FAQ eines Zukunftsforschers
In diesem Beitrag möchte ich die Fragen beantworten, die mir als Zukunftsforscher in den letzten Jahren am häufigsten in Interviews und im Bekanntenkreis gestellt wurden. Willkommen zu den FAQ (frequently asked questions, dt.: häufig gestellte Fragen) eines Zukunftsforschers - sortiert nach Häufigkeit!
Bei wie vielen Prognosen lagst du richtig?
Die Antwort kann gar nicht anders lauten als: 42. Das ist natürlich Quatsch, denn einerseits zähle ich das wirklich nicht. Natürlich freue ich mich mehr oder weniger, wenn ich richtig liege bei Entwicklungen globalen Ausmaßes. Dass ich 2019 an vielen Stellen eine Pandemie in den nächsten drei Jahren vorhergesagt habe, ist inzwischen bekannt. Ende 2021 überlegte ich unter anderem in meinem eigenen Podcast "Im Hier und Morgen", ob die russische Armee die Ukraine völkerrechtswidrig noch vor oder erst nach Silvester 2021 angreift. Meine Masterarbeit habe ich 2013 über "Kostenlosen ÖPNV" geschrieben und im Wesentlichen das Deutschlandticket als gute Lösung vorhergesagt. Aber wie viele richtige Prognosen nun insgesamt dabei waren, ist schwer zu ermitteln, da ich viele Aussagen ja auch in Diskussionsrunden in mehr oder weniger exklusivem Kreis mache, die womöglich nicht dokumentiert werden. Rein wissenschaftlich ist es also kaum möglich, eine vollständige Statistik zu erstellen.
Andererseits geht es in der Zukunftsforschung nicht unbedingt darum, richtig zu liegen. Wichtiger ist es, die von heute aus plausiblen Zukünfte zu durchdenken und Gestaltungsräume in der kurz-, mittel- und langfristigen Perspektive zu erarbeiten. Allein mit der Formulierung solcher Zukunftsbilder liefern wir also einen Teil dazu, dass die Zukunft anders wird als es heute noch plausibel (umgangssprachlich: wahrscheinlich) wäre. Im Gegenteil spielen auch Warnprognosen oft eine Rolle - das heißt, dass einige Zukunftsaussagen durchaus überspitzt formuliert werden, um Energien zu mobilisieren, sie zu verhindern.
Leider enden wir in meinem Metier oft wie die Kassandra aus der griechischen Mythologie: Wir warnen, zeigen sowohl Chancen als auch Risiken auf, aber letztlich gewinnt oft die Systemträgheit, weil man doch zu neugierig ist, das trojanische Pferd in die Festung zu lassen und zu schauen, ob die Warnung nicht doch falsch war.
Wie wird man eigentlich Zukunftsforscher:in?
Es gibt viele Lager, Beziehungsstatus: kompliziert. Anders ausgedrückt, die meisten, die in den Medien als "Zukunftsforscher" (bewusst nicht gegendert) bezeichnet werden, verdienen diesen Titel nicht. Als Zukunftsforscher werden oft schon Menschen bezeichnet, die aus ihrer Disziplin heraus Aussagen über die Zukunft treffen. Nichts könnte falscher sein, da Zukunftsforschung per se interdisziplinär ist und mindestens transdisziplinär arbeitet. Diese Bildungslücke bei Journalist:innen versuchen die Verbände und Vereine der akademischen Zukunftsforschung seit Jahrzehnten ohne nennenswerten Erfolg zu füllen.
Ich für meinen Teil bin einer derjenigen, die Zukunftsforschung studiert haben. Man muss es aber nicht studiert haben, um als Zukunftsforscher:in zu arbeiten - man sollte aber die Gütekriterien und Standards der Zukunftsforschung kennen und, soweit möglich, achten. Wer seine Quellen nicht hin und wieder offenlegt, keine methodischen Grundlagenkenntnisse hat, sollte sich also eine andere Berufsbezeichnung suchen. Böse Zungen bezeichnen diese Leute als Scharlatane und ich hege gewisse Sympathien für den Begriff.
Wie bitte, man kann Zukunftsforschung studieren??
Ja, seit 2010 gibt es den Masterstudiengang Zukunftsforschung an der Freien Universität Berlin, danach kamen einige ähnliche Studiengänge in Deutschland hinzu, bspw. an der TH Ingolstadt. International ist man da (wie immer) schon weiter. Highlights liegen in Finnland, Südafrika und Hawaii. Die internationale Community der Zukunftsforschung ist gut vernetzt und auf allen Kontinenten sehr aktiv, mit unterschiedlicher struktureller bzw. institutioneller Anbindung. Der international wichtigste Verband ist die World Futures Studies Federation.
Wie lautet der Titel eines studierten Zukunftsforschers?
Master of the Future!
... leider nicht, es ist ganz staubig: Master of Arts Zukunftsforschung.
In welchen Bereichen arbeiten Zukunftsforschende?
Es gibt im Grunde vier Arten der Beschäftigung. Die erste ist wie ich selbstständig bzw. mit einem meist sehr kleinen Forschungsinstitut (PROFORE) unterwegs. Die zweite Art findet man am ehesten in großen Unternehmen in der Nähe der Strategieabteilung - für mich ist die Arbeit im Konzern ungefähr das Gegenteil von Selbstständigkeit und passt nicht zu meinem Naturell. Der Mittelstand springt so langsam auf das Thema auf, nennt es aber meist "Trendscouting" oder ähnliches. Die dritte Beschäftigungsart für Zukunftsforschende ist in der Wissenschaft oder wenigstens freien Forschung, bspw. beim IZT oder verschiedenen Fraunhofer-Instituten; hier besteht ein nennenswerter Anteil der Arbeit darin, Förderanträge zu befüllen, um die kommenden Projekte zu finanzieren - auch nicht meine Lieblingsbeschäftigung. Die vierte und wohl bekannteste Art sind Trendforschungs-"Institute", die im Wesentlichen aktuelle Trends analysieren und relativ oberflächlich in die Masse tragen. Einige nennen sich Thinktank bzw. Denkfabrik, andere behaupten sogar, sie seien Zukunftsforschungsinstitute, wieder andere gehen sehr offen damit um, dass sie Trendwissen herunterbrechen auf einzelne Branchen und Unternehmen. Auf Anfrage gebe ich gern konkrete Auskunft, welches der Unternehmen in diesem Feld zu welcher Gattung zählt.
Darüber hinaus gibt es natürlich auch zunehmend Aufmerksamkeit in der Politik und öffentlichen Verwaltung sowie zahlreichen NGOs, Vereinen und Verbänden.
Und wie wird die Zukunft?
Diese Frage kommt fast immer als typische Cocktailparty-Frage, wenn ich sage, dass ich Zukunftsforscher bin. Wer kurz darüber nachdenkt, merkt dann schnell, dass die Frage an sich natürlich unmöglich zu beantworten ist. Ich antworte in der Regel mit Gegenfragen; welches Jahr? Für wen? Welcher Bereich der Gesellschaft? Eher die zuversichtliche oder bedrückende Perspektive? Manchmal sage ich aber auch einfach: "Alles super." Zukunft ist erst einmal nur eine grammatische Zeitform und je weiter wir uns von der Gegenwart entfernen, desto mehr Möglichkeiten gibt es - irgendwo zwischen Weltuntergang und Kant'schen ewigem Frieden liegt die Antwort.
Wo auf der Welt ist die Zukunftsforschung bzw. Foresight besonders aktiv?
Das ist schwer zu beantworten. Ursprünglich stammen viele Methoden und damit auch Institutionen aus den USA, aber auch Frankreich, Großbritannien und Deutschland waren grundlegend früh dabei. Aktuell dominieren in der World Futures Studies Federation Stimmen aus Dubai und Singapur, doch auch die lateinamerikanische Community ist sehr aktiv. Eine der wichtigsten internationalen Vordenkerinnen ist wiederum Jennifer Gidley aus Australien, die unter anderem das fantastische Buch "The Future: A Very Short Introduction" (Oxford University Press) geschrieben hat.
Was hältst von Megatrends?
Die ursprüngliche Idee stammt von John Naisbitt aus den 1980er Jahren und wurde nicht nur hierzulande von einigen findigen Unternehmern gekapert und vergoldet. Dass Megatrends empirisch nicht haltbar sind und auch theoretisch bei näherer Betrachtung unsinnig sind, verraten diese Unternehmer selten. Megatrends sind letztlich nicht viel mehr als das Abbild einer globalisierten Welt, in der bestimmte Themen in der kollektiven Wahrnehmung eine größere Rolle spielen als andere. Megatrends sind praktisch der Stammtisch der Trendforschung - man kann kaum widersprechen, aber konkret wird's dann doch nicht. Außerdem entfalten Megatrends auch dadurch eine eigene Dynamik, dass sie gebetsmühlenartig wiederholt werden und gewissermaßen als sich selbst erfüllende Prophezeiung immer wieder die Sau durchs Dorf treiben. Allein der Begriff "mega" sollte aber seriöse Entscheider:innen davon abhalten, sich genau davon infizieren zu lassen.
Die Trend- und Zukunftsforschung hat es in Deutschland nicht leicht. Woran liegt das?
Ich vermute, dass dies genau mit dem missbräuchlichen Umgang mit Trends zu tun hat. Das ist ähnlich wie mit Meinungsumfragen: Wenn ich nicht genau weiß, welche Annahmen und welches Sample die Grundlage für eine Umfrage gelegt hat, sollte ich sie meiden. Trendforschung hat in Deutschland erheblichen Schaden dadurch angerichtet, dass Narrative beispielsweise aus dem Silicon Valley übernommen und als erstrebenswerte Realität verkauft wurden. Aber so einfach ist das Geschäft mit der Zukunft nicht. Doch wer sich als Prophet in der Tradition von Nostradamus sieht und unsinnige, verallgemeinerte Aussagen verbreitet, die kaum jemandem wirklich helfen, sät das Chaos.
Wie erhebt man Daten über die Zukunft?
Gar nicht. Wir arbeiten leider - im Gegensatz zum Video auf meiner Startseite - ohne Zeitmaschine und können nur Daten aus der Vergangenheit und "Gegenwart" erheben und auswerten. Was wir dafür sehr gut können, ist Plausibilität abzubilden und dadurch Gestaltungsräume zu finden, die vorher im Verborgenen blieben. Dadurch sind wir selten wirklich überrascht, wenn im Großen oder Kleinen mal wieder etwas "Unerwartetes" passiert, weil wir uns zwar meist nicht über das konkrete Ereignis, sehr wohl aber ein vergleichbares Event mit ähnlichen Auswirkungen Gedanken gemacht haben.
Wie weit schauen Zukunftsforschende in die Zukunft?
Das hängt von der Fragestellung ab. Für gewöhnlich möchten Unternehmen eher einen Zeitraum von fünf bis zehn Jahren dargestellt bekommen, da sie selbst mit ihrer Strategie und Vision bereits die nächsten fünf Jahre antizipiert haben. Sie wollen sich auf das vorbereiten, was dahinter kommt, aber bitte auch nicht allzu weit. Fair. Öffentliche Auftraggeber sind meist am Zeitraum 10-25 Jahre interessiert. Dann gibt es auch Projekte, in denen es zum Beispiel um die Bau-, Immobilien- oder Forstwirtschaft geht, wo man seit eh und je in einem Jahrhundert denkt. Das ist herausfordernd und ehrlicherweise auch oft inspiriert durch Science-Fiction. Für alles weitere kombinieren wir alles, was wir wissen (die sogenannten known knowns), mit allem, von dem wir wissen, dass wir es nicht wissen (known unknowns). Wir machen aber auch Aussagen darüber, was wir nicht wissen, nicht zu wissen (unknown unknowns) und schätzen auf Nachfrage die potenziellen Auswirkungen ein.
Woran erkenne ich gute Zukunftsforschung?
Das ist wahnsinnig schwierig, da es (noch) keine Standards nach DIN oder ISO gibt. Immerhin hat sich die UNESCO schon vor vielen Jahren dem Thema "Futures Literacy" (dt.: Zukünftebildung) angenommen und einen eigenen Leitstuhl (Chair) dafür eingerichtet. Daneben wäre es aus Sicht eines Auftraggebers unbedingt empfehlenswert, danach zu fragen, ob der:die Auftragnehmer:in die Standards und Gütekriterien der Zukunftsforschung kennt und befolgt - dazu gehört dann Transparenz, Offenlegung der Annahmen, Nachvollziehbarkeit und ein paar weitere. Einen Pocketguide Zukunftsforschung zum Thema gibt es kostenlos auf der Website der FU Berlin.
Gibt es ein Gütesiegel für gute Zukunftsforschung?
Nein, noch nicht - das wäre mal eine gute Aufgabe für das Netzwerk Zukunftsforschung! Dieses hat auch den Sammelband der Standards und Gütekriterien (s.o.) initiiert.
Was ist der Unterschied zwischen Trend- und Zukunftsforschung?
Trendforschung schaut eher auf sehr spezifische Branchen- oder Modetrends. Beispiele dafür sind Prognosen, welche Farbe nächstes Jahr in den Bekleidungsläden dominiert, welcher Antriebsstrang bei Fahrzeugen in zehn Jahren das Rennen gemacht haben wird oder wie die Gen Z* demnächst wählen wird.
Zukunftsforschung stellt grundsätzlich zuerst Fragen, welche Intention mit einem Vorhaben verbunden ist, welcher Zeitraum relevant ist, welche Vorarbeit schon geleistet wurde und ob es wirklich angestrebt wird, bestehende Muster infrage zu stellen. Meine erste Frage bei Projekt- oder Keynote-Anfragen ist: Beauftragt mich die Kommunikation oder die Strategie?
Ich vergleiche die beiden Herangehensweisen, die durchaus beide ihre Berechtigung haben (siehe Beitrag über die Methoden der Zukunftsforschung), gern mit einer Erstbegehung eines dunklen Kellers in einem leer stehenden Haus (= Zukunft). Um herauszufinden, was sich dort unten befindet, geht die Trendforschung vorsichtig die Treppe herunter und hält sich am Geländer fest (= bekannte Rahmenbedingung). Am Ende des Geländers bleibt sie stehen und überbringt den oben Wartenden die frohe Botschaft, dass das Geländer aus Kirschholz besteht, die Verzierungen wunderbar kreativ sind und die Treppenstufen nicht genormt sind. Das ist alles, was im Schein des von oben herunter scheinenden Tageslichts wahrnehmbar war. Was den Rest des Kellers betrifft, bleibt die Trendforschung vage - es war auch nicht ihr Auftrag. Die Zukunftsforschung überlegt sich vorher, ob dort unten im Keller eine Taschenlampe, ein Schutzhelm, eine Fliegenklatsche, vielleicht sogar eine Verteidigungswaffe nötig sein könnte; man weiß ja noch nicht, was einen nach der Treppe erwartet! Allein für die Vorbereitung wendet sie mehr Zeit auf, geht dann aber nach der Treppe deutlich weiter. Sie leuchtet alle Winkel aus, hebt möglicherweise Möbel hoch, und übersieht dennoch garantiert etwas. Und das sagt sie dann auch, wenn sie wieder zurück im Erdgeschoss ist. Weitere Antworten über dort unten befindliche Gegenstände, den Luftdruck, den Staub, etc., gibt sie weiter, wenn sie für die Fragestellung der Erdgeschossler relevant sind.
*Gen X, Gen Y, Gen Z, Gen Alpha... diese Konzepte sind empirisch übrigens kompletter Unsinn und sollten mit Vorsicht behandelt werden! Siehe dazu den glorreichen Aufsatz von Dr. Martin Schröder "Der Generationenmythos". Umgangssprachlich zusammengefasst: es gibt mehr Wert-Unterschiede innerhalb von Geburtenjahrgängen als zwischen diesen Jahrgängen. Noch umgangssprachlicher: Oma und Enkel sind sich in puncto Werte meist ähnlicher als deren Mitschüler oder Kolleginnen.
Was ist der Unterschied zwischen Science-Fiction und Zukunftsforschung?
Science-Fiction (SF) ist eine ernstzunehmende Literaturgattung und einige Werke (Romane, Filme, Serien) machen wirklich einen guten Job in der Modellierung von Zukünften. Das heißt, sie sind in sich plausibel und man könnte argumentieren, dass die beschriebenen Geschichten unter bestimmten Voraussetzungen meist technologischer Natur auch "realistisch" sind. Doch SF ist immer auch polarisierend, denn so funktioniert Unterhaltung: Ich brauche zwar einen Anker, in den ich mich aus meiner heutigen Realität hineinversetzen kann, doch dann muss das Zukunftsbild mit einigen meiner Werte und Weltanschauungen kollidieren, um Emotionen in mir auszulösen.
Zukunftsforschung hingegen extrapoliert und polarisiert weniger. Es geht vielmehr um die Sammlung von quantitativen und qualitativen Daten über einen Forschungsgegenstand, anschließend bilden wir - oft mit Auftraggebern - Annahmen über plausible Projektionen der wichtigsten Schlüsselfaktoren, schätzen dann ein, inwieweit bestimmte Projektionen logisch miteinander koexistieren könnten und dann berechnen wir softwaregestützt, welche Szenarien im Bereich des Möglichen liegen. Insofern sind wir eher Zukunftsarchäologen als Wahrsager oder fiktionale Autor:innen. Natürlich gibt es auch Projekte, in denen wir eher wünschenswerte Szenarien entwerfen, aber die kommen selten aus der Wirtschaft und Verwaltung, eher von NGOs oder einzelnen Teams, die in einem Visionsprozess stecken.
Wenn die Zukunft nicht feststeht, nicht deterministisch ist, warum gibt es dann Zukunftsforschung?
Einfach: Tunnelblick - Geschlossene Systeme sind schlecht in der 360°-Betrachtung, weil sie um ihren Nukleus kreisen. Anders ausgedrückt: Der Zweck jedes Systems - Zelle, Familie, Firma, Regierung - ist, sich permanent darum zu kümmern, dass die Daseinsberechtigung erhalten bleibt (Autopoiesis). Da kann man nur auf Sicht fahren und das ist okay. … Wir bieten ein umfangreiches Set an Orientierung, aus denen sich Gestaltungsmöglichkeiten ergeben, die natürlich von bestimmten Parametern abhängen. Einfach gesagt: Wir modellieren eine sehr komplexe "wenn, dann"-Matrix, sprechen auch über Wildcards wie Pandemien, Vulkanausbrüche oder sonstige eher unwahrscheinliche, im Eintreten aber einflussreiche Entwicklungen. Daraufhin liegt die Verantwortung wieder beim Auftraggeber, entsprechend die Prozesse, Verträge und Strategien zu überprüfen.
Letztlich verstehe ich mich eher als Komplexitätsmanager und Impulsgeber, um Organisationen zu befähigen, im Rahmen der plausiblen Zukünfte wirksam ihre eigenen Einflusssphären im Einklang mit sozialer und ökologischer Umwelt zu gestalten. Es ist meine feste Überzeugung, dass so viele Menschen wie möglich mehr Zeit mit der Antizipation möglicher Zukünfte verbringen sollten; dann wäre die Welt im besten Fall ein besserer Ort. Im schlimmsten Fall würden einige Menschen etwas Zeit am Tag mit Grübeln verbringen.
Warum hältst du Vorträge (Keynotes) über die Zukunft?
Das hat viele Gründe. Persönlich macht es mir einfach Spaß und ich habe eine Neigung dazu, mich auf Bühnen wohlzufühlen. Wichtiger ist aber, dass besonders auf Veranstaltungen aller Art Impulse über mögliche Zukünfte wahnsinnig wichtig sind. Denn in dem Moment, in dem Zukunftsbilder diskutiert werden, erhöht sich die Chance, dass diese auch eintreten (Propensität) - deshalb neige ich auch zu zuversichtlichen Botschaften. Das Ganze basiert zu einem guten Teil auf Erkenntnissen aus der Forschung und individueller Vorbereitung, letztlich aber natürlich in einem oft eher Entertainment-lastigen Format auch auf einer stringente, unterhaltsamen Argumentation.
Welche Quellen nutzt du für deine Recherchen?
So viele wie möglich, so wenige wie nötig. Pragmatisch gesprochen hängt das auch vom Budget ab. Was aber kontinuierlich passiert, ist das Verfolgen der großen Entwicklungen (Trends) in den Nachrichten (aber bitte nicht täglich), die Lektüre wichtiger Studien nennenswerter Markt- und Meinungsforschungsinstitute, Beobachtung potenzieller Wildcards und natürlich ein gut trainierter Google News Stream. Darüber hinaus führen wir Interviews mit Expert:innen für bestimmte Themen in Projekten oder Podcasts, um tiefgründige Einblicke in deren Zukunftsbilder zu erhalten. Last but not least tausche ich mich mit anderen Zukunftsforschenden und Foresight-Leuten regelmäßig aus, beispielsweise über den Alumniverein des Masterstudiengangs Zukunftsforschung "Kapitel21: Zukunftsforschung", den ich 2013 mitgegründet habe.
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Neue Website online und allgemeines Update
Während der Sommer etwas stockend in Gang kam, waren wir entgegen der längeren Stille hier im Zlog nicht untätig. Im Gegenteil. Wie vielleicht der eine oder die andere schon gemerkt hat, sieht die Website seit Ende Juli anders aus. Wir haben den Relaunch bzw. Facelift einige Monate lang vorbereitet und gemeinsam mit der Speaker Agentur Athenas und den Kollegen in Dänemark umgesetzt. Keine leichte Geburt bei so vielen individuellen Funktionen und Inhalten. Einige davon haben die Überarbeitung nicht überlebt und wurden im besten Sinne in den Ruhestand befördert.
Uns interessiert nun brennend, was Sie und ihr davon halten/haltet. Funktioniert alles? Sind die Inhalte gut auffindbar? Gefallen die Videos? Fehlt etwas? Passt das neue Design gut zur Kernmarke? Wir freuen uns sehr über jede Form von Feedback, gern über das Kontaktformular.
Update von Kai Gondlach & PROFORE im Sommer 2024
Das Jahr begann turbulent und wie es sich für Turbulenzen gehört, wirken sie oft noch nach. Glücklicherweise haben sich einige strategische Entscheidungen in der Unternehmensführung der Kai Gondlach GmbH und der PROFORE Gesellschaft für Zukunft mbH als goldrichtig bzw. bis dato sehr erfolgreich erwiesen. Die Anwendung der Methoden der Zukunftsforschung aufs eigene Unternehmen hat sich wirklich gelohnt, wenn auch - wie es sich gehört - mit einigen Wachstumsschmerzen.
Die Anzahl der Presse- und Medienanfragen hat sich sehr positiv entwickelt, besonders von überregionalen Medien. Das bisherige Highlight des Jahres war natürlich mein Interview mit dem RTL Nachtjournal im Mai, von dem unfassbare 18 Minuten tatsächlich ausgestrahlt wurden. So viel Sendezeit für Zukunftsforschung in einem Top-Medium; ich weiß nicht, ob es das schon einmal gab. Die Zusammenarbeit mit den Kolleg:innen im Berliner Studio hat darüber hinaus auch noch richtig Spaß gemacht, sodass ich mich schon auf zukünftige Sessions dieser Art freue!
Keynote-Update 2024
Die Keynote-Saison 2024 begann erst zögerlich, entwickelte sich dann aber rasch zur intensivsten seit 2019, dem Jahr vor Corona. Und das ist ein wahrer Grund zur Freude, denn das Jahresziel ist nun, da ich diesen Text schreibe, zu 98 Prozent erreicht und der Kalender im zweiten Halbjahr ist gut gefüllt. Vielen Dank an die vielen Menschen, die dies ermöglicht haben und weiterhin ermöglichen! Außerdem 1000 Dank an die zahlreichen Menschen, die ich im Zuge der bisherigen 23 Auftritte dieses Jahres kennenlernen durfte. Mein Highlight war eine Reise nach Oldenburg auf Einladung der dortigen Wirtschaftsförderung - dort traf ich auf ein großes, begeistertes Publikum, wertschätzende Kundengespräche und einen echten DeLorean wie im Film "Zurück in die Zukunft" (und meinem Imagefilm). Der Herbst wird aller Voraussicht nach sehr reiseintensiv und es gibt nur noch wenige Zeitfenster in meinem Kalender, zu denen ich neue Termine annehmen könnte. Einerseits eine schöne Situation, da ich dann in meinem Element bin, andererseits schade, wenn interessante Anfragen aus Kapazitätsgründen abgelehnt werden müssen. Aber heute ist nicht alle Tage, ich komm' wieder, keine Frage!
Buch-Update 2024
In der Zwischenzeit erschien mein erstes Sachbuch "KI jetzt!" Ende April, in dem ich gemeinsam mit dem KI-Experten Mark Brinkmann den Spagat probiert habe, sowohl die wichtigsten Begriffe und Konzepte (und natürlich Zukunftsbilder) von Künstlicher Intelligenz zu beschreiben, als auch konkrete Starthilfe für Führungskräfte in Organisationen zu geben, wie sie KI gewinnbringend implementieren können. Viele positive Rezensionen in diversen Medien lassen den vorsichtigen Schluss zu, dass dieser Spagat ganz gut funktioniert hat, was mich sehr glücklich macht. Immerhin entstand das Buch in kürzester Zeit und zwischendurch erschien der für mich wichtigste Protagonist auf der Bühne meines Lebens - mein Sohn, der inzwischen das erste Lebensjahr mit allen Höhen und Tiefen erfoglreich absolviert hat und unsere Leben durcheinanderwirbelt.
Noch ein wichtiges Buchprojekt wird demnächst veröffentlicht: Gemeinsam mit drei Co-Herausgebenden habe ich in den letzten zwei Jahren einen bislang einzigartigen Sammelband in drei Teilen vorbereitet, an dem über 200 Autor:innen mitgewirkt haben. Die Rede ist von "Regenerative Zukünfte und künstliche Intelligenz" in den drei Bänden PLANET, PEOPLE und PROFIT, welche im Springer VS Verlag und konkret der Sonderserie zu den UN-Nachhaltigkeitszielen (SDG) erscheinen werden. Über 100 Beiträge aus dem großen Spektrum der Nachhaltigkeit auf allen Ebenen haben wir ausgewählt, gelesen, strukturiert und machen sie demnächst verfügbar für die interessierte Öffentlichkeit. Darin enthalten sind sowohl Problembeschreibungen als auch innovative Lösungsansätze, Konzepte und Utopien. Den Verkaufspreis haben wir auf 49,90 Euro reduzieren können, was für Fachbücher dieses Umfangs sehr günstig ist - dafür verzichten wir auf Tantiemen. Warum? Weil wir möchten, dass die wertvollen Inhalte eine möglichst große Zielgruppe erreichen! Zudem gibt es wohl kaum einen besseren Beweis für intrinsische Motivation, als ein solches Mammutprojekt pro bono zu stemmen. Umso dankbarer sind wir, wenn diese Botschaft bei möglichst vielen Gelegenheiten weitererzählt wird! Der erste und zweite Band erscheinen noch in diesem Jahr, PROFIT folgt dann Anfang 2025.
Derweil hat meine Co-Herausgeberin von "Arbeitswelt und KI 2030" (Springer Gabler), Dr. Inka Knappertsbusch, die zweite, erweiterte Auflage des Bestsellers (über 700.000 Zugriffe allein bei Springer!) maßgeblich vorangetrieben und organisiert. Ein paar Beiträge konnte ich auch lesen und korrigieren und kann schon jetzt sagen: Das Update wird noch besser als das Original und mit fast doppelt so vielen Beiträgen auch deutlich umfangreicher. Das Veröffentlichungsdatum steht noch nicht fest; bei Linkedin werde ich auf jeden Fall darüber berichten, vermutlich auch im Newsletter.
Last but not least habe ich ein neues Buchprojekt gestartet. Dabei handelt es sich wieder um ein Sachbuch, bei dem ich mich als Co-Autor eingeklinkt habe. Viel darf ich über den Inhalt noch nicht verraten, aber so viel: Es besetzt eine einzigartige Nische im Business-Bereich und wird auch stilistisch für viele neuartig sein. Ein Veröffentlichungsdatum gibt es noch nicht, da die Verlagsabsprachen noch laufen. Stay tuned!
PROFORE-Update 2024
Ein paar Takte zum unternehmerischen Big Picture. Das PROFORE Zukunftsinstitut wird in diesen Tagen zwei Jahre alt und hat damit den wichtigsten Meilenstein für ein junges Unternehmen geschafft! Jetzt sind wir sogar KfW-kreditwürdig 😇 Der Beiname "Zukunftsinstitut" ist natürlich ein kleiner Sidekick zu den Kolleg:innen nach Frankfurt, das Geschäftsmodell und die Angebote könnten in derselben Branche kaum unterschiedlicher sein. Was PROFORE auszeichnet, ist seine Dezentralität, Agilität und der klare Fokus auf Erkenntnisvermehrung der Kundschaft. Wir machen keinen Outbound-Vertrieb, sondern stellen für jedes Projekt einzigartige und kompetente Teams zusammen.
Aktuell realisieren wir mit einem kleinen Team eine wahnsinnig spannende und zukunftsweisende Szenarioanalyse in der Immobilienwirtschaft. Darüber wird es ab November mehr Infos geben. Nur so viel: Nach einigen Monaten Recherche, vielen Interviews und einer Online-Befragung ergaben sich 460 Milliarden verschiedene Szenarien, die wir computergestützt errechnet haben, was selbst mit einem Hochleistungscomputer mehrere Tage gedauert hat. Cliffhanger: Die Arbeit hat sich gelohnt! Darüber hinaus macht die Foresight Akademie wichtige Schritte in die richtige Richtung. Was dahintersteckt, wird schon bald im Newsletter kommuniziert werden.
Derweil arbeite ich mit einem völlig anderen Team an einer Startup-Idee, die das Potenzial hat, den demografischen Wandel und die angespannte Fachkräftesituation nachhaltig zu verändern. Mehr kann ich natürlich noch nicht verraten, damit will ich nur sagen: Meine Interpretation von Zukunftsforschung beinhaltet durchaus auch die aktive Zukunftsgestaltung 😉
Fazit
Das Jahr 2024 ist alles andere als entspannt oder geradlinig verlaufen und mit diesem Befund bin ich ganz sicher nicht allein. Die Nachfrage nach seriösen Zukunftsanalysen hat sich nach Corona- und Ukraine-Schock endlich erholt, was mich als intrinsischen
Kai Gondlach im RTL Nachtjournal
Neulich war ich zu Gast bei RTL im Hauptstadtstudio, um Auskunft über die Zukunft zu geben. Moderatorin Clara Pfeffer hat mich im Nachtjournal Spezial sehr lang über meine Einschätzungen zu aktuellen Themen und deren mögliche Zukünfte ausgefragt:
https://plus.rtl.de/video-tv/shows/rtl-nachtjournal-spezial-177848/2024-5-1002693/episode-62-rtl-nachtjournal-spezial-interview-mit-dem-zukunftsforscher-kai-gondlach-970090
Die Fragen drehten sich natürlich um wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen. Ich sprach die aktuelle Rezession, aber auch die Reindustrialisierung an - das "grüne Wachstum", das einerseits von der Industrie und Beschäftigten teilweise noch kritisch beäugt wird, andererseits sind deutsche Firmen und Beschäftigte teilweise Pioniere. Wohnungsmangel, Resilienz, Privilegien - viele Themen haben wir besprochen. Und natürlich Künstliche Intelligenz (KI). Die Frage: Ist das eine Revolution? "In zehn Jahren werden wir uns wundern, was für sinnlose Prozesse und Arbeitsschritte wir damals noch als Menschen haben ausführen müssen", sage ich an einer Stelle.
Schön, dass RTL als Massensender das Thema Zukunftsforschung so prominent positioniert. Ich wünsche mir mehr davon - gern mit Kolleg:innen aus der Zukunftsforschung. Im Zweifel vermittle ich sehr gern.
Kai bei "Wirtschaft Hören" der IHK zu Leipzig
Das Heimspiel geht in die nächste Runde: Ich durfte mit dem großartigen Volly Tanner bei "Wirtschaft Hören" der IHK zu Leipzig über Künstliche Intelligenz (KI) und New Work ein paar Eindrücke aus meiner Arbeit als Zukunftsforscher geben:
https://www.secondradio.de/audiothek/player/episode/374
Was heißt KI für die mittelständische Wirtschaft? Ist das wirklich so relevant? Ich denke, ja. Dazu habe ich ja auch ein paar Bücher geschrieben bzw. herausgegeben.
Im Gespräch entkräfte ich ein paar Ängste rund um KI und gebe eher Tipps, wie man mit diesem "Megatrend" umgehen kann. Stichwort Fachkräftemangel, Stichwort repetitive Tätigkeiten. Nein, Roboter übernehmen nicht die Welt - andererseits gibt es keine Unternehmen, die nicht vom Einsatz künstlicher Intelligenz profitieren können.
Im Zwischenspiel gute Musik unter anderem von Kraftclub - schöner Zufall? Verdammter Mike Skinner...
Zu Gast bei Sachsen Fernsehen: Tanner trifft
Eine halbe Stunde Druckbetankung Zukunft bzw. Zukunftsforscher Kai Gondlach - das gab es kürzlich in Sachsen Fernsehen bei Tanner trifft mit dem fantastischen Volker Volly Tanner. Ich stand Rede und Antwort darüber, was ein Zukunftsforscher so in seinem Alltag macht, welche Themen ich besonders wichtig finde und wie ich die Entwicklungen in Sachsen einschätze:
https://www.sachsen-fernsehen.de/mediathek/video/tanner-trifft-folge-99-gondlach/
Das Gespräch wurde auf diversen Kanälen ausgestrahlt, scheinbar auch in den Straßenbahnen - sagte mir ein Freund aus Leipzig. Sehr schön und definitiv eine Wiederholung bzw. Fortsetzung wert!
Edit: Tatsächlich so inzwischen geschehen bei Wirtschaft Hören von der IHK zu Leipzig, auch mit Volly Tanner.
Buch "KI jetzt!" erscheint bald!
Am 25. April erscheint mein neues Buch „KI jetzt!“ im GABAL Verlag, das ich mit KI-Führungskraft (Schwarz IT) Mark Brinkmann geschrieben habe. Es richtet sich an alle, die nicht bei ChatGPT stehen bleiben möchten, sondern mehr über Künstliche Intelligenz wissen möchten – oder müssen. Denn eins steht fest: KI ist gekommen, um zu bleiben.
Im Grußwort schreibt Deepa Gautam-Nigge, Vice President Corporate Development bei SAP SE und Aufsichtsrätin bei Aleph Alpha:
Das vorliegende Buch »KI jetzt!« ist dafür ein erster Atlas und wichtiger Kompass, um sich entlang der wichtigen Routen zu orientieren. Es schafft Verständnis für die Topografie des Geländes: Es liefert in sieben Schritten ein kurzes Grundlagentraining zum KI-Profi. Dazu gibt es mit 22 plastischen Anwendungsfällen die ersten vordefinierten Pfade. Mit diesem Wissen kann man dann die ersten Schritte abseits der beschriebenen Wege wagen, um Neues zu entdecken.
»KI jetzt!« – gehen wir’s an!
In diesem Sinne richtet sich das Buch wirklich an alle Menschen und Organisationen, die mehr KI brauchen: Führungskräfte, Arbeitssuchende, Fachkräfte, Studierende, Senior:innen. Mehr Informationen und Vorbestellung:
Keine Angst vor der Zukunft
Heute durfte ich beim Bundesverband der Vertriebsmanager Grußworte (ca. 20 Minuten) an die Mitglieder richten. Das Thema sollte einerseits um "Angst vor der Zukunft" kreisen, andererseits einen positiven Ausblick in plausible Zukünfte vermitteln. Da das Event online stattfand, habe ich mich gegen die "klassische" Variante mit einer Powerpoint-Präsentation entschieden und stattdessen einen Nachdenktext vorgetragen. Diesen möchte ich nun auch hier veröffentlichen und wünsche viel Spaß & Erkenntnis.
Intro
- Moin. Ich bin ein echter Zukunftsforscher, das heißt, ich habe unter anderem den Masterstudiengang Zukunftsforschung studiert. Ich arbeite seit 11 Jahren daran, aktuelle Trends zu verstehen und Einschätzungen zu möglichen Szenarien zu geben.
- Das tue ich unter anderem als Inhaber des PROFORE Zukunftsinstituts, als Keynote Speaker, Autor und Podcaster.
- Vielleicht fragen sich jetzt einige, ob ich die Zukunft auch vorhersagen kann. Nein, kann ich nicht. Aber ich lag schon oft richtig: Corona habe ich Mitte 2019 angekündigt, fast ein Jahr vor dem Beginn der Pandemie. Den Krieg in der Ukraine habe ich in meinem Podcast Ende 2021 thematisiert, also rund ein Vierteljahr vor dessen Beginn. Mein Whitepaper über Künstliche Intelligenz erschien im Oktober 2022 – zwei Monate vor ChatGPT.
- Damit will ich nicht sagen, dass ich die Zukunft doch irgendwie vorhersehen kann, sondern dass die Methoden der wissenschaftlichen Zukunftsforschung verdammt gut darin sind, kommende Entwicklungen früher als die Allgemeinheit zu erkennen.
- Aber heute wurde ich gebeten, einen Impuls zum Thema „Zukunftsangst“ vorzubereiten. Dafür habe ich keine Präsentation vorbereitet, wie sonst bei Keynotes und anderen Gelegenheiten, sondern ganz old fashioned einen Text für euch geschrieben.
- Und der geht so.
Keine Angst vor der Zukunft
Angst ist eine reale, unmittelbare Emotion.
Der Angst-Teil unseres Gehirns, die Amygdala, hat Vorfahrt vor den meisten anderen neurologischen Vorgängen. Aus evolutionärer Sicht ist Angst überlebenswichtig für jede Spezies, denn sie hält uns oft von dummen Entscheidungen ab und sagt unseren Gliedmaßen eher: „LAUF!“ statt „mal abwarten, ob das Rascheln im Busch ein Tiger oder eine Tüte Popcorn ist“
Angst wird allerdings oft mit Furcht verwechselt: Angst ist der allgemeine Gefühlszustand im Hinblick auf die Zukunft, auf mögliche Ereignisse, die uns oder unseren Liebsten zustoßen könnten. Unser Gehirn simuliert permanent etwa eine Sekunde in die Zukunft, was als nächstes total schiefgehen könnte, weshalb wir in manchen Situationen erstaunlich schnelle Reflexe haben – wenn etwa jemand ein Glas vom Tisch stößt. Das ist dann weniger Angst als aufmerksame Beobachtung mit allen Sinnen.
Furcht wiederum ist die gerichtete Form der Angst: Ich fürchte mich vor Spinnen in meinem Bett, ich fürchte, dass das Glas vom Tisch fällt und ich mich daran schneide; ich fürchte mich vor einem Fahrradunfall auf dem Weg zur Arbeit, ich fürchte, dass die Faschisten in den sächsischen Landtag einziehen und die Demokratie zerstören.
Ich persönlich kenne Angst und Furcht sehr gut. Ich bin Traumapatient seit einer privaten Tragödie vor einigen Jahren; vor fast 3 Jahren habe ich einen schweren Fahrradunfall überlebt; ich habe einen 7 Monate alten Sohn, der letztes Wochenende in der Klinik am Beatmungsgerät hing.
Angst ist allgegenwärtig.
Wir fürchten uns ja auch in der Freizeit wirklich gern: Fällt euch ein Science-Fiction-Film ein, der eine komplette Utopie einer perfekten Welt beschreibt? Ich kenne keinen. Horror und Actionfilme funktionieren nur, wenn wir uns auch gruseln oder fürchten lassen, dass zum Beispiel der Protagonistin etwas zustößt – James Bond hätte nicht funktioniert, wenn der am Ende nicht immer wieder die Welt gerettet hätte.
Angst ist sexy, make Angst great again!
… aber doch bitte nur mit Happy End!
Die deutsche Gesellschaft kennt Angst besser als jede andere, weshalb uns oft die „German Angst“ zugeschrieben wird. Wir haben Angst vor Veränderung, Angst vor dem Statusverlust durch eine diversere Gesellschaft oder hohe Inflation. Wir haben Angst vor Innovationen, die die Erfindungen unserer Vorfahren obsolet machen könnten, Angst, dass uns die Politik das Auto verbietet oder Gender-Sternchen aufzwingt. Wir haben Angst vor Putin, Angst vor Trump, Angst vor Xi Jinping.
Angst ist also nicht einfach nur unser Hobby, Angst ist unsere Berufung.
Dabei ergaben diverse Umfragen selbst während der Corona-Pandemie, dass die Menschen hierzulande meistens Angst vor diffusen Schreckensbildern haben – privat und beruflich schätzt eine überwältigende Mehrheit ihre individuelle Zukunft sehr zuversichtlich ein. Wie passt das zusammen? Sind wir individuell naiv-optimistisch, aber kollektiv krankhaft-paranoid?
Mein Eindruck ist, dass uns gesellschaftlich das Verständnis einer gesunden Angst, die uns zu vernünftigen Entscheidungen leitet, abhandengekommen ist. Angst und Furcht sind keine Phänomene, die es nur in schwarz und weiß gibt, sondern auch in allen Farben dazwischen. Das ist eine zentrale Erkenntnis, wenn man sich Gedanken über die Zukunft machen möchte, die nicht durch Angst verzerrt sind.
[PAUSE]
Ich bin Zukunftsforscher, Soziologe und Politikwissenschaftler. Ich genieße das fabelhafte Privileg, sehr häufig sehr klugen Menschen und mir selbst immer wieder die Frage stellen zu dürfen:
Welche anderen Perspektiven als Angst oder Zweifel können wir auf die Zukünfte richten?
Wir alle befassen uns mehr oder weniger strukturiert mit der Zukunft. Urlaubsplanung, Steuererklärung, Einkaufsliste, Rentenversicherung, Weihnachtsgeschenke. Paradoxerweise findet aber Zukunft für die meisten Menschen in der Regel kaum explizit statt.
Unser Bildungssystem ist ein verheerendes Beispiel dafür: Junge Menschen sollen Gehorsam lernen, sollen das Wiedergeben der Lehrpläne perfektionieren, es geht mehr ums Verwalten des Status Quo als das Erdenken und Gestalten der Zukunft. Und das wird uns gerade gesellschaftlich mit einiger Brutalität zurückgespiegelt.
Denn: Wer nicht nach einer plausibel erreichbaren Zukunft strebt, wird destruktiv oder depressiv. Das gilt für einzelne Personen genauso wie für Gesellschaften. Leider zieht sich dieser eklatante Zukunftsmangel bis in die höchsten politischen Ämter durch.
„Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen“, hat Altkanzler Helmut Schmidt einst gesagt und ist damit der geistige Vater der Zukunftslosigkeit ganzer Generationen. Dass er das nicht so gemeint hat, hilft uns leider nicht mehr.
Doch ich möchte eure Zeit bei diesem Neujahrsempfang nicht mit Lamentieren vergeuden, denn Experten für Nörgelei gibt es wahrlich genug. Stattdessen möchte ich euch ab jetzt ausgewählte plausible, erreichbare positive Zukunftsszenarien der nächsten paar Jahrzehnte erzählen. Sie basieren auf den Erkenntnissen der seriösen Zukunftsforschung, sind also technologisch machbar und unter der Annahme wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Interessen konsistent – das heißt, sie widersprechen nicht anderen naturwissenschaftlichen Gesetzen und gängigen Prognosen.
Willkommen im Jahr 2050!
Lasst uns ausschließlich einen Blick auf die guten Errungenschaften werfen.
1. Gesundheit
Seit der Entdeckung der Genschere CRISPR/Cas9 im Jahr 2013 ist es möglich, die genetische Struktur von Lebewesen zu verändern. Und wir wissen ja längst, dass viele Gesellschaftskrankheiten durch bestimmte Kombinationen bzw. Prädispositionen der Gene begünstigt werden. Die gute Nachricht ist also: Im globalen Norden gibt es 2050 kaum noch bekannte Fälle von Diabetes, Alzheimer-Demenz, Parkinson, multipler Sklerose und selbst Krebs tritt nur noch selten auf und verläuft fast nie tödlich!
Künstliche Organe liegen in großen Organdatenbanken bereit für den Fall, dass durch einen Unfall oder eine unvorhergesehene Krankheit die Leber, Lunge oder das Herz ersetzt werden muss. Diese Datenbanken werden von den Krankenkassen verwaltet – die Premiumvariante ist natürlich auch im Jahr 2050 den Superreichen vorbehalten. Sie lassen sich besonders leistungsfähige Organe anfertigen, die nicht nur dann ausgetauscht werden, wenn die erste Version nicht mehr funktioniert. Schönheits-OP 2.0, sozusagen. Nur das Gehirn konnte bislang nicht dupliziert werden, aber das ist vielleicht auch gut so.
Natürlich gibt’s trotzdem noch diverse weniger schlimme Krankheiten; Körper und Geist brauchen auch gelegentliche Erkältungen, zudem entstehen immer neue Viren und Bakterien. Aber auch dagegen gibt’s ein Wundermittel: Mithilfe von Quantencomputern und künstlicher Intelligenz werden für bestimmte Krankheitsbilder seit vielen Jahren individualisierte Arzneimittel hergestellt.
Tatsächlich hat das zwei erstaunliche Entwicklungen begünstigt. Das eine ist, dass Menschen heutzutage sehr viel gesünder altern. Viele Alterskrankheiten und Todesursachen sind schlicht nicht mehr nötig. Heute ist es keine Seltenheit mehr, dass 90-Jährige einen Marathon laufen oder als Nachhilfelehrer ihre Rente aufbessern. Das zweite ist, dass einige wenige Menschen weit über 100 Jahre alt werden. Das liegt daran, dass nicht nur die Krankheiten heilbar wurden, die sonst den Tod bedeutet haben, sondern auch erste Mittel zugelassen wurden, die den Alterungsprozess einfrieren oder sogar umkehren! Der älteste Mensch ist im Jahr 2050 stolze 140 Jahre alt und auf dem körperlichen und mentalen Stand wie ein 50-Jähriger. Das verleiht einigen gesellschaftlichen Konzepten eine völlig neue Bedeutung: Was kostet eine Lebensversicherung? Wann gehen wir in Rente? Wie lange muss ich zur Schule gehen, wenn ich danach noch über 100 Jahre arbeiten werde? Wer heiratet noch, wenn „bis dass der Tod uns scheidet“ kein Ablaufdatum mehr hat? Brauchen wir ein Enddatum, zu dem das Leben enden soll?
2. Mobilität
Das Wichtigste vorweg: Ja, es gibt Flugtaxis. Gab es ja zu eurer Zeit auch schon, zumindest in Dubai und einigen anderen Orten der Welt. Auch in Deutschland sind sie inzwischen angekommen und entlasten den Verkehr auf den Autobahnen und in Ballungsgebieten zunehmend. Der größte Vorteil ist gar nicht unbedingt die individuelle Mobilität, sondern dass man dafür kaum Infrastruktur braucht. Immerhin gab es zu eurer Zeit rund 600 stillgelegte Kleinflughäfen, die inzwischen als Mobility Hubs genutzt werden.
Aber natürlich besitzt man kein Flugtaxi für den Privatgebrauch, sondern man mietet sich eins – einen Flugschein braucht man dafür nicht, weil es komplett autonom von A nach B steuert. Keine Angst: Es herrscht kein Chaos am Himmel, denn wie es sich für Deutschland gehört, sind die erlaubten Korridore recht eingeschränkt.
Aber überhaupt ist der Privatbesitz eines Fahrzeugs, das kein Fahrrad ist, im Jahr 2050 eher eine Seltenheit. Es ist seit Jahren viel einfacher und günstiger, ein Fahrzeug für den aktuellen Nutzungszweck zu mieten, als mehrere Tonnen Metall zu kaufen, zu versichern und für dessen Unterhalt zu sorgen. Sehr merkwürdiges Konzept, das ihr zu eurer Zeit noch „normal“ nennt. Selbstfahrende Autos, wie ihr sie euch vorstellt, gibt es trotzdem in der Form noch sehr wenig – das liegt daran, dass die Städte dafür einfach nicht geeignet sind. Außerorts ist das natürlich was anderes.
Derweil ist das Streckennetz im Schienenverkehr deutlich gewachsen, sodass die überregionale Bahnmobilität deutlich angenehmer wurde. 100 Prozent Pünktlichkeit bekommen wir trotzdem noch nicht hin, das ist weiterhin Zukunftsmusik 😉
3. Künstliche Intelligenz
KI ist im Jahr 2050 so normal und allgegenwärtig wie zu eurer Zeit die Verwendung von Smartphones. Im Arbeitsalltag heißt das: Die meisten Erwerbstätigen haben einen KI-Kollegen, der sie bei fachlichen Fragen, bei der Einhaltung des Freizeitausgleichs und für sämtliche Korrespondenz unterstützt. Das heißt auch, dass alle jetzt einen persönlichen Coach zur Stelle haben, mit dem sie konzeptionelle Fragen durchspielen oder die Selbstverwirklichung vorantreiben können. Ähnlich wie die Sozialabgaben werden die Kosten für diese KIs über einen kleinen Gemeinwohlbeitrag vom Bruttolohn abgezogen.
Es gibt keine Unternehmen und öffentliche Einrichtungen mehr, in denen KI nicht Standard ist. Alle Organisationen, die sich zu eurer Zeit nicht mit KI beschäftigt haben, gibt es schlicht nicht mehr. In einer Übergangszeit waren also einige Menschen arbeitslos, haben sich aber dann mit den Möglichkeiten von KI befasst und dann eine neue Existenz aufgebaut. Eine 40-Stunden-Woche gibt es längst nicht mehr, klar arbeiten einige so viel oder auch mehr, aber nicht mehr nur in einem Job. Die meisten haben nämlich auch ein zweites Standbein in Form einer freiberuflichen Arbeit oder eines Kleingewerbes, mit dem sie ihren Traum verwirklichen und dabei trotzdem noch gutes Geld verdienen. Ob das nun ein Job im Metaverse oder eine eigene Gärtnerei ist, spielt dabei keine Rolle.
Eine der markantesten Entwicklungen ist die Verschmelzung von KI und Mensch. Es gibt einige wenige, die sich tatsächlich kleine Computerchips direkt ins Gehirn transplantieren lassen, um unmittelbar per Gedankenkraft mit der KI kommunizieren zu können.
Wäre das was für euch?
4. Nachhaltigkeit
Zwar sind viele Prognosen aus eurer Zeit in Bezug auf den Klimawandel leider eingetreten, doch vieles hat sich auch zum Guten gewendet. Durch massive Anstrengungen der internationalen Staatengemeinschaft und der Zivilgesellschaft hat sich die Biodiversität nahezu erholt. Das hatte auch damit zu tun, dass seit etwa 2030 die Massentierhaltung verboten wurde – einer der wichtigsten Emittenten von Treibhausgasen. Es gibt zwar noch Fleisch von echten, toten Tieren im Handel, doch das ist sehr teuer. Stattdessen wird es für 95 Prozent des Verbrauchs künstlich hergestellt und zwar genau dort, wo es auch verbraucht wird: Im Supermarkt, Restaurant, der Kantine, im Zug oder Flugzeug. Das ist übrigens auch viel gesünder für die Menschen, hat aber trotzdem eine Weile gedauert, bis sich die Ernährungskultur darauf eingestellt hat. Die Technologie dahinter war zu eurer Zeit längst erforscht, doch die preisliche Wettbewerbsfähigkeit brauchte noch ein paar Jahre. Irgendwann fand es dann die Mehrheit der Gesellschaft barbarisch, lebendige Tiere zu schlachten, um ein leckeres Steak zu essen – und das kommt schneller als einige von euch heute vielleicht noch denken.
Stichwort Wettbewerbsfähigkeit: Wir haben ein Energieproblem im Jahr 2050, aber nicht das, was ihr jetzt denkt… wir haben nicht zu wenig, sondern ZU VIEL ENERGIE! Das liegt daran, dass der Ausbau Erneuerbarer Energien aus Wind, Sonne und Wasser so rasend schnell ging, dass Haushalte und Gewerbeimmobilien sich inzwischen fast komplett selbst versorgen können. Dazu kommen aber noch zwei weitere, disruptive Faktoren: Erstens ist die Kernfusion, die ja seit 2022 erwiesenermaßen funktioniert, seit ein paar Jahren auch kommerziell interessant geworden. Deshalb haben die meisten Staaten Kernfusionsreaktoren, die nahezu unendlich viel Energie erzeugen können. Zweitens haben wir aber auch riesige Photovoltaikanlagen im Weltall, die Sonnenenergie direkt dort oben einsammeln und per Mikrowelle an Stationen auf der ganzen Welt und dem Mond senden – wir dürfen ja nicht unsere Mitmenschen auf Mond und Mars vergessen, die haben ja auch Bedürfnisse. Das heißt also: Wir haben Energie im Überfluss und „müssen“ uns immer wieder neu überlegen, wie wir noch mehr Strom verbrauchen können, damit die Energienetze nicht überlasten. Für die Großindustrie ist das natürlich etwas anders, aber mit dem vielen Strom gibt es seit wenigen Jahren ein globales Netz für grünen Wasserstoff und das funktioniert erstaunlich gut.
Ach ja, Müll gibt’s auch nicht mehr. Seit den 2030er Jahren ist es weltweit vorgeschrieben, dass Unternehmen für das Recycling und Upcycling ihrer Produkte verantwortlich sind. Das hat komplett den Anreiz zerstört, möglichst schnell möglichst viele Produkte herzustellen, die irgendwo auf der Welt gekauft, benutzt und entsorgt werden. Stattdessen leben wir inzwischen in einer echten Kreislaufwirtschaft, in der alle Gegenstände und selbst defekte Geräte als Rohstoff wieder aufgewertet werden können und müssen. Das Paradigma hat sich entsprechend von schnellem Konsum bzw. schnellen Gewinnen gewandelt zu hochwertigen, langlebigen und problemlösenden Erzeugnissen. Dadurch sind auch viele Länder des globalen Südens immer schneller wirtschaftlich vorangekommen – seit das Energieproblem kein Problem mehr ist, haben sich die Währungen stabilisiert, Inflation ist überall moderat und es entstand vielerorts eine kreative, sehr facettenreiche neue Ökonomie. Das Zeitalter des Turbokapitalismus wurde abgelöst von einer für alle Lebewesen und Ökosysteme gewinnbringenden Form des Postkapitalismus. Ich meine nicht die Hippie- oder Trotzki-Version, sondern einen Kapitalismus, der andere Währungen kennt als Geld, nämlich das Gemeinwohl von Menschen überall auf dem Planeten und der Natur.
Zurück ins Jahr 2024.
Ich wette, dass diese Ausführungen einigen von euch im wahrsten Sinne fantastisch vorkommen – also basierend auf Fantasie. Doch hinter jedem einzelnen stecken nennenswerte Stränge in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Dieses Jahr erscheinen unter anderem drei Sammelbände von mir, die einige der genannten Themen unterfüttern – und ein Handbuch für KI in Unternehmen namens „KI jetzt!“.
Nach vielen Jahren und hunderten Mandaten im Kontext der seriösen Zukunftsforschung bin ich überzeugt: Wir sollten öfter über unsere positiven Zukunftsbilder sprechen. Und auch darüber streiten. Denn es ist ja offensichtlich, dass mein Blick in die Zukunft ein anderer ist als der meiner Nachbarin oder eines Kindes, das gerade in Lagos aufwächst. Doch wir werden uns und unsere Welt nicht retten, wenn wir nur über die Schattenseiten sprechen. Lasst uns häufiger und strukturierter über schöne Zukünfte sprechen.
Dann klappt’s auch mit der Angst, das verspreche ich euch.
Vielen Dank fürs Zuhören!
Foto von Etienne Girardet auf Unsplash
Wo stehen wir 2035?
Das Jahr 2035 mag uns heute noch fern erscheinen, doch in einer Welt, die von rasantem technologischem Fortschritt, gesellschaftlichem Wandel und globalen Herausforderungen geprägt ist, ist es wichtig, unsere Zukunft zu beleuchten. Drei fiktive Geschichten aus Deutschland sollen uns helfen, eine Vorstellung davon zu entwickeln, wie unsere Welt in zwölf Jahren aussehen könnte. Diese Geschichten basieren auf aktuellen Erkenntnissen der Zukunftsforschung und sind eingebettet in plausible Szenarien, die auf realen Trends und wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen. Sie geben uns nicht nur einen Einblick in das Jahr 2035, sondern werfen auch einen Blick auf das Jahr 2050, um die langfristigen Auswirkungen heutiger Entwicklungen zu verstehen.
Leo (23) aus Berlin im März 2035
An diesem sonnigen Frühlingstag können wir noch ohne Sonnenschirm und Sonnencreme mit Lichtschutzfaktor 80 aus dem Haus gehen. Doch die Spuren der vergangenen Sturzfluten und Dürreperioden sind allgegenwärtig. Trotz aller Vorbereitungen hat der letzte Jahrhundertsommer viel zerstört und zu viele Menschen durch Hitze und Überschwemmungen getötet. Einige Regionen haben bereits drastische Schutzmaßnahmen ergriffen.
Die Wohnraumbeschränkung zwingt Leos Familie zum Zusammenleben. Als Erzieher kümmert er sich vormittags um seine Nichten und Neffen, denn Schulen gibt es nicht mehr. Nachmittags und oft auch nachts arbeitet er in verschiedenen Pflege- und Rettungsdiensten, wo eine künstliche Intelligenz die Jobs verteilt. Die Automatisierung hat den Arbeitsmarkt längst verändert, und der Traum von einer Karriere in großen Konzernen hat seinen Reiz verloren. Die Welt hat eine zweite Pandemie erlebt, die auf den Eingriff des Menschen in die Natur zurückzuführen ist. Diese Pandemie breitete sich aufgrund steigender Temperaturen und invasiver Arten rasch aus. Das führte zu einer Verlagerung der globalen Produktion hin zu regionalen Versorgungsketten. In Berlin wächst Gemüse auf Dächern und in Kellern neben synthetischem Fleisch. Grundnahrungsmittel sind umsonst und subventionierte Pauschalmieten in vielen Städten üblich.
Zum Glück ist vieles endlich auf dem richtigen Klimapfad, auch global gesehen. Es wird zwar noch einige Jahre dauern, bis wir uns an die Wetterextreme gewöhnt haben, aber einige Horrorszenarien der 2020er Jahre werden wohl nicht eintreten. Immerhin geht die Emissionskurve bis 2050 im globalen Saldo gegen Null - ganz ohne Greenwashing-Zertifikate, sondern durch einen echten CO2-Preis und Verbote bestimmter Technologien, die auf Kohle und Öl basieren. Auch die Biodiversität erholt sich langsam, was das Risiko neuer Pandemien bereits reduziert.
Stef (35) aus Frankfurt am Main
Nach einem raschen Aufstieg in der Bankenwelt mit schickem Auto, Wohnung und ständigen Reisen nach London und New York erkannte Stef die Leere im Hamsterrad und verlor den Blick für das große Ganze. Wenige Jahre später, fast ein Jahrhundert nach dem "Schwarzen Donnerstag", erlebte die Welt erneut einen Finanzcrash, der die globalen Märkte und Demokratien erschütterte. Banken schlossen, Spekulation wurde verboten und die erste KI-Blase platzte.
In dieser schweren Krise hatte die EU glücklicherweise umfassende Pläne in der Schublade. Als in Teilen Deutschlands Panik ausbrach und erste Anzeichen von Unruhen sichtbar wurden, griffen die Notstandsgesetze und ermöglichten schnelles Handeln. Banken und Versicherungen wurden über Nacht verstaatlicht, ihre automatisierten Prozesse minimierten den Bedarf an menschlicher Arbeit erheblich. Energieprobleme blieben weitgehend aus, da sich die meisten Haushalte aus eigenen erneuerbaren Quellen mit Strom versorgten und die letzten verbliebenen Kraftwerke in Betrieb blieben - nur im Winter gab es vereinzelte Ausfälle.
Parallel dazu lief ein ehrgeiziges Umschulungsprogramm für fast zehn Millionen Beschäftigte in den betroffenen Branchen. Zudem erhielten Bürgerinnen und Bürger ein bedingungsloses Grundeinkommen, sofern ihr Vermögen eine Million nicht überstieg. Auch Stef profitierte davon und konnte ihre ursprüngliche Leidenschaft für die Raumfahrt wiederentdecken, nachdem sie sich für eine Karriere im Bankwesen entschieden hatte. Jetzt steht sie kurz vor ihrem ersten Einsatz im Orbit, um für die ESA Solarmodule zu montieren und Marsmissionen vorzubereiten. Energie bleibt der Schlüssel für die Zukunft, nicht nur auf der Erde, sondern auch für künftige Weltraumkolonien.
Eli (48) aus Wacken
Vor gut fünf Jahren kamen Eli und sein Sohn nach Deutschland. Sie hatten nichts mehr. Das letzte Geld war im Flüchtlingslager aufgebraucht. Auf ihrer Odyssee durch verschiedene Länder hatten sie bereits alles verloren: ihre Frau und Mutter, ihre Kinder und Geschwister, ihre Würde und ihre Hoffnung.
Noch im Jahr ihrer Ankunft erlebten Deutschland und Mitteleuropa eine beispiellose Migration in unterschiedliche Richtungen, die heute als "Große Wanderung" bezeichnet wird. Es war nicht nur die größte Völkerwanderung der Geschichte, auch die sozialen und wirtschaftlichen Systeme gerieten an ihre Grenzen, nachdem die ökologischen Systeme zusammengebrochen waren. Als sie ihre Flucht antraten, lebte Deutschland noch in Wohlstand, die Demokratie war stabil und die Zukunft schien berechenbar. Der Börsencrash im Jahr 2029 hat diese Sicherheit zerstört, aber das haben sie erst auf einer Mittelmeerinsel im Flüchtlingslager erfahren.
Erstaunlicherweise funktionierte vieles gut. Eli hatte Medizin studiert und in seiner Heimat jahrelang in Kliniken gearbeitet, bis diese der Hitze und den Bomben zum Opfer fielen. Hier in Deutschland konnte er nach einem Sprachkurs, den seine neuen Nachbarn organisiert hatten, seine Qualifikation schnell anerkennen lassen und sich in das wiederaufgebaute Gesundheitssystem integrieren. Sein Sohn hat inzwischen den Meisterbrief als Koch, worauf Eli sehr stolz ist. Früher war Koch ein unbeliebter Beruf, heute wollen ihn viele, obwohl es nur wenige Ausbildungsplätze gibt.
Das Beste an der "Großen Bewegung" ist, dass ein regelrechter Bauboom für regenerative Häuser und Energienetze eingesetzt hat - weltweit. Armut ist selten geworden, und trotz des Verlustes vieler Arbeitsplätze in verschiedenen Branchen gibt es in den meisten Ländern erstaunlich wenig Probleme. Es herrscht Aufbruchstimmung, die Menschheit ist auf dem Weg in ein regeneratives Zeitalter. Selbst in der Medizin zeigt sich, dass die Menschen länger gesund leben, manche sogar biologisch jünger werden. All dies wäre ohne die technologischen Durchbrüche der 2010er Jahre und die Einhaltung des Moratoriums für die funktionelle Genmanipulation nicht möglich gewesen. Die Menschheit steht vor einer vielversprechenden Blütezeit; zusammen statt gegeneinander.
Die Notwendigkeit menschlicher Kernkompetenzen in einer sich wandelnden Welt
Die vorliegenden drei Kurzgeschichten bieten einerseits faszinierende Einblicke in mögliche Szenarien für das Jahr 2035, andererseits tauchen sie ein in die vielschichtige Welt komplexer Zukunftsvisionen, die auf einer durchdachten Entwicklungslinie von der Gegenwart im Jahr 2023 ausgehen. Diese Geschichten enthalten Elemente, die bereits heute als mehr oder weniger sicher gelten: Der bevorstehende Renteneintritt der Babyboomer-Generation, der Wechsel der Generation Z in Führungspositionen und die zunehmenden Auswirkungen des spürbaren Klimawandels sowie die Zunahme von Wetterextremen, die schon heute in Deutschland zu schweren Notlagen führen und ganze Landstriche unbewohnbar machen können.
Die anthropogene Beschleunigung des Klimawandels ist bereits heute hinreichend erforscht und lässt erhebliche Veränderungen bis 2035 erwarten. Die These unterstreicht jedoch, dass es möglicherweise eines weiteren disruptiven Elements, vergleichbar mit der Corona-Pandemie, bedarf, um die globalen Entscheidungsträger zu drastischen und raschen Maßnahmen zu bewegen. Dieser Weg wird nicht ohne Widerstand sein und viele Millionen Menschen weltweit könnten ihren Arbeitsplatz verlieren. Dies geht über die Automatisierung von Tätigkeiten hinaus und stellt eine zusätzliche Herausforderung dar.
Im Zuge dieser Veränderungen werden menschliche Kernkompetenzen immer wichtiger. Es reicht nicht mehr aus, sich nur Wissen anzueignen. Vielmehr wird es entscheidend, komplexe Zusammenhänge zu verstehen und die interpersonalen Kompetenzen gewinnbringend auszubilden. Ebenso ist die Fähigkeit, langfristig zu denken und proaktiv zu handeln, anstatt nur auf akute Entwicklungen zu reagieren, von entscheidender Bedeutung. Es liegt an uns, diese Herausforderungen anzunehmen und gemeinsam in die Zukunft zu blicken.
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Zukünfte denken mit intertemporaler Intelligenz
Ich werde häufig gefragt, welche Fähigkeiten mich als Zukunftsforscher auszeichnen, um Zukünfte denken und darin Gestaltungsräume entdecken zu können. Die Antwort darauf ist einerseits genauso kompliziert wie im Falle eines Maurers, der Rechtsanwältin oder in der Quantenphysik. In allen Berufen sind unterschiedliche Kombinationen der grundlegenden Fertigkeiten und Fähigkeiten nötig, um darin mindestens „gut“ zu werden. Das heißt: Jeder Job hat eine bestimmte Mischung aus angeborenen und sozialisierten Fähigkeiten mit den Fertigkeiten, die in der Lehre, dem Studium und beruflichen Laufbahn zu erwerben sind.
Andererseits fiel mir im Laufe der letzten Jahre zunehmend auf, dass da doch ein Element ist, das meinen Berufsstand prägt: Die intertemporale Intelligenz. Um das genauer zu erklären, muss ich erst etwas ausholen.
20 Arten der Intelligenz
Immerhin verfügen wir – je nach Lesart – über unterschiedliche Ausprägungen von Intelligenz in bis zu 20 Arten. Einige davon sind wissenschaftlich seit Langem bekannt, einige ergänzen sich gegenseitig, manche lesen sich fast synonym. Doch meiner Ansicht nach lohnt sich ein genauer Blick auf die feinen Unterschiede.
- Sprachliche oder linguistische Intelligenz: Wie gut verstehe, spreche, lese und schreibe ich meine Muttersprache; bin ich außerdem fähig, andere Sprachen zu lernen?
- Logisch-mathematische Intelligenz: Wie gut kann ich rechnen und logisch Elemente kombinieren? Diese Intelligenzart wird am häufigsten in klassischen IQ-Tests abgefragt und wird damit oft mit „Intelligenz“ gleichgesetzt, was natürlich falsch ist; sie ist jedoch ein wichtiger Bestandteil, um sich in der modernen Zivilisation zurechtzufinden.
- Räumlich-bildliche Intelligenz: Kann ich Gegenstände in realen oder virtuellen Räumen korrekt verorten und neu kombinieren?
- Kognitive Intelligenz: Im Prinzip handelt es sich hierbei um den Kitt zwischen den anderen Formen der Intelligenz; wie gut bin ich in der Lage, Aufgaben zu lösen und gedanklich fiktive Erkenntniszustände zu durchlaufen, bevor ich in Aktion trete?
- Intrapersonale Intelligenz: Wie reflektiert bin ich? Denke ich über meine eigenen Denkmuster und Motive, meine Taten in der Vergangenheit nach und bin ich dazu noch in der Lage, meine Gefühle und Emotionen zu regulieren?
- Interpersonale Intelligenz: Hier spielt vor allem die Empathie eine Rolle: Kann ich mich in andere Personen hineinversetzen, höre ich anderen zu? Kann ich in Konflikten vermitteln?
- Naturalistische Intelligenz: Kann ich mich, neben Menschen, auch in Tiere, Pflanzen und andere Naturphänomene hineinversetzen? Interessiere ich mich dafür, wie es der Natur geht?
- Emotionale Intelligenz: Ähnlich wie die intrapersonale Intelligenz geht es hier um die Fähigkeit, Emotionen wahrzunehmen – und auch beeinflussen zu können. Die emotionale Intelligenz ist das nötige Bindemittel für intra- und interpersonale Intelligenz und als EQ (emotionaler Quotient) hoch im Kurs.
- Soziale Intelligenz: Hier haben wir es wieder mit einer Mischform unterschiedlicher Intelligenzarten zu tun und ich würde noch ergänzen, nicht bloß in Kleingruppen intelligent Stimmungen erkennen und beeinflussen zu können, sondern dies auch auf größere Gruppen und Gesellschaften anwenden zu können.
- Spirituelle Intelligenz: Warum bin ich hier? Auf diese Frage gibt es keine befriedigende Antwort, dennoch suchen einige Glaubensrichtungen oder philosophische Denkschulen seit Jahrtausenden danach. Doch räume ich dieser Frage bewusst Raum und Zeit im Leben ein? Dann bin ich wohl spirituell intelligent – das geht auch ohne Bibel oder Räucherstäbchen.
- Musikalische Intelligenz: Habe ich einen Zugang zu Melodie, Takt, Rhythmus, Harmonie oder auch Disharmonie? Erklärt sich wohl von selbst. Interessant ist, dass Menschen mit ausgeprägter musikalischer Intelligenz in der Regel auch besser andere Sprachen oder Dialekte verstehen.
- Körperlich-kinästhetische Intelligenz: Bewege ich mich gern und sowohl kontrolliert als auch frei?
- Kreative Intelligenz: Bin ich in der Lage oder reizt es mich, kreativ, also gestaltend, auf Probleme zu reagieren, die mich oder andere beschäftigen?
- Physische Intelligenz: Achte ich auf meinen Körper, auf gute Ernährung, auf genügend Schlaf und Erholungsphasen?
- Praktische Intelligenz: Die HR-Abteilung nennt das „stilles Wissen“, andere vielleicht gesunden Menschenverstand. Es geht darum, alltägliche, praktische Herausforderungen eigenständig meistern zu können.
- Professionelle Intelligenz: Hier handelt es sich wieder um eine Mischform verschiedener anderer Intelligenzarten, die je nach Einsatzzweck variieren können. Während der o. g. Maurer vielleicht vor allem die Mischung aus 2+3+12+13+15 benötigt, ist es bei der Rechtsanwältin möglicherweise eher 1+2+4+6+9+13. Die Quantenphysik habe ich selbst nicht studiert und vermute, dass die dortigen Expert:innen über sämtliche (und keine, s. #schroedingerskatze) Formen der Intelligenz verfügen müssen.
- Vitale Intelligenz: Diese Intelligenzart ist eine Verwandte der sozialen Intelligenz und wird von unserer Quelle (s. u.) auch als machiavellische Intelligenz bezeichnet. Es geht darum, wie ich mich in sozialen Situationen verhalte und meine Interessen durchsetze – also ein eher ich-bezogener Blick auf die Intelligenz in Gruppen.
- Mentale Intelligenz: Diese Form, die auch metakognitive Intelligenz genannt wird, bezieht sich auf die Fähigkeit, unterschiedliche Anteile äußerer und innerer Phänomene miteinander gewinnbringend in Einklang bringen zu können. Achte ich bspw. auf den Ausgleich meiner unterschiedlichen Stärken und Schwächen, sehe ich in Veränderungen sowohl Risiken als auch Chancen?
- Kristalline Intelligenz: Kann ich gut planen, organisieren, koordinieren? Dann ist mir das vermutlich nicht in die Wiege gefallen, sondern ich habe in meinem Leben gelernt, mit komplexen Situationen umzugehen, aus Fehlern zu lernen.
- Fluide Intelligenz: Wie hoch ist meine Auffassungsgabe, kann ich gut viele Informationen aufnehmen und verarbeiten sowie priorisieren? Dann hatte ich wohl einfach Glück beim Gen-Lotto, denn dieser Anteil ist im Wesentlichen angeboren und kann später kaum nennenswert verändert werden.
Liste von https://open-mind-akademie.de/intelligenzformen/ (Zugriff am 28.07.2023)
Die 21. Art der Intelligenz: Intertemporale Intelligenz
Die ersten 20 Arten der Intelligenz klingen wahnsinnig schlüssig vor dem Hintergrund, dass wir es in knapp über 300.000 Jahren vom Menschenaffen zum postindustriellen, digitalen Menschen geschafft haben. Die meisten der oben skizzierten Intelligenzarten entstanden in diesem Zeitraum und wurden von den Anforderungen der modernen Zivilisation geprägt.
Meine These ist, dass wir im Übergang zum 21. Jahrhundert jedoch eine neue Intelligenzart ausgeprägt haben. Angetrieben durch den Bevölkerungsboom zwischen 1800 und 2000 (von einer auf sechs Milliarden Menschen, während es von null auf eine Milliarde gut 300.000 Jahre dauerte) wuchsen nämlich die Herausforderungen, mit denen sich die Menschen konfrontiert sahen. Zunehmende Komplexität auf der einen Seite, zunehmende Einflussmöglichkeiten der Menschheit auf sich selbst und die Umwelt auf der anderen, erfordern mehr denn je die Fähigkeit oder Fertigkeit – das wird sich noch zeigen –, Entwicklungen, Motive, Entscheidungen und Ereignisse hinsichtlich ihrer Zeitlichkeit einordnen zu können. Anders ausgedrückt: Der Teil unseres Gehirns, der sich ums aktuelle Überleben kümmern muss, verliert in modernen Zivilisationen (besonders in Sozialstaaten) an Bedeutung, der Teil, der sich um die langfristigen Existenzgrundlagen kümmert, gewinnt hinzu.
Während also einige Menschen zum Beispiel komplexe Klimawandelphänomene wie die nachlassende Atlantikzirkulation oder Temperaturanstiege kognitiv nicht verarbeiten können und hinter jeder neuen Nachhaltigkeitsstrategie eine Verschwörung wittern, kümmern sich andere darum, die Lebensgrundlagen aller Lebewesen in ihrem Einflussbereich zu verbessern. Das tun sie selten in der Gewissheit, dass sie selbst davon noch profitieren werden, sie denken und handeln dabei maßgeblich in die Zukunft mehrerer Generationen gerichtet – oft unabhängig von kurzfristigen Vorteilen.
Intertemporale Intelligenz stärken
Jetzt steht natürlich die Frage im Raum, wie intertemporale Intelligenz gestärkt oder bestärkt werden kann. Darauf habe ich (noch) keine wissenschaftlich fundierte Antwort, sehr wohl aber Beobachtungen aus meinem Umfeld. Immerhin kenne ich dutzende, wenn nicht hunderte Zukunftsforschende und habe mir in den letzten Monaten Gedanken gemacht, was die Grundlage der intertemporalen Intelligenz sein könnte. Außerdem entwickeln wir mit meinem Zukunftsinstitut PROFORE Kurse, um Entscheidungsträgern in Wirtschaft und Verwaltung auf dem Weg in fundierte Zukunftsentscheidungen zu helfen.
Ein wichtiges Element der intertemporalen Intelligenz beschreiben Hans Rosling et al. in ihrem Meisterwerk „Factfulness“ (2018) – zentral dafür ist die Fähigkeit, Fakten von Meinungen zu unterscheiden und gute Entscheidungen zu treffen. Denn dazu gehört die essenzielle, damit verwandte Fähigkeit, sich selbst vom aktuellen Geschehen zu distanzieren, erst möglichst viele Fakten aufzutreiben und sich erst dann ein eigenes Urteil zu bilden. Oder wie Sokrates gesagt haben soll:
„Wenn du etwas weitersagen willst, so seihe es zuvor durch drei Siebe: Das Erste lässt nur das Wahre hindurch, das Zweite lässt nur das Gute hindurch, und das Dritte lässt nur das Notwendigste hindurch. Was durch alle drei Siebe hindurchging, das magst du weitersagen.“
Sokrates
Das Ganze nun noch in Bezug auf die Zeit. Ist die Entscheidung oder das Ereignis, über das ich gerade urteile, in der Gegenwart oder sehr nahen Zukunft relevant oder spielen sich dessen Auswirkungen eigentlich erst in der mittleren oder fernen Zukunft ab? Wo habe ich blinde Flecken, wo muss ich noch recherchieren, welche Quellen nutze ich dafür – und das Ganze bitte möglichst schnell? Es wird schnell deutlich, dass eine bunte Mischung der oben genannten 20 Intelligenzarten nötig ist als Fundament für die 21., die intertemporale Intelligenz.
Leider scheint die intertemporale Intelligenz nicht besonders ausgeprägt zu sein, schließlich erfordern die Handlungslogiken in den meisten Systemen sie nicht. Das ist auch logisch, denn unsere Organisationen, Institutionen und Regelwerke stammen ja aus der Vergangenheit, nicht aus der Zukunft. Ich hätte mir beispielsweise sehr viel mehr intertemporale Intelligenz in der Debatte um die Wärmepumpen oder vielen ähnlich gelagerten politischen öffentlichen Diskussionen rund um Nachhaltigkeit gewünscht.
Wie wir also dahinkommen: Indem wir möglichst oft über unterschiedliche, idealerweise zukünftige Zeitebenen nachdenken. Wir reden in der Zukunftsforschung von plausiblen Zukünften oder Projektionen, anstatt nur über fiktive Zustände zu sprechen. Unser Gehirn ist wie ein Muskel und je eher wir daran gewöhnt sind, in verschiedenen Facetten möglicher Zukünfte zu denken, umso eher steigt die Wahrscheinlichkeit, dass wir neue Informationen auf dem vor uns liegenden Zeitstrahl (oder -trichter) einsortieren können.
Fazit
Für mich als Zukunftsforscher ist die intertemporale Intelligenz vermutlich das, was die Fingerfertigkeit und kreative Lösungsfindung des Maurers, das Vermittlungsgeschick für die Rechtsanwältin ist. Sie umfasst aus meiner Sicht die wichtigsten Attribute anderer Intelligenzarten und ist natürlich grundsätzlich ethisch geprägt – allein die Fähigkeit zur Projektion unterschiedlicher Zukünfte heißt noch nicht, dass ich im Sinne anderer Menschen handle. Die Ausprägung intertemporaler Intelligenz ist also eine Mammutaufgabe, die ich mir vorgenommen habe mit all meinen Veröffentlichungen im Heute und Morgen.
Nach meiner Recherche habe ich im Übrigen keine Anzeichen dafür gefunden, dass diese Form der Intelligenz bereits benannt wurde. Möglicherweise gibt es hierzu eines Tages eine tiefgründigere Veröffentlichung aus meiner Feder – aber wer weiß das schon? 😉
Update 06.09.2023: Rund um dieses Thema in Bezug auf die Klimadebatte habe ich einen Gastbeitrag für FOCUS Online Earth geschrieben, der gestern veröffentlicht wurde.
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Wetterextreme und die Lösung der Klimakrise
Der Juli dieses Jahres war der heißeste jemals auf der Erde gemessene Monat; auf allen Kontinenten beobachten wir verheerende Brände, Überflutungen und Dürren. Lässt sich die Klimakatastrophe noch verhindern? Hier gibt’s die wissenschaftliche Problemlage sowie einen Lösungsvorschlag.
Wetterextreme im Sommer 2023 und politische Beben
Wer nicht unmittelbar betroffen war, musste nur eine beliebige Nachrichtensendung, -seite oder Zeitung konsultieren – der Newsflash wirkte wie ein dramatischer Zusammenschnitt in einem Katastrophenfilm. Manch eine:r fühlt sich nicht grundlos an die biblischen Plagen erinnert, wenn in Süddeutschland Ochsenfrösche zum Abschuss freigegeben werden, die nächste (gefährliche) Covid-Mutation auftaucht, Tausende in die Flucht getrieben werden (sogar in Norwegen!) und Urlaub am Mittelmeer lebensbedrohlich wird. Inzwischen ist bei den Wetterextremen und auch der Verbreitung von Viren gut erforscht, wie eng der Zusammenhang mit dem anthropogenen Klimawandel ist. Wetter heißt nicht gleich Klima, doch das über einen längeren Zeitraum extremer werdende Wetter fällt per Definition ins den Klimabereich.
Außerdem: Der russische Angriffskrieg in der Ukraine wird nicht der einzige Klimakrieg dieses Jahrzehnts bleiben, das Säbelrasseln in Nordkorea, China und diversen sogenannten Schwellen- und Entwicklungsländern im globalen Süden erreicht nicht nur rhetorisch im Wochentakt neue Eskalationsebenen (z. B. kürzlich im Niger und Ecuador). Zeitgleich sprießen weltweit auch in sogenannten Industrieländern des globalen Nordens populistische und faschistische Parteien aus dem Boden wie Atompilze nach einem Super-GAU: Sie verstrahlen die verunsicherten Menschen mit vorgeblich einfachen Lösungen für komplexe Herausforderungen und Probleme, deren Grundrezept aus Hass und Ignoranz besteht; sie kontaminieren die Anstrengungen diverser Parteien und Nichtregierungsorganisationen für eine freiheitlich demokratische und gleichberechtigte Welt. Immerhin scheint sich in den USA der Rechtsstaat endlich gegen den Ex-Präsidenten und dessen Gefolgschaft im Zusammenhang mit der Verschwörung zu wehren – hierzulande schreckt das Establishment noch vor einem Verbotsverfahren rechtsradikaler Parteien wie der AfD oder NPD zurück. Ich hoffe, nicht mehr lang.
Was sagt die Wissenschaft dazu?
Zur Beantwortung dieser Frage habe ich mir die drei Teile von „Die Grenzen des Wachstums“ von Dennis und Donella Meadows et al. zur Hand genommen. Die Reihe ist besser bekannt als die Berichte des Club of Rome zur Lage der Menschheit. Ich nenne sie auch gern die erste gesellschaftlich wertvolle Zukunftsstudie aller Zeiten, die nicht nur Technologien prognostizierte, sondern eben komplexe Zusammenhänge untersuchte und modellierte – größtenteils erstaunlich akkurat.
Die enger werdenden Grenzen des Wachstums
Vor 51 Jahren erschien der erste Teil von „Die Grenzen des Wachstums“, 20 Jahre später dann die Neuauflage „Die neuen Grenzen des Wachstums“ und 2004 schließlich „Grenzen des Wachstums – das 30-Jahre-Update“. 2022 wiederum schrieb die Bundeszentrale für politische Bildung eine schöne Rückschau „50 Jahre Grenzen des Wachstums“. Darin wird vor allem die eklatante Wissenschaftsignoranz der Menschheit deutlich, denn spätestens seit der ersten Veröffentlichung wussten „wir“, dass Emissionen durch das Verbrennen von Öl, Gas oder Holz das Klima nachhaltig beeinträchtigt. Der Earth Overshoot Day, an dem die natürlichen Ressourcen des Planeten eigentlich aufgebraucht sind, war damals noch am 19. Dezember – in diesem Jahr fiel er bereits auf den 2. August. Würden alle Staaten so wie Deutschland leben, wäre er schon am 5. April.
Zwar entstanden infolge der Veröffentlichungen weltweit „grüne“ Parteien, die den Umweltschutz auf die politische Agenda brachten; zwar wurden weltweit Flurchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) verboten, woraufhin das Ozonloch endlich schrumpfe und man sich wieder sorgloser in die Sonne begeben konnte; zwar wurden In vielen anschließenden Klimakonferenzen unverbindliche Klimaziele vereinbart (Kyoto-Protokoll, Paris Agreement, etc.) – doch der globale Ausstoß von klimaschädlichen Treibhausgasen wie Kohlendioxid, Methan oder Lachgas geht fröhlich weiter.
Zu den häufiger werdenden Extremwetterereignissen gesellen sich fast nebenbei jährliche Temperaturrekorden, Negativrekorde in der Biodiversität, den Eisschilden in der Antarktis und Grönland, dem Regenwaldbestand im Amazonas und dem Kongo und der weltweit sinkende Grundwasserspiegel. Damit verbunden rücken einige Klima-Kipppunkte näher, die ökologische Dominoeffekte auslösen könnten – leider keine von der unterhaltsamen Sorte. Aktuell wird unter anderem wieder der Kollaps des Golfstroms diskutiert, welcher zu einem Temperaturabsturz in Europa führen könnte. Fast schon zynisch wirkt hingegen der übertrieben unsinnige und unmenschliche Prunkbau des saudi-arabischen Kronprinzen mit der Wüstenstadt Neom.
Der Konsens der weltweiten Klimaforschung
Aber es ist ja nicht so, als gäbe es keine Einigkeit in der Klimawissenschaft hinsichtlich der Ursachen sowie möglichen Lösungsansätzen. Das Intergovernmental Panel on Climate Change, kurz IPCC, auch bekannt als Weltklimarat, veröffentlicht regelmäßig Sachstandsberichte (und häufiger Sonderberichte). Im 6. IPCC-Sachstandsbericht aus diesem Jahr wurden erneut die Kernaussagen tausender Klimawissenschaftler:innen weltweit versammelt rund um Ökosysteme, Geologie, etc. Und nein, hinter dem IPCC steckt kein großer Plan einer neuen Weltordnung oder anderer rechtsradikaler Unfug.
Die Kernaussagen umfassen folgende Rubriken:
A. Aktueller Stand und Trends
B. Künftiger Klimawandel, Risiken und langfristige Reaktionen
C. Kurzfristige Maßnahmen
Hier meine kompakte und übersetzte Zusammenfassung:
A. Aktueller Stand und Trends
„A. 1 Menschliche Aktivitäten, vor allem durch die Emission von Treibhausgasen, haben zweifellos die globale Erwärmung verursacht, wobei die globale Oberflächentemperatur im Zeitraum 2011-2020 um 1,1°C über dem Wert von 1850-1900 im Zeitraum 2011-2020 lag. Die globalen Treibhausgasemissionen haben weiter zugenommen, wobei ungleiche Beiträge […] in den verschiedenen Regionen, zwischen und innerhalb von Ländern und zwischen Einzelpersonen variieren.“
Falls also Populisten wie Aiwanger, Söder, AfD-Gläubiger und Co. etwas davon faseln, man sei sich nicht einig in der Wissenschaft hinsichtlich des menschlichen Einflusses auf den Klimawandel: DOCH, es herrscht beispiellose Einigkeit. Die Menschheit verändert das Klima. Keine Meinung, sondern wissenschaftliche Fakten. Keine Diskussion.
„A. 2 Weitreichende und rasche Veränderungen in der Atmosphäre, den Ozeanen, der Kryosphäre und der Biosphäre sind eingetreten. Der vom Menschen verursachte Klimawandel wirkt sich bereits auf viele Wetter- und Klimaextreme in allen Regionen der Welt aus (…). Anfällige Gemeinschaften, die in der Vergangenheit am wenigsten zum aktuellen Klimawandel beigetragen haben, sind unverhältnismäßig stark betroffen."
Unser angeblicher Humanismus ist nach wie vor auf bestimmte Bevölkerungsgruppen beschränkt. Die angeblich christliche Nächstenliebe hört immer noch an der Religionsgrenze auf. Wir haben in über 2000 Jahren „Zivilisation“ wirklich nicht viel gelernt – und jetzt, wo es auch in Europa langsam unbequem wird, kommen wir langsam ins Grübeln. Das hat mit Moral wenig zu tun, sondern ist wie immer nur mit einem: Egoismus.
„A. 3 Die Planung und Umsetzung von Anpassungsmaßnahmen ist in allen Sektoren und Regionen fortgeschritten, mit dokumentiertem Nutzen und unterschiedlicher Wirksamkeit. (…) Die derzeitigen globalen Finanzströme für die Anpassung sind unzureichend und schränken die Umsetzung von Anpassungsoptionen ein, insbesondere in Entwicklungsländern.“
Anpassungen an ökologische Veränderungen sind nichts Neues. In kälteren Zeiten bauten die Menschen dickere Mauern und dichtere Dächer, als das Meer phasenweise die Kohlfelder überflutete, bauten sie höhere Deiche (und Kooge). Doch die Geschwindigkeit der Veränderungen hat zugenommen, weshalb besonders Menschen in ärmeren Regionen nicht schnell genug hinterherkommen. Und ja, auch hier müssen wir langfristig denken – anstatt über Wärmepumpen zu meckern, sollten wir uns freuen, dass das Thema nicht erst in zehn Jahren kommt, wenn es schon zu spät sein könnte. Dass es überhaupt öffentliche Förderungen und weltweite Darlehensprogramme gibt, ist doch fantastisch. Diese Programme müssen jedoch noch stärker als sonst im Sinne einer globalen Entwicklungshilfe zielgerichteter und mit geringeren Auflagen verteilt werden, um schnellen Wandel zu ermöglichen, auch im Sinne der immer noch ausstehenden Reparationen für koloniale Verbrechen.
„A. 4 Politische Maßnahmen und Gesetze, die sich mit der Abschwächung von Treibhausgasemissionen befassen, wurden seit dem 5. Sachstandsbericht ständig erweitert. Es ist wahrscheinlich, dass die Erwärmung im Laufe des 21. Jahrhunderts 1,5°C überschreitet und es schwieriger wird, die Erwärmung auf unter 2°C zu begrenzen.“
Konsens ist also auch, dass das 1,5°C-Ziel kaum noch erreicht werden kann, in Deutschland wurde es schon überschritten. Das heißt unter anderem, dass besonders Ältere und chronisch Kranke schon jetzt ein höheres klimawandelinduziertes Sterberisiko aufweisen. Immerhin eine wachsende, politisch hochgradig relevante Bevölkerungsgruppe.
B. Künftiger Klimawandel, Risiken und langfristige Reaktionen
„B. 1 Für jedes beliebige künftige Erwärmungsniveau sind viele klimabezogene Risiken höher als im 5. Sachstandsbericht bewertet worden, und die prognostizierten langfristigen Auswirkungen sind bis zu einem Vielfachen höher als die derzeit beobachteten. (…) Klimatische und nicht-klimatische Risiken werden zunehmend interagieren und zu kombinierten und kaskadierenden Risiken, die komplexer und schwieriger zu handhaben sind.“
Es wird ungemütlicher. Hier sollten besonders Versicherungsunternehmen die Details studieren. Kein mathematisches Underwriting-Modell der letzten Jahrzehnte ist jetzt noch aktuell – besonders nicht für Sachschäden. Zynisch gesprochen wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, um ein Ferienhaus in Skandinavien zu kaufen.
„B. 2 Einige künftige Veränderungen sind unvermeidbar und/oder unumkehrbar, können aber durch eine tiefgreifende, rasche und nachhaltige Reduzierung der globalen Treibhausgasemissionen begrenzt werden. Die Wahrscheinlichkeit von abrupten und/oder irreversiblen Veränderungen steigt mit einem höheren Niveau der globalen Erwärmung. Ähnlich ist die Wahrscheinlichkeit von Ereignissen mit geringer Wahrscheinlichkeit, die mit potenziell sehr großen nachteiligen Auswirkungen verbunden sind.“
Anders ausgedrückt: Wildcards wie die Corona-Pandemie, die Ahrtal-Überflutung oder das Verbot zur Trinkwasserentnahme zur Bewässerung von Gärten rund um den Globus werden häufiger auftreten. Und: Wir müssen weniger fossile Ressourcen verbrennen, weniger Rinder und andere domestizierte Tiere halten. Vor ein paar Jahren spaltete ich einmal das Publikum eines Galadinners mit dem Hinweis, dass ein Rindersteak im Jahr 2030 wohl eher 100 Euro kosten wird, während das synthetische oder pflanzliche Pendant bei 5 Euro liegen dürfte. Besser für Klima und die Gesundheit wäre das allemal.
„B. 3 Anpassungsoptionen, die heute machbar und wirksam sind, werden mit zunehmender globaler Erwärmung weniger wirksam sein. (…) Fehlanpassungen können durch flexible, sektorübergreifende, integrative und langfristige Planung und Umsetzung von Anpassungsmaßnahmen verhindert werden, die vielen Sektoren und Systemen zugutekommen.“
Das heißt nichts anderes, als dass wir schneller werden und mehr Verständnis für langfristige Politik säen müssen. Das ist wie mit dem Hebel-Effekt beim Spaten: Je weiter oben man ansetzt, umso einfacher gräbt sich das Loch. Zum Glück fängt die Bundesregierung auch allmählich an, eine Foresight-Strategie umzusetzen.
„B. 4 Die Begrenzung der vom Menschen verursachten globalen Erwärmung erfordert Netto-Null-CO2-Emissionen. (…) Die prognostizierten CO2-Emissionen aus der bestehenden Infrastruktur für fossile Brennstoffe würden ohne zusätzliche Minderungsmaßnahmen das verbleibende Kohlenstoffbudget für 1,5°C (50 %) übersteigen.“
Nochmal: wir müssen schnell aus Kohle, Benzin und Diesel aussteigen und aufhören, alte Bäume abzuholzen. Es geht kein Weg vorbei an einem fundamentalen Umbau der Energie-Infrastruktur.
„B. 5 Alle globalen modellierten Pfade, die die Erwärmung auf 1,5°C (>50%) begrenzen, ohne oder mit begrenzter Überschreitung, und diejenigen, die die Erwärmung auf 2°C (>67%) begrenzen, erfordern rasche und tiefgreifende und in den meisten Fällen, sofortige Verringerung der Treibhausgasemissionen in allen Sektoren in diesem Jahrzehnt. Globale Netto-Null-CO2 Emissionen werden für diese Pfadkategorien in den frühen 2050er Jahren bzw. in den frühen 2070er Jahren erreicht.“
Also: Bis 2050 wird es ohnehin erst einmal wärmer, sogar wenn wir den CO2-Ausstieg zeitnah schaffen. Klimaveränderungen sind immer langfristig, irgendwie logisch.
„B. 6 Übersteigt die Erwärmung ein bestimmtes Niveau, z. B. 1,5 °C, könnte sie schrittweise wieder reduziert werden durch das Erreichen und Aufrechterhalten negativer globaler Netto-CO2-Emissionen. Dies würde einen zusätzliche Kohlendioxid-Entfernung erfordern, verglichen mit Pfaden ohne Überschreitung, was zu größeren Bedenken hinsichtlich Machbarkeit und Nachhaltigkeit führt (…).“
Neben der einfachen Reduktion von Kohlendioxid muss es auch der Atmosphäre entnommen werden – im großen Stil. Dazu gehört vielleicht auch etwas Hightech, aber vor allem die Wiederaufforstung von Wäldern, Mooren, Mangroven etc.
C. Kurzfristige Maßnahmen
Neben der nun wirklich offensichtlichen Erkenntnis, dass Treibhausgase so schnell wie möglich reduziert werden müssen, schlägt das IPCC auch teils sehr konkrete Maßnahmen vor.
„C. 1 Verstärkte internationale Zusammenarbeit, einschließlich eines verbesserten Zugangs zu angemessenen finanziellen Ressourcen, insbesondere für anfällige Regionen, Sektoren und Gruppen, sowie eine integrative Regierungsführung und koordinierte Politik. Die in diesem Jahrzehnt getroffenen Entscheidungen und durchgeführten Maßnahmen werden Auswirkungen haben und für Tausende von Jahren.“
Wow. Klingt nach großer Verantwortung? Gut so. Es wird nicht übertrieben.
„C. 2 (…) Kurzfristige Maßnahmen beinhalten hohe Vorabinvestitionen und potenziell disruptive Veränderungen.“
Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um private und unternehmerische Investments in nachhaltige Technologiebereiche zu tätigen. Der größte Finanzmarktumbruch aller Zeiten steht bevor – von fossilen in postfossile Anlagewerte. Wer noch klassische Investments hat, die nicht der EU-Taxonomie standhalten, sollte sich eher beeilen.
„C. 3 Die Priorisierung von Gerechtigkeit, Klimagerechtigkeit, sozialer Gerechtigkeit, Inklusion und gerechten Übergangsprozessen kann Anpassungs- und ehrgeizige Minderungsmaßnahmen sowie eine klimaresiliente Entwicklung ermöglichen.“
Da sind wir wieder beim Zusammenhang der drei Säulen der Nachhaltigkeit: der sozialen, ökologischen und ökonomischen Dimension. Ohne Gleichberechtigung, Integration und Inklusion wird das alles nix mit der friedlichen Zukunft.
„C. 4 Klare Ziele, Koordination über mehrere Politikbereiche hinweg und integrative Governance-Prozesse erleichtern wirksame Klimamaßnahmen. Regulierungs- und Wirtschaftsinstrumente können tiefgreifende Emissionssenkungen und Klimaresilienz unterstützen, wenn sie breite Anwendung finden.“
Der Pfad in die regenerative Zukunft ist interdisziplinär und angemessen staatlich getrieben. Das schmeckt natürlich der neoliberalen Bewegung nicht so sehr, weshalb die Transformation auch über Jahrzehnte ausgebremst wurde. Das dürfte jetzt zu Ende sein.
„C. 5 Finanzen, Technologie und internationale Zusammenarbeit sind entscheidende Voraussetzungen für einen beschleunigten Klimaschutz. Wenn die Klimaziele erreicht werden sollen, muss die Finanzierung von Anpassungs- und Minderungsmaßnahmen um ein Vielfaches erhöht werden. Es gibt genügend globales Kapital, um die globalen Investitionslücken zu schließen, aber es gibt Hindernisse für die Umlenkung von Kapital in Klimaschutzmaßnahmen (…).“
Es existiert also genug Geld auf der Welt, um die Probleme in den Griff zu bekommen. Freundlicher Hinweis: Auf einem Sparkonto oder in brachliegenden Immobilien stiftet Geld keinen Mehrwert. Investitionen in Klimaschutz und ernstgemeinte Entwicklungshilfe werden sich hingegen amortisieren und oft auch rentieren.
Die Lösung der Klimakrise
Ich bin kein Anhänger der technophilen Fraktion der Trend- oder Zukunftsforschung, die alle Probleme durch Technologie lösen möchte. Sicher müssen wir gesellschaftlich und politisch auch viel verändern, doch ohne Technologien bekommen wir den gordischen Klimaknoten nicht durchschlagen. Allerdings braucht’s dazu keine außerordentlich innovativen Entwicklungen, sondern eine sinnvolle Kombination der vorhandenen Mittel sowie politischen Gestaltungswillen, der sich möglicherweise nicht innerhalb einer Legislatur auszahlt.
Im Grunde benötigen wir für die Lösung der Klimakrise lediglich drei einfache Schritte und sehr viel Startkapital. Das Schöne daran: Alle Bereiche würden profitieren. Die Wirtschaft, die Gesellschaft, die Umwelt. Wenn im Sinne der Moonshot-Technik ein reicher Milliardär sich mit dem UN-Generalsekretär oder noch besser, allen Teilnehmenden des nächsten World Economic Forum, zusammentun würde, wäre das Ganze in einem Jahrzehnt machbar. Ein echter Green New Deal, sozusagen.
- Energieerzeugung: Technologisch haben wir alles, was wir brauchen, um die Menschheit für immer mit Elektrizität für Strom, Wärme, Kälte und die industrielle Produktion zu versorgen. Täglich erreicht unseren Planeten so viel Sonnenenergie, wie wir in 10.000 Jahren verbrauchen würden. Daher ist für mich glasklar: Photovoltaik-Paneele müssen auf jedes größere Dach, über jede Autobahn, jeden Parkplatz und Bahnhof – die Großgrundbesitzer wie die Deutsche Bahn oder die katholische Kirche könnten hier Schlüsselpartner in der Umsetzung sein. Hinzu kommen gigantische Solarpaneele im Orbit, die Sonnenenergie schon vor der Atmosphäre ernten und kabellos zur Erde senden. Schließlich könnte die Kernfusion in rund 20 Jahren kommerziell nutzbar sein, was bis dahin aber vielleicht hinfällig ist, wenn wir endlich die natürliche Energiequelle im Himmel anzapfen würden. Logischerweise gibt es dann auch eine Energieflatrate für alle. Imagine the possibilities!
- Energienetz: Ein globales Energienetz (engl. global grid) muss her. Sicher sind dabei auch eher zentrale Knotenpunkte auf allen Kontinenten für die Verteilung zuständig, das muss aber aus Gründen der Sicherheit und Planbarkeit auch so sein. Denn: Strom muss immer fließen. Technisch machbar ist es, langfristig auch rentabel. Ein entsprechender wissenschaftlicher Beitrag dazu wird nächstes Jahr im Sammelband „Regenerative Zukünfte und künstliche Intelligenz“ erscheinen.
- Energiespeicher: Wenn Energie im Überfluss erzeugt wird, brauchen wir sehr viele Stromspeicher. Jede Kommune, jeder Bahnhof, jede Wohnung wird in einigen Jahrzehnten einen eigenen Stromspeicher haben, um die Niedriglastzeiten auszugleichen oder als flexible Kapazitätserweiterung des Netzes dienen zu können. Und ja, dazu gehören auch Elektrofahrzeuge. Eine Jobbeschreibung der Zukunft wird sein, Elektrofahrzeuge durch die Landschaft zu fahren, um Energie zu verbrauchen.
In der Folge hätten wir für mindestens ein Jahrzehnt keine Arbeitslosigkeit, einen beispiellosen wirtschaftlichen Aufschwung verbunden mit der Angleichung von Lebensstandards, eine endlos verfügbare Energieversorgung aus regenerativen Quellen und langfristig abgemilderte Klimawandeleffekte.
„Ja, aber…“ das klingt utopisch? Wenn wir aus der Gegenwart denken, ist das sicher so. Woher sollen die Ressourcen kommen? Wer soll das planen? Was ist mit Staaten, die nicht mitmachen? Jede gute Idee kann mit einem „ja, aber“ zunichte gemacht werden.
Wenn wir jedoch aus der Zukunft zurückdenken, von einer für alle Lebewesen lebenswerten Zukunft, erscheinen diese drei Schritte fast schon logisch. „Warum ist man darauf nicht früher gekommen?“, könnte mein Sohn mich im Jahr 2050 fragen. Er wird dann 27 Jahre alt sein und hoffentlich davon profitieren, was wir hier und heute aushecken. Ob er dann als Bauarbeiter, Ingenieur, Wartungstechniker oder Politiker das wohl größte Bauprojekt der Menschheit miterleben durfte, ist mir egal.
Fazit
Mein Sohn ist heute acht Wochen alt und ich wünsche mir, dass er im Jahr 2100 mit 77 Jahren glücklich und gesund dort lebt, wo er gern möchte, und nicht, wo er muss. Dasselbe wünsche ich mir für die anderen knapp neun Milliarden Menschen, die dann auf diesem Planeten leben. Es wäre traumhaft, wenn diese Menschen dankbar zurückblicken und anders als die heutige Generation sagt: Danke, dass ihr an uns gedacht habt.