unzufriedenheit Ausdruck verleihen will, in Wirklichkeit aber keine Ahnung von Viren und Politik hat?

Die pandemischen Auswirkungen der Querdenken-Bewegung sind inzwischen erforscht: wie Forscher:innen des Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung Mannheim (ZEW) und der Humboldt-Universität zu Berlin Anfang Februar veröffentlichten, hatten die Querdenker-Demos einen erheblichen Anstieg der Inzidenz zur Folge. Heißt im Klartext: Querdenken-Demonstrationen haben Menschen getötet. Die fahrlässige Dummheit der Demonstrierenden ist das eine, das andere die Ohnmacht der staatlichen Gewalt - so hatten einige Gerichte (Judikative) Versammlungsverbote aufgehoben, Ansagen aus den Innenministerien und der Polizei (Exekutive) führten zu unklaren Befehlsketten, sodass schließlich Tausende ungehindert und ohne hinreichenden Infektionsschutz durch die Städte laufen konnten.

"Die Forschenden schätzen, dass bis Weihnachten zwischen 16.000 und 21.000 Covid-19-Infektionen hätten verhindert werden können, wenn diese beiden großen 'Querdenken'-Kundgebungen abgesagt worden wären" (ebd.). Bei einer Sterberate von ca. 3% heißt das, dass in diesem Zeitraum 480-630 Menschen durch Corona gestorben sind, weil Querdenker auf den Straßen ihre Freiheit gefeiert und anschließend Menschen in Bussen, Bahnen, Supermärkten und zu Hause angesteckt haben. Ich hoffe, ihr hattet Spaß. Es ist ruhiger um euch geworden, vermutlich (und das wünsche ich niemandem!) haben inzwischen viele von euch Angehörige oder Bekannte durch Corona verloren. Statistisch gesehen ist heute in ungefähr jedem achten sozialen Kreis ein Mensch in Deutschland an Covid-19 gestorben**. Bevor sich das Kind nicht selbst die Finger verbrannt hat, erkennt es auch nicht die generelle Gefahr des Feuers.

Corona: Neue Konfliktlinie der Gesellschaft

Corona spaltet die Nation(en). Und teilweise sogar Familien. Ob ich für oder gegen die Corona-Politik bin, kann sogar über meine berufliche Perspektive entscheiden. Wer bei Querdenker-Demos mitlief, wurde teilweise kurz darauf fristlos entlassen; und ich würde sagen, aus gutem Grund. Dass Familienangehörige sich zerstreiten, weil der eine an die Verschwörung glaubt, die andere mit ihren recherchierten Fakten aber auf Granit beißt, ist tragisch. Was das für den Zustand unserer Diskussionskultur aussagt, ist auf gesellschaftlicher Ebene verheerend.

Denn plötzlich ist es egal, was man bei der letzten Wahl angekreuzt hat - Corona ist endlich mal wieder eine neue Konfliktlinie, wie es sonst nur Atomkraft oder Kriege geschafft haben: ein Querschnitt durch die Gesellschaft. Plötzlich ergeben die altbekannten Kategorien links vs. rechts keinen Sinn mehr. Wenn Hippies, Impfgegner und Neonazis gemeinsam marschieren, lecken sich Sozialwissenschaftler:innen die Finger. Andere machen sich Sorgen, dass das, wovor die selbsternannten Aufgewachten oder Erleuchteten warnen, Wirklichkeit werden kann: eine Diktatur. Die Angst davor wiederum wird nicht selten befeuert durch fiktive (!) Romane wie der von Dirk Rossmann beschworenen Öko-Diktatur (Rezension über "Der neunte Arm des Oktopus" hier). Doch mit Ängsten kann man natürlich gut spielen und Menschen damit manipulieren; das wissen die Drahtzieher hinter Querdenken genauso gut wie Goebbels und Himmler. Besonders perfide: Sie unterstellen ihren Gegnern (der Regierung, dem Robert-Koch-Institut, dem globalen Finanzkapital und Bill Gates...) exakt ihre eigene Startegie. Das ist praktisch, denn so muss man sich keine Verschwörung überlegen. Angela Merkel und Jens Spahn seien also durch und durch böse, verbreiteten Lügen, um ... ja, um was eigentlich genau? Jedenfalls ist das alles falsch, glaubt man den Querdenkern. Mit diesem Narrativ bringen sie auf bizarre Art und Weise Menschen dazu, hinter der Bundesregierung und dem Staat an sich eine totalitäre Elite zu vermuten, welche wiederum eigentlich Drahtzieher der Querdenken-Bewegung sind. Genial und furchtbar zugleich.

Wer sich die Mühe macht und dem Gesetzgeber wirklich auf die Finger schaut, weiß, dass sowohl die Bundes- und Landesregierungen als auch die Parlamente selbst die größten Schwierigkeiten hatten mit den weitreichenden, oft sehr kurzfristig und teilweise nicht durch Abgeordnete ratizifierten Maßnahmen. Aber das ist es, was der Souverän im Krisenfall tut: er entscheidet, weil die Gefahr für seine Bürger:innen größer ist als deren Ermessens- und Handlungsspielraum. Als in den 1962 Jahren die große Sturmflut vor allem die Menschen in Hamburg unmittelbar bedrohte, hat wohl niemand Demonstrationen gegen die Flut, gegen Fake News über eine erfundene Bedrohung durch Sturm und Wassermassen bis in die erste Etage organisiert. Helmut Schmidt hat damals weitgehend durchregiert. Und das hat vielen Menschen das Leben gerettet, wenn auch nicht allen. Ich habe die Sturmflut selbst nicht miterlebt, doch ich frage mich wirklich, ob es uns heute einfach zu gut geht?

Nun kann man eine Flut besser einschätzen als ein Virus. Wir Menschen sind da etwas beschränkt, immerhin können wir Viren sinnlich nicht wahrnehmen - sie sind einfach zu klein. Bevor es so etwas wie Zivilisation gab, hat sich darüber hinaus niemand geschert, wenn Viren die Runde machten: wir saßen weniger kompakt aufeinander als heute, konnten den Viren damit weniger attraktive Fläche zum Austoben geben und ob Onkel Otto nun an einem Urvater von Sars, Malaria, Hunger oder einem Säbelzahntigerangriff starb, was für die Statistik am Ende auch egal. Deutlich war, dass diejenigen in Ottos Stamm, die sich von den Gefahrenquellen ferngehalten haben, überlebt haben. Die natürliche Auslese haben wir durch moderne Gesellschaftsverträge jedoch (zum Glück!) ausgehebelt. Viele Querdenker wissen vermutlich nichts vom Erbe der Aufklärung oder den ziemlich stabilen Institutionen der Gewaltenteilung, und sie wissen ihre Privilegien in einem reichen Land wie Deutschland nicht zu schätrzen. Sie denken lieber an kurzfristige Glückshormone denn ans große Ganze. Erstaunlich, dass wir es als sprechende Affen soweit bringen konnten.

Wie wird der Corona-Sommer 2021: Zurück zu Normal? Nie wieder.

Machen wir uns nichts vor: Die Pandemie hat uns einen Spiegel vorgehalten. Einige haben sie zu Aufopferung, Selbstquarantäne, Doppelbelastung geführt. Andere haben ihr wahres, demokratie- und wissenschaftsfeindliches Gesicht gezeigt. Und wie geht es jetzt weiter?

Viele fordern ein Zurück zu Normal. Doch das wird es nicht geben. Die Pandemie hat nicht nur die ganze Menschheit in eine kollektive Krisenerfahrung gestürzt, sondern auch das Versagen einiger Gesellschaftsbereiche offenbart. Trotz der Warnungen diverser Kommissionen und Risikoberichte waren die wenigsten Staaten hinreichend vorbereitet - wir dürfen nur hoffen, dass wir daraus lernen. Denn diese Pandemie wird nicht die letzte gewesen sein. Zwar haben hochrangige Funktionäre der Weltgesundheitsorganisation WHO angedeutet, dass der Scheitelpunkt der Pandemie bereits erreicht sein könnte, doch darauf würde ich noch nicht wetten. Bleiben wir eher beim durchschnittlich wahrscheinlichen Szenario, dass sich das Virus und seine Mutanten noch für etwa ein Jahr erfolgreich reproduzieren können (ich hoffe, ich liege falsch).

In der naheliegenden Zukunft, also im Jahr 2021 heißt das folgendes:

  • das Impfgeschehen wird zwar voranschreiten, doch halte ich es für äußerst unwahrscheinlich, dass das Versprechen der Kanzlerin eingehalten werden kann. Eine Woche vor der Bundestagswahl soll idealerweise Herdenimmunität erreicht sein; überambitioniert, wenn Sie mich fragen.
  • die Verteilung des Impfstoffs, und das ist gute und schlechte Nachricht zugleich, muss weltweit vorangetrieben werden. Der Teil der Geschichte fehlt im Großteil der Medienberichterstattung: wir sind nicht nur, aber auch deshalb so langsam, weil die Bundesregierung zumindest ein bisschen solidarisch handelt. Insbesondere die Unterstützung von Covax, dem Bündnis des globalen Nordens für die Unterstützung des globalen Südens in der Bereitstellung der Impfstoffe, dürfte noch zu einigen Nominierungen für Friedensnobelpreise führen.
  • der Klimawandel ist nicht verschwunden - zwar gingen die CO2-Emissionen 2020 leicht zurück, jedoch sinkt dadurch natürlich nicht die CO2-Konzentration in der Atmosphäre. Die Polkappen und Permafrost in Grönland oder Sibirien ziehen sich weiter zurück, dadurch wird weniger Sonnenlicht reflektiert, der Klimawandel beschleunigt sich weiterhin. Nicht zuletzt durch den Wiedereintritt der USA zum Pariser Klimaabkommen ist die globale Marschrichtung klar: es wird mehr getan werden, um Emissionen zu reduzieren und alternative, umweltfreundlichere Wege zu finden, um unseren Lebensstandard aufrecht zu erhalten und den des globalen Südens anzugleichen. Keine leichte Übung. Konkret bedeutet das für den Sommer 2021: freuen Sie sich nicht zu früh, wenn Buchungsportale und Schnäppchenangebote zu (Fern-)Reisen locken wollen. Lesen Sie genau die Stornobedingungen, denn die Reisebschränkungen können und werden sich über Nacht ändern. Nicht gerade zugunsten der Reiselust. Viele erwarten nach dem kalten Winter einen sehr warmen Sommer - Urlaub würde ich nur im eigenen Bundesland planen, wenn überhaupt. Die großen Tourismusanbieter planen derweil auf Sparflamme, erwarten kein Zurück zu Normal, sondern dauerhaft geringere Reiseaufkommen - wer den längsten Atem hat, wird in zwei bis drei Jahren noch Reisen anbieten.
  • die Innenstädte darben nach Wiederöffnung der Geschäfte. Die Staatshilfen konnten viele auch kleinere Ladeninhaber:innen bisher über Wasser halten, doch sie brauchen den Zustrom der Massen; die erhöhten Versandquoten retten höchstens eine schwarze Null. Es nützt nichts. Ich erwarte einen großen Ansturm auf alles, was in den letzten harten Lockdown-Wochen und -Monaten verboten war. Daraufhin wird die Inzidenz besonders mit den neuen Covid-Varianten nach oben schnellen und noch bevor Dr. Drosten und das RKI "Inzidenzwert über 150!" aussprechen können, ist es zu spät: die exponentielle Steigerung ist dann für ein paar weitere Wochen vorgezeichnet, wir müssen wieder schließen, auch Grenzen. Ja, die lahmarschige Bürokratie im Gesundheitswesen trägt eine Teilschuld daran - vor allem aber die Sturheit der Menschen.
  • es wird eine teilweise Belebung des Veranstaltungssektors geben. Soweit zur guten Nachricht, die schlechte folgt sogleich: Eintritt nur mit (EU-)Impfpass oder tagesaktuellem, negativem Testergebnis. Aus meiner Sicht ein fairer Deal im Sinne der Gemeinschaft, für viele eine Zumutung. Viele Event-Agenturen, Produktionsfirmen, Messen oder Festival-Veranstalter sind jedoch vorsichtig und möchten nicht das Planungschaos von letztem Jahr wiederholen (warten Sie auch noch auf Erstattungen einiger Konzerte?) - daher wird das Angebot extrem beschränkt sein, die Platzanzahl begrenzt, die Preise höher - denn die Künstler:innen, Dirigent:innen und Produktionsangestellten verlangen zu Recht denselben Lohn, der sich dann aber auf weniger zahlende Gäste aufteilen muss. Eine neue Form der solidarischen Kulturszene muss sich von unten entwickeln, das heißt: auch durch Sie. Dazu gehört auch die gezielte Unterstützung von Initiativen, die Kulturschaffenden durch die Krise helfen, aber auch neue Erlösmodelle für alle Seiten - denn das wird durch die staatlichen Hilfen leider besonders vernachlässigt.
  • freuen Sie sich auch nicht zu früh über Schulöffnungen. Ich schätze, dass es spätestens im Herbst zu einer gewaltigen Eruption im Schul-, Universitäts- und Ausbildungsbereich kommen wird. Es ist eine Schande für dieses Land, dass etwa ein Jahr nach Beginn der Pandemie noch immer keine vernünftigen Konzepte für Remote / Home Schooling vorliegen, Gesetzgeber, Schulleitungen und Lehrkräfte bekleckern sich mit allem, nur nicht mit Ruhm. Die über Jahrzehnte sträflich vernachlässigte Unter-Förderung von Lehrkräften, die Konservierung alter Werte statt "neuer" Erkenntnisse der Bildungsforschung, die kategorische Ablehnung digitalisierter Lernmethoden und -inhalte (Stichwort Medienbildung, Informatik als Pflichtfach...) könnten zu dem größten Bildungsvakuum seit dem zweiten Weltkrieg beitragen.
  • eine wesentliche Ursache des Aufkommens und der Verbreitung von Pandemien sind Bewegungsmuster und Klimarahmenbedingungen. Je mehr Kontakte zwischen den Wirten, desto besser fürs Virus. Je wärmer und feuchter, umso wohler fühlen sich Viren. Beide Bedingungen unterstützt die globalisierte und ökologische Faktoren ignorierende Gier der Menschheit. Die derzeitige Form des Kapitalismus, der Mobilität, der Energiewirtschaft hat uns geradewegs in die Pandemie geführt. Davor habe ich (und viele andere) gewarnt, doch letztlich ist business-as-usual einfacher als eine ernsthafte Reflexion oder gar die Absicht, grundlegende Dinge zu ändern.

Klingt ziemlich düster, ist es auch. Aber es lässt gerade noch ein bisschen Luft für Optimismus, denn genau jetzt ist noch Zeit, den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Es ist die Zeit, gescheiterte Konzepte gnadenlos an den Pranger zu stellen und die Zeit bis zu den Bundestagswahlen zu nutzen, die Programme aller Parteien zu prüfen. Fragen, die ich mir dabei stelle:

  • Wer setzt sich für eine fundamentale Neuausrichtung des Bildungssektors ein?
  • Wer hat den besten, realistischen Plan für die Erreichung der Klimaziele?
  • Wer schaut über den Tellerrand der nächsten Legislatur und behandelt die Themen, die bis 2050 wichtig werden, und richtet darauf das Programm aus?
  • Wer denkt auch in dieser Pandemie, die uns noch ein paar Jahre beschäftigen wird, nicht nur an die Lobby, die gerade am lautesten schreit, sondern bündelt Maßnahmen, die für alle funktionieren?
  • Gibt es überhaupt eine etablierte Partei, die nicht in der traditionellen Machtallokation gefangen ist, sondern wirklich nach Werten und Zielen handelt?
  • Wagt eine Partei mehr Demokratie an den Stellen, wo sie sinnvoll ist?

Noch eine Pandemie in diesem Ausmaß können wir uns alle nicht leisten. Nutzen Sie Ihre Stimme weise.

____________________________________________________________________

* das gilt vor allem für die Unionsparteien CDU und CSU. Bei der AfD knickt das Wähleralter ab 70 wieder ein - denn die können sich noch daran erinnern, was die Vorgängerpartei (NSDAP) durch ihr Programm mit ihnen oder ihren engsten Angehörigen angerichtet haben.

** Die Formel dafür lautet: 82.000.000/68.000/150. 82.000.000 Menschen leben gerundet in Deutschland, 68.000 sind (abgerundet) bis zum heutigen Tag laut Statista an Covid-19 gestorben, 150 ist die ungefähre Größe eines sozialen Umfelds, also die Anzahl der Menschen, die Sie persönlich gut kennen. Das ist an vielen Ecken sehr unsauber gerechnet, aber ich bin Sozialwissenschaftler, kein Mathematiker, Virologe oder ähnliches. Was die Modellrechnung verdeutlicht: Menschen müssen (wie kleine Kinder) erst merken, dass es wehtut, bevor sie etwas verstehen. Querdenker sind die Kinder der Nation, könnte man sagen.