Wenig überraschend: Als Zukunftsforscher lese ich unheimlich viel. Dazu gehören vor allem die neuesten Studien einschlägiger Forschungsinstitute und einflussreicher Organisationen, wie bspw. von Bundesministerien. Ansonsten lese ich vor allem Sachbücher, die mich wiederum oft auf neue Gedanken bringen, mir neue Perspektiven bieten und vor allem auf Primärliteratur aufmerksam machen, die sonst nicht in meiner Reichweite wäre. Deshalb bin ich auch immer sehr dankbar für Tipps, die nicht aus meinen Fokusgebieten der Soziologie, klassischen Politikwissenschaft und Innovationsforschung stammen. Und deshalb habe ich beschlossen, meinen Zlog auch für Buchtipps zu nutzen – schließlich ist es meine Mission, auch Ihre Perspektiven zu weiten.
Neulich habe ich ein Buch gelesen, welches mein Perspektivendenken sehr herausgefordert hat, da es sich um das Werk eines philosophischen Politikwissenschaftlers handelt. Zhao Tingyang ist einer der wenigen Politikwissenschaftler aus China, die gleichzeitig dort wie auch weltweit angesehen sind.
„Zhao Tingyang ist Professor am Institut für Philosophie bei der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften und ist Senior Fellow am Berggruen Forschungsinstitut der Universität Peking. 2019 wurde er vom Nouveau Magazine littéraire zu einem der 35 einflussreichsten Denker der Welt gewählt.“ (Wikipedia)
Sein Buch „Alles unter dem Himmel“ erschien 2020 in deutscher Sprache und ich möchte es allen nahelegen, die sich für „Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung“ interessieren, wie es im Untertitel heißt. Und wenn Sie hier auf meinem Zlog unterwegs sind, ist anzunehmen, dass Sie sich für diese Thematik interessieren 😉
Inhalt
ToggleWas steht drin?
Zhao Tingyang geht in seinem Hauptwerk mit allen bisherigen Formen politischer Ordnung streng ins Gericht. Alle Herrschaftssysteme der Vergangenheit seien zwar historisch nachvollziehbar und durchaus praktikabel gewesen, doch das habe sich im 21. Jahrhundert geändert. Wir stehen vor Problemen, die einerseits weltweite wechselseitige Verstärkungseffekte entfalten und andererseits zum Teil gerade infolge der Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme der Neuzeit entstanden sind.
Zhao kritisiert also alle historischen Ordnungssysteme. Alle bis auf eines: die sogenannte Tianxia (übersetzt „alles unter dem Himmel“). Sie entstand im historischen China infolge mehrerer Zufälle und bot eine herausragend inklusive und kollaborative Staatsordnung in der Zeit etwa zwischen 1100 und 200 v. Chr. und wird dem Herzog Dan von Zhou im 11. Jahrhundert v. Chr. zugeschrieben. Die Tianxia hielt damit erheblich länger an als die aktuellen modernen westlichen Staaten, deren Gründung überwiegend weniger als 500 (oder im Fall der BRD weniger als einhundert) Jahre zurückliegt.
„Das Tianxia-System der Zhou-Dynastie eröffnete die gedankliche Möglichkeit einer Politik, welche die Welt als Ganzheit zum Ausgangspunkt nimmt“, (Zhao, S. 51).
Das Besondere an der Tianxia: Wenn man von einigen Bestrebungen der Vereinten Nationen absieht, hat sie erstmals und bis heute beispiellos alle Menschen der Welt unabhängig von Herkunft, Geschlecht oder Status gleichgesetzt. Und das Ganze 2500 Jahre vor Aufklärung und Humanismus in Europa. Deren Vordenker und Macchiavelli, Rousseau, Montesquieu, Hobbes, Kant etc. allesamt ziemlich limitierte Ansichten und Menschenbilder vertraten. Interessanterweise scheiterte die Tianxia zu einer Zeit, als vermehrt politische Verbindungen zu entfernten Weltregionen aufgenommen wurden (Han-Dynastie 206 v. Chr. – 220 n. Chr.). Viele Positionen der Tianxia waren ihrer Zeit weit voraus, über die tatsächliche Ausübung wiederum ist leider nicht allzu viel überliefert, aber das macht die Idee an sich ja nicht schlecht.
Meta
Der Autor nimmt uns mit auf eine Reise in die chinesische Geschichte, die meiner Meinung nach in unseren Breitengraden deutlich unterrepräsentiert rezipiert wird. Immerhin ist die VR China spätestens seit der Finanzkrise 2008 als größte Volkswirtschaft an den USA vorbeigezogen und dominiert zunehmend die globalen Finanzmärkte. Zeit, sich mit dem neuen Primus zu beschäftigen. Zumal es Zhao Tingyang gelingt, herrlich undogmatisch die politikwissenschaftlichen Konzepte der (meist europäisch geprägten) Neuzeit auf den Prüfstand zu stellen, Ideologien nüchtern zu sezieren und die Vorteile einer neuen Weltordnung darzulegen. Das heutige chinesische System wird an wenigen Stellen erwähnt, der Abstand zwischen Gegenwart und Tianxia wird aber zwischen den Zeilen deutlich.
Schließlich: Die „Neotianxia“ sei, so Zhao, das einzige, was die Herausforderungen globalen Maßstabs im 21. Jahrhundert vorantreiben kann. Kooperativ statt kompetetiv. Nationalstaaten und klassische regionale Machtausübung sind dazu nicht imstande. Die Lektüre ist also nicht bloß ganz nett, sondern im Kontext der aktuellen Situation wirklich hilfreich.
Empfehlung: Lesen!
Da ich mich zunehmend mit Systemfragen beschäftige – nachzulesen unter anderem im Newsletter – und mich für einen systemischen, posthumanistischen Weg engagiere, traf das Buch bei mir einen Nerv und beleuchtete einen blinden Fleck. Ich habe es verschlungen. Prädikat: Perspektivenerweiternd!
Ich würde mich freuen, wenn meine Begeisterung Sie neugierig gemacht hat und Sie das Buch in der Buchhandlung Ihres Vertrauens, bei medimops oder Buch7 (mit CO2-Ausgleich) finden und sich ebenso daran erfreuen. Oder aus der Bibliothek ausleihen, wenn Sie keinen Platz mehr im Bücherregal haben. Und dann schreiben Sie gern einen Kommentar, was Sie denken:
- Hat Ihnen das Buch gefallen? An welchen Stellen spüren Sie eher Dissens?
- Kann die (Neo-)Tianxia moderne Probleme lösen?
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