Institut gegründet
Ich habe es getan!
Nach knapp 300 Keynotes, über 200.000 Reisekilometern und fast 55.000 erreichten Menschen durch meine Bühnenauftritte seit 2016 habe ich im August 2022 mein eigenes Forschungsinstitut gegründet. Die PROFORE Gesellschaft für Zukunft mbH (i.G.) wird ab sofort meine Forschungstätigkeiten bündeln und somit ein noch solideres Fundament für die unterhaltsamen Keynotes bieten. Das erste Projekt läuft bereits und dreht sich im weiteren Sinne um fortgeschrittene Fertigungstechnologien - mein Kunde ist ein international tätiges Industrieunternehmen. Ziel des Trendsreports ist es, blinde Flecken auszuleuchten, aufstrebende Märkte zu identifizieren und Wechselwirkungen zwischen den wichtigen Trends unserer Zeit mit dem (zukünftigen) Kerngeschäft der Anbieter zu eruieren. Erfreulicherweise handelt es sich beim Auftraggeber um einen ehemaligen Mitarbeiter eines Ex-Kunden, den ich zu meiner Zeit als Angestellter betreut habe (2018).
Unter www.profore-zukunft.de entsteht gerade die neue Website für die Angebote aus den Bereichen Forschung & Foresight - weitere Angebote sind in Vorbereitung. Mit dem Institut verfolge ich nicht die Vision, das größte, innovativste oder schnellste Trendforschungsinstitut zu werden, so wie es typisch wäre für eine derartige Unternehmung. Stattdessen werde ich gemeinsam mit meinen Angestellten als Sparringspartner für unsere Kunden auftreten, um diese in eine erfolgreichere, gerechtere und nachhaltigere Zukunft zu begleiten. Um keine Überraschung zu verpassen, können Sie sich gern auf der PROFORE-Startseite für den Newsletter anmelden.
Auf dieser Website (kaigondlach.de) straffen wir das Angebot wiederum und spitzen es auf meine Tätigkeit als Keynote Speaker und Autor zu. Auch in diesen Bereichen wird es schon bald aufregende Ankündigungen geben und dann bald etwas zu lesen im Büchergeschäft in Ihrer Nähe. Also auch hier lohnt sich die Anmeldung für den Newsletter nach wie vor!
Buch "Arbeitswelt und KI 2030": Über 100.000 Downloads!
Damit habe ich wirklich nicht gerechnet!
Als wir das Buch "Arbeitswelt und KI 2030" konzipierten, war uns zwar klar, dass an genau dieser Stelle eine Lücke im Sach- und Fachbuchmarkt existiert. Sonst hätten wir das Projekt vermutlich gar nicht erst gestartet. Die positive Resonanz der Verlage und Autor:innen hat unsere Ausgangsvermutung früh bestätigt: Wir müssen das Thema künstliche Intelligenz mit mehr Nachdruck in die Organisationen der Wirtschaft und öffentlichen Verwaltung bringen!
Der Reifegrad vieler KI-Lösungen ist inzwischen so weit, dass in bestimmten Bereichen - zum Beispiel Finanzbuchhaltung, Intralogistik, HealthTech - eine Anwendung möglich und sinnvoll wird. Gleichzeitig sollten wir das Thema entzaubern, um Vorbehalte abzubauen, aber auch ethische und praktische Lösungswege aufzuzeigen.
Erwartungen übertroffen
Bei der Veröffentlichung Ende 2021 hatte ich mir - typisch Zukunftsforscher - Ziele gesetzt. Ich hatte mir gewünscht, wenigstens 100 Bücher zu verkaufen. Die optimistische Zielvorstellung lag bei 1000 Exemplaren.
Nun schaue ich nicht täglich auf der Landing Page bei Springer vorbei, wo die Download-Zahlen verzeichnet werden. Wichtig übrigens: Die Downloads müssen immer durch die Anzahl der Beiträge (41 Stück) geteilt werden, um auf die Anzahl der Gesamtverkäufe zu kommen. Das liegt daran, dass auch einzelne Beiträge verkauft werden.
Am 1. Juni 2022 war es dann soweit: Der Zähler kletterte über 100.000 Downloads! Also: Über 2400 verkaufte Bücher! Inzwischen sind es übrigens 122.000...
Wie viele Bücher über andere Kanäle verkauft wurden, weiß ich leider noch nicht. Doch allein fast 3000 verkaufte Exemplare über den Verlag sprengen sämtliche Erwartungen. Daher danke ich auch auf diesem Wege dem Verlag Springer Gabler Wiesbaden, meiner Mitherausgeberin Dr. Inka Knappertsbusch sowie allen über 70 Autor:innen für ihre fantastische (Zusammen-)Arbeit und Unterstützung bei der Verbreitung des Bands!
Die Top 5 Beiträge
Natürlich habe ich mir den Spaß gemacht, die Downloads der einzelnen Beiträge nachzuschauen. Hier die Top 5 (Stand: 30.06.2022):
- KI in der Intralogistik von Prof. Dr. Norbert Bach und Sven Lindig
- KI in Banken von Daniel A. Schmidt
- Potenziale von KI für die Produktion von Prof. Dr. Marco Huber, Christian Jauch, Klaus Burmeister
- Das Gespenst der German Angst: Sind wir zu skeptisch für KI-Entwicklung? von Kai Arne Gondlach und Dr. Michaela Regneri
- Der Einsatz von KI-basierter Sprachanalyse im Bewerbungsverfahren von Patricia Jares und Tobias Vogt UND KI in der Weiterbildung der Zukunft von Prof. Dr. Clemens Jäger und Prof. Dr. Stefan Tewes
Dazu muss ich erwähnen, dass die Zugriffszahlen relativ nahe beieinander liegen. Der Beitrag mit den meisten Downloads hat 3051 Zugriffe, der mit den wenigsten 2849. Das beliebteste Kapitel ist "KI in der mobilen Arbeitswelt & Logistik" mit insgesamt 20321 Zugriffen, die meisten Zugriffe pro Artikel hat das Kapitel "Gesellschaftliche und ethische Aspekte von KI in der Arbeitswelt" (2942,3 im Durschschnitt).
Mehr erfahren
Wer auf dem Laufenden bleiben und Einblicke in alle Beiträge erhalten möchte, sollte sich die Linkedin-Seite zum Buch oder die eigene Website ansehen. Zusätzlich habe ich mit einigen Autor:innen in meinem Podcast "Im Hier und Morgen" gesprochen, die an vielen Stellen inhaltlich tiefer eingestiegen sind. Erhältlich auf allen bekannten Podcast-Plattformen, die aktuelle Episode gibt's immer 14 Tage auf der Website.
Rezension "Medien in der Klima-Krise" von KLIMA° vor acht (Oekom Verlag)
Die Klimakrise ist auch eine Medienkrise. Möglicherweise wurde der Klimawandel erst zur -krise, weil die Medien versagt haben. Steile These?
Seit rund 50 Jahren ist wissenschaftlich gut belegt, dass das menschliche Handeln, insbesondere im Zuge der Industrialisierung und Globalisierung, einen negativen Einfluss auf das weltweite Klima und globale Ökosysteme hat. Im öffentlichen Bewusstsein von Durchschnittsbürger:innen scheint die Klimakrise jedoch nach wie vor kaum stattzufinden. Trotz zunehmender Wetterextreme auch im globalen Norden, trotz einer Klimabewegung, die es mit den 68er-Protesten aufnehmen kann, trotz erster Klimakriege. Woran liegt das?
Der frisch erschienene Band „Medien in der Klima-Krise“, herausgegeben von der Initiative KLIMA° vor acht (Oekom Verlag) hat eine klare Antwort auf diese Frage: Die Vierte Gewalt, also Presse, Rundfunk, kurz: Medien, berichten zu wenig über aktuelle und generelle Klimathemen. Stattdessen regiert das Primat des kurzfristigen, skandalbetonten, click-baiting-Journalismus. Deshalb fordert KLIMA° vor acht seit 2020, die Berichterstattung über eine der wichtigsten Herausforderungen unserer Zeit aus den Nischensendern und -sendezeiten in die Primetime zu verschieben.
Im Band appellieren die 28 Autor:innen sowohl an Verantwortliche in Medienhäusern als auch die Rezipient:innen. Der berühmte Klimaforscher und Journalist Mojib Latif steuert das Vorwort bei, ab dann nehmen 23 Beiträge die Leser:in auf 274 Seiten mit auf eine turbulente Reise der vermasselten Kommunikation. Hier verschmelzen schon auf den ersten Blick die jahrzehntelange Erfahrung aus dem Journalismus und verschiedener Zweige der Klimaforschung. Man lernt viel über die Höhen und Tiefen des deutschsprachigen Journalismus im Umgang mit einem generationsübergreifenden Thema – und vielleicht ist es ja auch genau das, was eine Zuordnung in Ressorts und klar definierte Zielgruppen so schwer macht.
Ich durfte das Buch schon exklusiv vorab lesen, um diese Rezension zu schreiben. Wer meinen Podcast „Im Hier und Morgen“ hört, kennt auch die Initiative und wird bald ein Wiederhören erleben. Dennoch oder gerade deshalb empfehle ich ausdrücklich die Lektüre dieses so wertvollen Positionsbuchs.
Jetzt bestellen bei Buch7, dem sozialen Buchhandel!
(c) KLIMA° vor acht, https://klimavoracht.de/buch/
Was ändert der Ukraine-Krieg für die Zukunftsforschung?
Die Initiative D2030 - Deutschland neu denken e. V. lädt monatlich zu Futures Lounges ein. Am 6. April 2022 war ich einer der eingeladenen Gäste für die Diskussion bzw. Impulsrunde. Wir wurden gebeten, in ca. 5-minütigen Beiträgen der Frage nachzugehen, inwieweit der Ukraine-Krieg unser Metier beeinflusst. Bei der Zoom-Session gab es eine rege Beteiligung, die bei Youtube nachgesehen werden kann (mein Part beginnt bei Minute 28:28). Dies waren die weiteren Impulsgeber:innen:
- Dr. Regula Stämpfli, Vorstandsmitglied swissfuture, Politologin - https://regulastaempfli.eu/
- Dr. Claudia Schwarz, Geschäftsführerin Academia Superior, Linz - https://wiki.academia-superior.at/personen/claudia-schwarz/
- Hanna Jürgensmeier, ScMI AG / Vorständin D2030 e.V. - https://www.scmi.de/de/unternehmen/unser-management-team
- Stefan Wally, Geschäftsführer Robert-Jungk-Bibliothek, Salzburg - https://jungk-bibliothek.org/stefan-wally/
- Ludwig Weh, M.A. Zukunftsforschung, Kapitel 21: Zukunftsforschung - https://www.linkedin.com/in/ludwig-weh-20b684132/?originalSubdomain=de
Meine "Polemik" auf die notwendige Veränderung der Zukunftsforschung
Hurra, diese Welt geht unter...
Mal wieder. Selbst ich als nicht ganz 35-Jähriger bin schon abgestumpft, was Weltuntergangsgesänge angeht.
Ich wurde kurz nach der Tschernobyl-Katastrophe geboren. Kurz darauf folgte das Ende der Geschichte, das dann doch nicht stattfand - genauso wenig wie das endgültige Ende des Kalten Kriegs. Der Jugoslawien-Krieg erschütterte die europäische Idee der friedlichen Koexistenz und dem Ende von Genoziden. Dann kam der Krieg gegen den Terror, der den nüchternen Prognosen entsprechend verloren wurde - Bankenkrise, Klimakrise, Biodiversitätskrise, Pandemien von Sars über Mers bis Covid.
Und nun?
Hurra, diese Welt geht unter -
Wir hocken im Atomschutzbunker
Warum? Weil Tschernobyl kürzlich brannte und Fukushima wieder durch ein Erdbeben erschüttert wurde, weil Putin, Lawrow und Kim Jong-Un wieder atomare Sprengköpfe in Stellung bringen. Wir horten Klopapier und Pasta und sprechen wie selbstverständlich schon vom "New Normal" nach Pandemie und Ukraine-Krieg.
Heute wollen wir eigentlich genau diesen Ukraine-Krieg zum Anlass nehmen, neu zu denken. Aber das ist doch, wenn wir ehrlich sind, nur der Tropfen, der das Fass hoffentlich ENDLICH zum Überlaufen bringt.
Klaus Burmeister und die Initiative D2030 haben uns eingeladen, die Implikationen für die Zukunftsforschung zu diskutieren. Hier meine Einschätzung als Impuls zur Diskussion.
Hört auf zu versuchen, eine objektive Realität nüchtern beschreiben zu wollen!
Erstens gibt es die ohnehin nicht und das sollten auch alle Zukunftsforschenden wissen, wenn sie sich mit Kybernetik und den Ideen des radikalen oder wenigstens relationalen Konstruktivismus auseinandergesetzt haben.
Zweitens hilft es niemandem, wenn wir in Studien, Büchern, Artikeln und Interviews immer nur Fakten aufzählen und neu sortieren, aber nicht die Implikationen für Zukünfte daraus ableiten.
Und drittens ist ohnehin jede Aussage über Zukünfte normativ. Denn in dem Moment, in dem ich ein Narrativ bediene und ein anderes nicht, habe ich ja schon dem einen den Raum in der Zukunft eingeräumt ... und dem anderen eben nicht. Wer in der Zukunftsforschung tätig ist, kann sich also von der Idee verabschieden, objektiv und rein rational über Möglichkeitsräume zu sprechen. Die Welt braucht Gestaltungsräume und -anleitungen zur Disruption, Renovation, Exnovation!
Dass wir dabei auch auf Abstand gehen müssen zur Vorherrschaft der Weißen im globalen Norden, insbesondere zu den alten, weißen Männern, ist zumindest theoretisch längst Konsens. Doch wer A sagt, muss auch B sagen - darf zum Beispiel nicht nur Geflüchtete aus der Ukraine zum Anlass nehmen, einen Systemwandel zu forden, sondern auch jene aus dem Jemen, aus Syrien, aus Mali, aus Kolumbien oder den Philippinen.
Auch dürfen wir keine Gelegenheit auslassen, die mutwillige Zerstörung der Biosphäre, das sechste große Artensterben nach der Auslöschung der Dinosaurier, den grenzenlosen Konsum auch 50 Jahre nach Erscheinen der wohl besten Zukunftsstudie aller Zeiten "Die Grenzen des Wachstums", sowie deren systemisch verankerte Mechanismen und Fortschrittsmythen anzuprangern.
Darum sage ich:
Zukunftsforschende aller Länder, vereinigt euch!
Die Zukunftsforschungsabteilungen in Großkonzernen müssen, so es sie denn noch gibt, zurück zu Anstand und Moral finden, anstatt sich für die primär ökonomischen Ziele der Marketing- und Produkt-Abteilung instrumentalisieren zu lassen. Wachstum ja, aber niemals auf Kosten der Allgemeinheit! Wenn wir das nicht heute begreifen und morgen laut kommunizieren, um es übermorgen umzusetzen, werden wir am Ende alle verloren haben.
Die ach so unabhängigen Thinktanks dieser Welt wiederum sollten endlich verstehen, dass das nächste Gadget, der nächste Hype, die nächste Facebook-Sau, pardon, Meta-Sau, die durchs Dorf getrieben wird, keinen unmittelbaren Wert für die Zukunft hat. Ich vermisse bei den ganzen Trendbooklets den Faktor Verantwortung, das holistische Denken und vor allem eine eigene Haltung abseits von Schwarz vs. Weiß, Gut vs. Böse. Die Menschen, besonders die Unternehmen brauchen EUCH, um ihr Denken neu auszurichten. Wenn ihr nur deren Systemlogik wie ein mittelalterlicher Hofdichter repliziert, haben wir nichts gewonnen.
Die akademischen Einrichtungen der Zukunftsforschung müssen aufhören, sich von ihren Auftraggebern die Suppe versalzen zu lassen. Ihr wisst alle, was ich meine. Ich kann weder im Projektantrag mit Sicherheit sagen, welche Methoden letztlich sinnvollerweise zur Anwendung kommen werden, noch viel weniger kann ich deren erwartete Ergebnisse skizzieren. Und ich kann mit keiner Ethik dieser Welt rechtfertigen, dass Forschungsergebnisse kurz vor Projektende vom Auftraggeber höchstselbst redigiert werden, damit es besser zur politischen Linie passt.
Die Vereinten Nationen, deren Bildungs-Arm UNESCO, die globalen Vereine der Zukunfts- und Trendforschung World Futures Studies Federation und Association of Professional Futurists - es gibt sie, die geteilten Werte von Atlanta nach Indonesien, von Stellenbosch bis Turku, von Bogota bis Berlin und auch von Saudi-Arabien bis Peking. Das sind auch oder besser: vor allem die SDGs, die nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen, für eine gerechte, gesunde, sichere Welt ohne Ausgrenzung und Gewalt.
Die UN allein planen in den kommenden Jahren die Verankerung von Foresight in einem Futures Lab, planen eine Declaration on Future Generations, den UN Special Envoy on Future Generations, einen regelmäßigen Strategic Foresight and Global Risk Report und schon 2023 den Summit of the Future.
Hurra, diese Welt geht unter - oder auch nicht. Letzteres gelingt aber nur, wenn es uns Zukunftsforschenden gelingt, von relevanten Entscheidungsträgern in Politik, Wirtschaft und auch dem Militär ernstgenommen zu werden.
Also: Bringt euch ein, werft eure Glaskugel und den Mantel der Objektivität weg und seid unbequem.
Danke.
Disclaimer
Viele werden es bemerkt haben, der Vollständigkeit halber weise ich darauf hin, dass die Zeilen "Hurra, diese Welt geht unter" und "wir hocken im Atomschutzbunker" Zitate aus einem Song der Berliner Hip-Hop-Formation K.I.Z. aus dem Jahre 2015 sind.
Statement zum Ukraine-Krieg
In den letzten Tagen habe ich auf allen Kanälen sehr viel weniger veröffentlicht als gewohnt. Das ist vermutlich gar nicht groß aufgefallen in einer Zeit, in der die meisten Menschen fassungslos auf den Ukraine-Krieg bzw. die mediale Berichterstattung über die Invasion der Ukraine durch den Irren vom Kreml starren. Doch schon schleicht sich der Allag in vielen Köpfen wieder ein und diesen Moment möchte ich nutzen, um meine Haltung zu dieser Katastrophe zu teilen - nicht, dass es nachher heißt, ich hätte es schweigend ignoriert. Also: Bevor es hier mit dem gewohnten Programm weitergeht, möchte ich kurz Stellung zu dieser historischen Zäsur nehmen. Okay, das "kurz" nehme ich zurück.
Disclaimer - Vorausschau mit Einschränkungen
Ich bin weder Experte für Russland, die Ukraine, Osteuropa im Allgemeinen, noch Militäroperationen. Ich bin Experte für Zukunftsforschung und wie man Vergangenes und Gegenwärtiges in mögliche Zukünfte vorausdenkt, um darin Gestaltungsoptionen zu entdecken. Natürlich spielen Krisen jeder Art grundsätzlich eine Rolle für Projektionen in die Welt von morgen; meist sind dies sogenannte Wildcards, also eher unwahrscheinliche, dafür aber einflussreiche Entwicklungspfade. Diesen Punkt greifen wir gleich noch auf.
Seit Monaten habe ich an manchen Stellen, vor allem im inzwischen eingestellten oder wenigstens pausierten Podcast "Kai for future", über die Entwicklungen an der Grenze zwischen der Ukraine und Russland berichtet. Auch bei Tiktok und Instagram habe ich auf einige Entwicklungen hingewiesen. Eine Eskalation fürchtete ich schon im Dezember, dann kamen aber Aufstände in Kasachstan und die Olympischen Spiele dazwischen.
Will nur sagen: Der Zukunftsforscher in mir war beim Einmarsch der russischen Truppen nicht überrascht. Der optimistische Mensch in mir ist zutiefst erschüttert.
Krieg im Allgemeinen
Krieg ist dumm.
Persönlich finde ich jede Form von Gewalt dumm, die über Gestik, Mimik und leicht erhöhte Sprechlautstärke hinausgeht. Gewalt hat noch nie zu langfristiger Problemlösung beigetragen, zumindest nicht, wenn man Probleme im Kontext und als holistisches, systemübergreifendes Konzept begriffen hat. Und wer wenigstens kurz die Probleme analysiert, vor denen man steht, wird feststellen, dass es keine monokausalen Probleme gibt. Mit Ausnahme vielleicht tropfender Wasserhähne.
Der Ukraine-Krieg im Speziellen
Die Vorgänge in der Ukraine bzw. die Rechtfertigung Russlands dafür sind geschichtsrevisionistisch, wird oft von Analyst:innen gesagt. Back to the roots, sozusagen. Für mich sind die Vorgänge vor allem der Beweis, dass auch unsere politische Führung über Jahre versagt hat - in größerem Maßstab, als vielen bewusst ist. North Stream 2 ist klar, die Annexion der Krim vor 8 Jahren auch.
Wieso wurden weitere Aggressionen Russlands Führung so lange beschwichtigend hingenommen? Warum wurden Hackerangriffe und die langfristige Unterstützung Rechtsradikaler in Deutschland und die gezielte Verbreitung von Falschinformation nicht früher beim Namen genannt oder gar verhindert? Warum wirkt die politische Elite der Nationen im globalen Norden (vor allem Europa und die USA) so überrascht? Oder ist das nur die Show, die die Gesellschaft davon ablenken soll, dass in den Hinterzimmern doch andere Gespräche geführt werden über die wahren Motive des Angriffskriegs? Wie immer in Zeiten politischer Zäsuren entsteht auch jetzt wieder viel Raum für Verschwörungsmythen.
Es ist zu leicht, den schwarzen Peter ausschließlich bei Putin zu suchen. Klar, der Mann und seine gesamte Elite, die sich bis in den letzten Distrikt des größten Landes der Welt erstreckt, sind krank. In unseren Augen. Wechselt man die Perspektive, ergibt alles einen Sinn - aus unserer Sicht einen äußerst perfiden. Zurück zum Zarenreich, zurück zur Stärke und Größe der Sowjetunion, das hat Putin ja in mehreren Reden deutlich gemacht. Wie wahnsinnig diese Vorstellung ist nach weitgehend friedlichen Jahrzehnten, in denen die einzigen Aufstände ehemaliger Sowjetstaaten sich gegen korruptes oder autokratisches Führungspersonal richteten! Nachdem die Ex-Mitglieder des "Warschauer Pakts" in den 1990er, 2000er und 2010er Jahre freiwillig und demokratisch legitimiert Mitglieder von Europäischer Union und/oder Nato wurden! Vor allem unter Vortäuschung falscher Tatsachen und Umdeutung der eigenen Rolle in einen Friedensbringer, der die Bevölkerung der Ukraine befreit!
Leviathanozän und die Folgen für die Weltgemeinschaft
Wir leben immer noch im Zeitalter des Leviathan. Machthungrige Eliten schaffen sich selbst die Rahmenbedingungen, die ihre Macht stärken und festigen. Ein absolut logischer Schritt ist da die Zementierung Putins Machtapparats durch den jetzigen Angriffskrieg, die völkerrechtswidrigen Attacken gegen die ukrainischen Bevölkerung, die Inhaftierung protestierender Russ:innen, die weitere Einschränkung der Medien- und Pressefreiheit und die Androhung eines Atomkriegs, welcher die logische Konsequenz der militärischen Intervention Nato-Verbündeter wäre. Spätestens an der Stelle hinkt auch der Vergleich mit der Nazi-Diktatur, denn die hatten ja (zum Glück) keine Atombombe - wenn die Beschwichtigungspolitik noch lange genug abwartet, könnten wir herausfinden, welche Folgen deren Einsatz hätte. So viel zum negativen und leider nicht mehr komplett unwahrscheinlichen Szenario.
Und dann das: Bundeskanzler Olaf Scholz spricht von einer "Zeitenwende" durch den Ukraine-Krieg. Wenige Tage nach dem Einmarsch russischer Truppen in ukrainisches Territorium wird die 100-Milliarden-Finanzspritze für die Modernisierung und den Ausbau der Bundeswehr beschlossen. Das Aufrüsten Deutschlands und die Solidarisierung mit anderen Nato-Verbündeten kam für meinen Geschmack erstaunlich schnell zustande. Und das getrieben von einer Regierung, von denen zwei Parteien im Gründungsmythos "Pazifismus" stehen haben.
Vieles sortiert sich neu, die geopolitischen Spannungen habe ich hier im Zlog ja auch schon mehrfach angekündigt. Wie die sich im Detail äußern, weiß man vorher oft nie, doch wenn man eins aus der Geschichte gelernt hat, dann dass ein Machtvakuum die Machtexpansion durch Dritte begünstigt, wenn nicht sogar hervorruft.
Lesarten des Verteidigungs-Boosters
Wie immer gibt es verschiedene Perspektiven auf die Realität. Hier eine kleine Auswahl der gängigsten:
- "Das macht ja auch Sinn, immerhin verstehen Autokraten keine andere Sprache als militärische Abschreckung. Reden scheint nichts zu nützen, da muss man eben wieder Säbel rasseln."
- "Wie ist es möglich, dass gerade eine Nation, die historisch nicht gerade für den langfristig vernünftigen Umgang mit einem großen Militärapparat bekannt ist, dieser Tage relativ unkritisiert und im Schweinsgalopp eine derartige Summe für Krieg freigibt? Yuval Noah Harari hat uns zwar seinen Segen gegeben, dass international nun niemand denke, die Nazis seien zurück; doch wenn man sich die Skandale der letzten Jahre im Verteidigungsministerium, der Bundeswehr, Sondereinheiten der Polizei und im Verfassungsschutz ansieht, könnte einem auch direkt übel werden angesichts dieses Schnellschusses."
- "Endlich traut sich mal jemand (Scholz?) und sorgt für eine realpolitische Stärkung der Armee. Die Stunde der Befürworter eines starken Abschreckungsapparats im Verteidigungsministerium und in den Polit-Talkshows hat geschlagen!"
Mich würde übrigens auch Ihre Haltung dazu interessieren. Was denken Sie über den Ukraine-Krieg? Schreiben Sie gern einen Kommentar unten oder eine Mail auf der Kontaktseite.
Ende des Friedenszeitalters durch den Ukraine-Krieg?
Die Jahr(zehnt)e des europäischen Friedens scheinen gezählt, das Ende des Kalten Kriegs habe ich ohnehin nie jemandem abgekauft. Die Blöcke hatten sich zwar wirtschaftlich wieder angenähert, damit haben "wir" aber nun scheinbar der Machtelite in Russland geholfen, die Staatsschulden zu minimieren, eine gigantische Armee aufzubauen, die Atombomben gleichzeitig ordentlich instandzuhalten und genügend Mittel zu haben, um zweckdienliche Posten zu korrumpieren - wir denken nur an Georgien, Aserbaidschan, Tschetschenien, Kasachstan und die Separatistengebiete im Osten der (noch) Ukraine - und auf der anderen Seite einen der effektivsten Geheimdienste der Welt, den FSB, derart zu stärken, um unliebsame Regimekritiker vor den Augen der Weltöffentlichkeit zu vergiften, dann ins Gulag zu werfen, oder auf deutschem Territorium (und anderswo) kaltblütig zu ermorden. Geschäft schlägt Moral, wenigstens in dem Punkt ist alles beim Alten.
Aber das könnte natürlich auch alles nur Ergebnis der erfolgreichen Propaganda des Westens sein, dass ich so denke, oder!? Nein. Ich selbst bin nicht der Experte für solche Themen, aber dank meines Jobs habe ich Zugang zu einer Reihe internationaler Expert:innen und Veranstaltungen. Natürlich lese ich auch viel von dem, was in den deutschsprachigen Medien landet, darüber hinaus aber auch die internationale Presse und ja, auch mit russischen Expert:innen und Menschen aus der Ukraine und anderen Osteuropastaaten stehe ich in Kontakt. Dazu gehört unter anderem die Resilience League, um nur eine der Quellen zu nennen. Das nur am Rande, bevor der klassische Vorwurf einer einseitigen Berichterstattung erhoben werden kann.
Schließlich erscheint mir der Zeitpunkt der Invasion nicht zufällig gewählt. Dmitri Medwedew, der ehemalige Interims-Präsident Russlands, der einerseits Anfang 2019 noch behauptete, Russland hege keine Kriegsplän, soll andererseits einmal gesagt haben: "Wir sind geduldig". Dass die zeitliche Wahl eines Angriffskriegs nun ausgerechnet kurz nach dem Abschied der Putin-Versteherin, ehemaligen BRD-Bundeskanzlerin und mächtigsten Frau der Welt, Angela Merkel, stattfindet, fällt sicherlich nicht nur mir auf. Welches Motiv dahintersteckt, bleibt ungewiss. Immerhin hat sie sich sehr eindeutig und scharf gegen Putins Krieg positioniert - ganz im Gegensatz zum Altkanzler Gerhard Schröder, der zum Zeitpunkt dieses Beitrags noch immer keine Kritik am Vorgehen Russlands in puncto Ukraine-Krieg verlautbaren lässt.
Alle gegen Putin? Fast alle.
Auf der anderen Seite ist es bewundernswert, wie stark "der Westen" sich in Form von Sanktionen und öffentlichen Verurteilungen mit wenigen Ausnahmen gegen Russland bzw. dessen Diktator wendet. Nun kann man Putin inzwischen endlich auch faktenbasiert und nicht bloß polemisch "Diktator" nennen, wenigstens etwas Gutes hat die Sache. Die einzigen Gegenstimmen im UN-Sicherheitsrat stammen von Belarus, Syrien, Eritrea und Nordkorea - allesamt lupenreine Diktaturen - stimmten gegen die Russlandsanktionen, 141 Staaten dafür, der Rest enthielt sich und verspricht sich im Folgenden Vermittlerboni. Israel wiederum vermittelt inzwischen aktiv. Selbst das globale Hackerkollektiv Anonymous hat sich auf die Seite des Westens geschlagen, was mir persönlich immer wieder eine Gänsehaut beschert. Zuletzt wurden russische TV-Sender und Streaming-Dienste gekapert, um darin über den Krieg zu berichten. Wow.
Chinas Präsident Xi Jinping hat zwar einerseits Anfang Februar noch öffentlichkeitswirksam ein Freundschaftsabkommen mit Putin unterschrieben, weshalb als Schnellschuss die Annahme kursierte, nun eine Einheit ungeahnten Ausmaßes als Kontrahenten zur Nato-Allianz zu haben. Zu kurz gedacht! So eindeutig bekennt sich Xi noch nicht zum kriegerischen Putin; doch die nun überflüssigen Rohstoffe nimmt sein Land der Mitte sicherlich gern. Vielleicht hat Putin sich an einer Stelle zu früh gefreut, denn wirklich unterstützend wirkt China aktuell noch nicht. Und die anderen Sanktionsopponenten dürften kaum politisches Gewicht haben, solange Kim Jong-un nicht auch noch die Atom-Keule auspackt.
Herzerwärmend wiederum ist die Anzahl zivilgesellschaftlicher Initiativen, die sich zusammengeschlossen haben, um einerseits Hilfsgüter in die Ukraine zu schaffen (angefangen bei der Deutschen Bahn und tausenden anderen Konzernen und KMU) über die bekannten Katastrophenhilfeorganisationen bis zum Bündnis Unterkunft Ukraine, das von Elinor und der GLS Bank in atemberaubender Geschwindigkeit ins Leben gerufen wurde: Es vermittelt unbürokratisch Unterkünfte für Flüchtende aus der Ukraine in Deutschland und während ich diesen Text schreibe, sind dort 276931 Betten von 122308 Unterstützer:innen registriert (08.03.2022, 15:50 Uhr). Zwei davon befinden sich in meinem aktuellen Nachbarzimmer.
Was wir tun können im Ukraine-Krieg
Das sind nun ein paar Dinge, die wir tun können:
- Spenden, Menschen aufnehmen, Initiativen unterstützen. Der Ukraine-Krieg vertreibt Hunderttausende aus ihrer Heimat, viele werden traumatisiert ihr Fluchtziel erreichen. Wer wie ich weder die Möglichkeit noch die Fähigkeit hat, vor Ort zu helfen, aber helfen möchte, kann Geld oder Kleidung, Lebensmittel oder Medikamente spenden. Wie beschrieben, können auch die eigenen Wohnräume für Geflüchtete angeboten werden - auch kurze Zeiträume für die Ankunft helfen.
- Über die realen Zusammenhänge des Ukraine-Kriegs sprechen und Verschwörungsmythen entlarven. Dabei helfen im Übrigen nach wie vor Factchecks wie Correctiv, Reuters, Mimikama (AT) oder WDR (natürlich gibt es auch hiergegen Verschwörungen des rechtsextremem Spektrums, dass die Anbieter Propaganda verbreiteten).
- Bessere Vorausschau (Foresight) in Institutionen jeder Art und Redaktionen implementieren. Ich mag Überraschungen - aber keine existenziell bedrohlichen wie den Ukraine-Krieg! Präagieren statt reagieren heißt die Devise. Ich erzähle in den letzten Jahren so viel über Resilienz und dass dafür bessere Beschäftigung mit Zukünften nötig ist; immer mehr Unternehmen haben das verinnerlicht und auch öffentliche Einrichtungen wagen erste Gehversuche. Doch gelegentliches Berichtswesen über mögliche Herausforderungen oder Katastrophen reichen nicht aus: Das Systemdesign einer Organisation muss vom Grunde her neu gedacht werden.
Und: Bitte nicht die russischstämmige Bevölkerung für Putins Verbrechen verantwortlich machen. Die wird in den Standardszenarien der nächsten Jahre und Jahrzehnte am schlimmsten unter den Kriegsfolgen leiden. Das ist es, was mich neben dem unsagbaren Leid der ukrainischen Bevölkerung vergleichbar tief erschüttert: Das knallharte Kalkül, mit dem Putin sein Volk langfristig für den eigenen Machtzuwachs opfert, um ein Denkmal von sich selbst in Kiew aufstellen zu können. Toxische Männlichkeit im Quadrat.
Keine Spekulationen, aber ...
Über folgendes möchte ich an dieser Stelle nicht spekulieren, es jedoch wenigstens genannt haben:
- Mögliche Szenarien für die russische Bevölkerung: Da sehe ich dunkel, ich kenne nur die genaue Schattierung noch nicht. Revolten wären möglich, aber nicht besonders wahrscheinlich, solange der Lebensstandard noch einigermaßen stabil ist. Ein Großteil der Bevölkerung hat ohnehin weder Zugang zu Informationen noch wirtschaftliche Mittel, um tagelang die Arbeit niederzulegen; andererseits gab es nun über 100 Jahre keine mehr und zumindest im Sinne der 1905er Revolution hätte es jetzt vergleichbaren Zündstoff. Vielleicht nicht mehr 2022, vielleicht aber nächstes oder übernächstes Jahr.
- Der Verlauf des Ukraine-Kriegs: Bleibt's bei den beiden "unabhängigen" Regionen im Osten als Landbürcke zur Krim, ggf. der Absetzung der Selenskyj-Regierung oder wird das ganze Land geschluckt? Macht die russische Armee an den Grenzen der Ukraine wirklich Halt oder provoziert Putin den Bündnisfall der Nato, um eine Rechtfertigung für noch Schlimmeres hat? Müssen wir wirklich Angst vor einem dritten Weltkrieg haben bzw. ist der längst existent?
- Die wahren Ziele Putins: Ist es wirklich nur toxische Männlichkeit und der Wunsch einer Statue in Kiew? Das wäre wohl zu einfach gedacht, auch wenn einige Russlandexpert:innen ihm eine lupenreine Paranoia und pathologische Hybris attestieren (angeblich merkt das nun auch sein innerster Zirkel, der von "Totalversagen" spricht). Aus der klassischen Spieltheorie wissen wir, dass das Verhandlungsergebnis immer in der Mitte zwischen zwei Angeboten liegen wird; verschiebt Putin durch die "Militäroperation" die Grenzen der Ukraine nun bis direkt an die EU / Nato, dürfte ihm im Ergebnis maximal das halbe Land bleiben. Putin ist nicht unintelligent, also ...
- Die versteckte Agenda westlicher Regierungen: Diesen Punkt darf man nie vergessen, es ist naturgemäß kein schwarz gegen weiß. Die USA dürften von der ganzen Krise langfristig profitieren, sämtliche Alternativen zu russischen Exporten besonders im Energiesektor, Produktionsstätten wichtiger Industrierohstoffe wie Aluminium und Titan und vieles mehr. Welche mittel- und langfristigen Auswirkungen sich ergeben, hat der sehr geschätzte Zukunftsforscher Victor V. Motti kürzlich in einem Futures Wheel zum Ukraine-Krieg antizipiert.
- Merkwürdige Widersprüche in der Förderpolitik der BRD: 100 Milliarden für Panzer und Raketen, aber nicht mal eine Milliarde als Bonus für Pflegekräfte, geschweige denn Modernisierung von Bildungseinrichtungen? Das wird extrem schwer vermittelbar für eine tendenziell linke Regierung.
- Zukünftige Energie- und Rohstoffpreise: Benzin und Diesel wären auch ohne Krieg und Abwendung von Nord Stream 2 teurer geworden ... Jetzt entstehen zwei neue Hubs in Norddeutschland, um schnell unabhängig zu werden von russischem Gas und Benzin, der Ausbau erneuerbarer Energien wird boomen. Letzteres spielt in die Karten der Ampel-Regierung.
- Folgen für den Fachkräftemangel: Vielleicht bringt der Ukraine-Krieg sogar einen positiven Effekt mit sich, immerhin wandern mit Geflüchteten aus der Ukraine Hunderttausende nach Deutschland. Für den Fall, dass in ihrem Heimatland ein zweites Belarus entsteht, was nicht ganz unwahrscheinlich ist, könnte ich mir gut vorstellen, dass sie gern hier blieben.
- Herausforderungen für die Gesellschaft: Wem tönt nicht das 2015er Merkel-Mantra "wir schaffen das!" durch den Hinterkopf? Integration war noch nie unsere größte Stärke, nicht einmal mit der eigenen Brudernation, der ehemaligen DDR. Ersthilfe klappt in der Regel ganz gut, aber was ist mit Visa, Asyl und Arbeitserlaubnis - unbürokratisch? Viele Ukrainer:innen haben zwar deutsche Wurzeln oder sogar heute noch Verwandtschaft, doch wie bekommen wir Sprachkurse, (Aus-)Bildungsprogramme und kulturelle Verständigung zwischen allen Menschen in Deutschland hin?
- Das internationale Wissenschaftssystem hat sehr von der zunehmenden Öffnung der russischen Wissenschaft profitiert; das könnte nun vorbei sein. 7000 Wissenschaftler:innen aus Russland haben sich gegen den Krieg ausgesprochen, was wahnsinnig mutig ist. Doch wenn infolgedessen die Finanzierung für ihre Institutionen wackelt und es ans Eingemachte geht, steht Russland entweder ein massiver Braindrain bevor oder die Wissenschaft in Russland ist tot, zumindest für den Rest der Menschheit. Der weltweit größte Wissenschaftsverlag Springer hat sich bereits deutlich positioniert. Ob die ISS und folglich die international fast romantisch anmutende Kooperation im "New Space Race" das überlebt, steht in den Sternen.
- Der internationale Sport wird etwas Doping-ärmer. Ich denke, das ist zu verkraften, aber ja, das ist ein blödes Klischee und ich habe ohnehin überhaupt keine Ahnung von Sport. Aber bis hierhin lesen ohnehin die wenigsten - Glückwunsch!
Schluss: Ukraine-Krieg macht ohnmächtig
Es sind traurige Zeiten und mehr denn je spüre ich Ohnmacht. Doch wie immer versuche ich, den Blick auch auf Chancen zu richten. Dazu dann später mehr.
Ende des Statements. Weiter geht's hier mit den üblichen Veröffentlichungen.
Photo by Max Kukurudziak on Unsplash
Letztes Corona-Update: Resilienz 2022+
Wer hat noch Lust auf mehr oder weniger kluge Beiträge über Corona / Covid19? Ich auch nicht. Fast ein Jahr ist es nun her, dass ich mit meinem Pandemie-Beitrag einige Gemüter erhitzt habe. Am 28. Feburar 2021 veröffentlichte ich meine Gedanken darüber, wie wohl der Corona-Sommer 2021 verlaufen könnte und schrieb unter anderem in eine Zwischenüberschrift "Querdenker töten":
Und wo stehen wir jetzt?
Inzwischen ist der Plan der Durchseuchung der Gesellschaft mit Corona (v. a. Delta und Omikron) längst Realität, auch die neue Bundesregierung setzt der kollektiven Verwirrung wenig entgegen und meine Wünsche für beherzte Maßnahmen für mehr Bildung, Gerechtigkeit und Demokratie wirken inzwischen utopisch. Sind wir hier etwa nicht bei "wünsch dir was"? Natürlich nicht.
Dazu fällt mir ein Zitat des Schweizer Schriftstellers Kurt Marti ein:
Wo kämen wir hin, wenn jeder sagte, wo kämen wir hin und keiner ginge, um zu sehen, wohin wir kämen, wenn wir gingen?
Kurt Marti, 1921-2017
Gerade erleben wir eindrucksvoll die Antwort auf diese geniale rhetorische Frage.
Resilienz nach Corona
Die kollektive Krisenerfahrung, die die Menschheit hätte zusammenschweißen können, hat eher zu einer Vertiefung der Gräben geführt. Auch global. Denn schaut man sich den Impfstatus der Staaten bei Statista an, bildet dieser natürlich die Verteilung des globalen Bruttoinlandsprodukts ab. Einerseits konsequent, andererseits weit entfernt von den ach so humanistischen Idealen der Weltgemeinschaft. Andererseits weisen nicht immer demokratische Staaten die höchste Impfquote auf, so führen die Vereinigten Arabischen Emirate die Tabelle an, auch in den Top 10: China und Kambodscha (Quelle: NZZ).
Derweil prallen Meinungen, Gruppen und sogar Staaten aufeinander wie lange nicht mehr. Inzwischen erleben wir die Neuauflage des Kalten Kriegs, der umso heißer wird, je leidenschaftlicher einzelne Menschen oder ganze Staatsregierungen auf ihrem Ego bestehen, anstatt die Argumente der Gegenseite anzuhören. Ob es um die Herkunft des Virus oder die Blockkonfrontation im europäischen Osten geht, die so hoch gelobte Individualisierung hat uns in einen Hobbes'schen Krisenzustand geführt, in dem wieder jeder Mensch des anderen Menschen Wolf ist. Wer nicht meine Ziele unterstützt, ist ganz klar mein Feind - so scheint das Credo vieler (insb. Social Media) Aktivisten.
Leider hat sich parallel der Zustand der Demokratie weltweit verschlechtert, wie die letzte Aktualisierung der berühmten Economist-Studie zeigte; nur noch etwa 45,7 Prozent der Weltbevölkerung lebt in einer Demokratie ggü. 49,4 Prozent im Jahr 2020. Anders als einige Trendforscher und andere Propheten hat sich also leider keine sprunghafte Verbesserung von praktisch allem durch die Pandemie ergeben. Schade.
Corona im Sommer 2022+
Wagen wir also eine (hoffentlich) letzte Prognose, wie es mit der Corona-Pandemie weitergeht. Die Grundbedingungen sind wenig rosig, doch es gibt natürlich auch Hoffnung. Zunächst die Sorgen.
Wir spazieren barfuß auf dem Scherbenhaufen, vielleicht unterlassen Verantwortliche deshalb ruckhafte oder große Schritte. Das Vertrauen in Politik und Medien hat seinen Tiefpunkt erreicht, was eigentlich ein Indiz dafür ist, dass sich "die Medien" oder "die Politik" eben nicht besonders gut absprechen (konträr zur Meinung eines großen Teils der "Systemkritiker"). Wer schon während der Bundestagswahl und den Koalitionsverhandlungen insbesondere gegen den rot-grünen Part der Ampel war, wird nun wenig Verständnis für jede Form der Politik haben. Es ist ja viel einfacher, sich weiterhin auf der eigenen Meinung auszuruhen und die eigene Dagegenheit zur Schau zu tragen, gern bei den grenzwertigen Spaziergängen.
Hoffnung habe ich in folgenden Dimensionen:
- Dank moderner Technologie, öffentlichem Interesse und großen Anstrengungen auf politischer und gesellschaftlicher Ebene ist es sehr schnell gelungen, wirksame Impfstoffe in Rekordzeit zu entwickeln. Ich bin kein bedingungsloser Fan sämtlicher Maßnahmen zur Eindämmung und Bekämpfung der Virusausbreitung. Im Großen und Ganzen jedoch geht aktuell leider auch schnell wieder unter, wie privilegiert wir im globalen Norden sind, überhaupt Zugang zu Hygiene und Gesundheitsversorgung im Allgemeinen, zu einer breiten Auswahl von Impfstoffen im Speziellen zu haben.
- Inzwischen ist empirisch recht gut belegt, dass die Mehrheit der Gesellschaft wenig mit Systemrevolte anfangen kann. Die offiziellen Querdenker-Kanäle sind inzwischen an sich selbst und der Realität zerbröselt, teilweise wurden sie aufgrund der klar systemfeindlichen und nicht selten rassistischen oder antisemitischen Kultur zensiert oder gar verboten. Wer jetzt auch noch den Mut hat, seinen Egotrip zu beenden und Fehler einzugestehen, sollte dafür Anerkennung erhalten. Amnestie für Querdenker!? Das Paradoxe: Inzwischen zieht es einen ordentlichen Teil der Systemopposition aus demselben Grund in die Normalität wie die demokratische Mehrheit - die Schlacht wurde verloren, einige zentrale Köpfe der Bewegung sind gefallen, also zurück zur scheinbaren Konformität.
- Apropos Köpfe: Die Pandemie hat viele kreative und innovative Köpfe zusammengebracht. Einige davon habe ich in meinem Podcast befragt. Ob Nachhaltigkeit, Bildung oder Digitalisierung - nicht alles stand in den letzten zwei Jahren still. Vieles ging in die richtige Richtung, wenn man etwas Mut zur Lücke hat, wird man als Optimist ein Leuchten am Ende des Tunnels sehen.
- Apropos Ende des Tunnels: Mit der Corona-Variante Omikron ist nicht zu spaßen. Nein, auch sie kann tödlich verlaufen, gestern (13.02.2021) sind 42 Menschen in Deutschland am Virus gestorben, aktuell heute wird voraussichtlich die Marke von 120.000 Corona-Toten überschritten (Quelle: RKI). Dennoch ist die Hospitalisierung und auch die Sterberate mit dem Rückgang von Delta ebenfalls gesunken. Aus Perspektive des Virus macht das sogar Sinn: möglichst viele Wirte infizieren, sie aber nicht töten, um anschließend weiterleben zu können. Das heißt für unsere Pandemie-Prognose folgendes: Die Zeichen stehen auf ein baldiges Ende der Corona-Pandemie. Juhu! Dass das nicht bedeutet, dass wir komplett durchatmen können, versteht sich von selbst. Endemie ist nicht gleich: ungefährlich.
Was ist jetzt zu tun für mehr Resilienz?
Aber was wäre dieses Zlog ohne ein paar Denkzettel für die nächsten Monate? Also los:
- Wie ich in meinen letzten Vorträgen zum Thema "Resilienz" gebetsmühlenartig wiederholt habe, ist es nicht damit getan, eine Krise durchzustehen. Klar, als erstes gehört zur Verarbeitung einer schlimmen, traumatischen Erfahrung das Zurechtfinden in der neuen Normalität. Also: Euphorie, Party, Freedom Day! Danach geht's aber an die Aufarbeitung. Nicht zurück zum alten Normal, das ist völliger Unsinn. Es gehört zu jeder vernünftigen Krise, dass das alte Normal mit ihr stirbt. Wer versucht, daran festzuhalten oder dahin zurückzukehren, wird wahnsinning. Ich kenne das unter der Erfahrung einer PTBS. Insofern wünsche ich mir von einer mündigen Zivilgesellschaft, dass sie sich spätestens 2023 an eine umfangreiche Aufarbeitung der Krise, ihrer Ursachen und einer Neugestaltung auf Systemebene setzt.
- Systemebene heißt nicht einfach nur "die Politik", die dank unklarer Kommunikation zu viele Flanken geboten hat, um sogar im Zentrum der Demokratie immer wieder Angriffe hinzunehmen. Die Liste ist zu lang für einen kurzen Beitrag. Systemebene heißt aber eben auch ein neues Selbstverständnis "der Wirtschaft", in dem es nicht mehr sanktioniert werden darf, wenn man sozial und/oder ökologisch wirtschaftet. Der Wandel hat begonnen, doch mit ausschließlich Selbstverpflichtungen wird er zu lange dauern. Wir müssen uns auch wagen, Kapitalismus neu zu denken und wer jetzt automatisch "Sozialist!" rufen möchte, sollte nochmal nachdenken. Das ist keineswegs gemeint, sondern eine verbesserte Neuauflage der sozialen Marktwirtschaft. Und ja, das lohnt sich auch oder insbesondere, wenn anderswo die Demokratie abnimmt.
- Nach der Pandemie ist vor der Pandemie. Wie ich schon am 03.07.2021 in meinem Mini-Podcast "Kai for Future" berichtet hatte, warnte der Weltbiodiversitätsrat (Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services, kurz IPBES) Mitte 2020 davor, andere Viren zu unterschätzen, während die globale Aufmerksamkeit auf Sars-Cov-2 ruht. Wörtlich sagte ich dann:
Es wird geschätzt, dass 1,7 Millionen Viren mit Säugetier- oder Vogel-Wirten aktuell noch unentdeckt sind, von denen wiederum 631-827 Tausend das Potenzial haben, Menschen zu infizieren. Nochmal die Zahl: durchschnittlich 730.000 Erreger warten nur darauf, Menschen zu infizieren. Dazu gehören u.a. einige weitere Coronaviren, aber auch der alte Bekannte H5N1 - Vogelgrippe - und dessen Mutationen.
Kai Gondlach in "Kai for Future" am 3.7.2021
Auf der Website des IPBES findet man alle Daten dazu. Kurz: Wir kommen nicht umhin, die Ursachen der Pandemie gründlich aufzuarbeiten und strukturelle Faktoren zum Teil großzügig anzupassen. Wie früher beschrieben, gehören dazu teils drastische Maßnahmen, die weniger drastisch wären, wenn man früher agiert hätte. Stichwort: Zukunftsforschung.
Und dann? Aufbereitung letzte Pandemie, Vorbereitung auf die nächste
Um die Einstiegsfrage aufzugreifen: Wer hat Lust auf noch eine Pandemie?
Ich denke, niemand. Insofern bereiten Sie sich gern innerlich schon mal darauf vor, auch in den nächsten Jahren zum Teil erhebliche Veränderungen im Alltag wahrzunehmen. Die steigenden Energiepreise der letzten Wochen sind ein erstes Indiz dafür, ähnlich wird es mit einigen Lebensmitteln - vor allem weit gereisten und ökologisch wenig nachhaltigen, wie insbesondere Fleischwaren - ablaufen. Hinzu kommen immer weitere Varianten bzw. Mutationen des vorhandenen Virus. Komplexe Lieferketten werden sich umstellen, Produktion weiterhin regionaler stattfinden. Und da haben wir noch nicht über politische Ungewissheiten wie den "neuen" Block Russland-China gesprochen, der sicherlich einige Auswirkungen auf den "Westen" im Gepäck hat. Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.
Ich bleibe dabei: Zukunft ist eine Frage der Perspektive. Wenn wir uns eine gute Zukunft wünschen, müssen wir auch etwas dafür tun.
Photo by Joshua Rawson-Harris on Unsplash
Ausblick 2022: Corona, Ampel und High-Tech
2021 ist vorbei. Endlich, denken jetzt bestimmt viele. Was erwartet uns im neuen Jahr 2022? Eins ist sicher: Es wird nie wieder so wenige Veränderungen und Überraschungen geben wie im zurückliegenden Jahr. Mit diesem Beitrag möchte ich ein paar Rückblicke geben, vor allem soll es aber um den Ausblick auf 2022 gehen. Anschließend gibt's noch einen sehr persönlichen Rückblick auf ein außerordentlich turbulentes Jahr in meinem Leben.
Allgemeiner Rück- und Ausblick 2021/2022
Zu jedem Ausblick gehört auch ein kurzer Rückblick. Ich bemühe mich um Reduktion aufs Wesentliche, versprochen!
Die wichtigsten Themen im Schnelldurchlauf:
Pandemie: Wie geht's 2022 weiter?
Corona spaltet die Gesellschaft nicht, stattdessen sind die bestehenden Spaltungen offensichtlicher zutage getreten. Noch immer ziehen ungeimpfte Mobs teils mit Fackeln, teils mit Kindern als Schutzschilde [wie in Schweinfurt, siehe 1, 2, 3, 4, 5] durch die Dörfer und wollen gehört werden. Sie sind entweder esoterisch oder aus anderen Gründen kategorisch gegen Impfungen und glauben, ihr Immunsystem komme mit dem Virus klar; sie sind Neonazis oder andere politische Extreme bzw. Radikale und haben nur auf eine Gelegenheit gewartet, die Demokratie anzugreifen und Ungebildete hinter sich zu versammeln; sie sind Ungebildete und/oder digital Abgehängte, die nicht wissen, wie man eine wahre von einer gefälschten Information unterscheidet; schließlich die Ängstlichen, die entweder Angst vor Spritzen haben, Angst vor einem Genozid durch Bill Gates oder Angst vor einem Impfstoff, der schneller denn je entwickelt wurde.
Gegen die Spekulationen hilft Information. Das Paul-Ehrlich-Institut sammelt beispielsweise Nebenwirkungen und Impfschäden und "gibt die durchschnittliche Häufigkeit von anaphylaktischen Reaktionen nach der Verabreichung von derzeit in Deutschland zugelassenen Impfstoffen mit 0,4 bis 11,8 pro 1 Million Impfstoffdosen an" [RKI]. Natürlich gibt es auch noch die Schwerkranken, die sich nicht impfen lassen können, doch das sind verschwindend wenige - die meisten Bedenken hinsichtlich der eigenen Untauglichkeit für eine Impfung werden sehr transparent aufgeklärt und treffen nicht zu. Und selbst bei einer Allergie gegen einzelne Bestandteile eines Vakzins gibt es ja zum Glück inzwischen eine breite Auswahl, bald auch sogenannte Totimpfstoffe. Für eine Übersicht zur Impfung empfiehlt sich die Übersicht des RKI sowie das Impf-Dashboard der Bundesregierung.
Meine Beobachtung nach bald zwei Jahren Pandemie: Es wird noch immer zu viel auf eine laute Minderheit gehört, was eigentlich ein Anzeichen einer guten Demokratie in einer pluralistischen Gesellschaft ist, dennoch bleibt diese Minderheit bei Anklagen, wir lebten in einer Corona-Diktatur; es gibt übrigens eine gruselige Überschneidung in den Splittergruppen, die sich ebenso vor einer Öko-Diktatur fürchten oder seit Jahren eine linksgrünversiffte Verschwörung wittern. Oft werden die hinreichend begründeten Eingriffe ins öffentliche Leben durch die Pandemiemaßnahmen als unrechtmäßige Grundgesetzeinschränkungen überspitzt; dies wurde nun mehrfach von unterschiedlichen Gerichten widerlegt. Umgekehrt rechtfertigen viele Gegner:innen ihre "Meinungsfreiheit", wenn sie die Wirksamkeit der Impfungen, die Wahrhaftigkeit medialer Berichterstattung oder den Hergang der Pandemie anzweifeln; doch auch Meinungsfreiheit hat ihre Grenzen. Um genau zu sein genau dort, wo sie bewusst Lügen oder Fake News verbreitet - in einem Artikel von Mitte 2020 sehr verständlich erläutert von der Bundeszentrale für politische Bildung. Die einzige Logik, die das Handeln und Kommunizieren in den Kommentarspalten in "Social Media" eint, ist die durch den kognitiven Bestätigungsfehler (confirmation bias) befeuerte rekursive Beweisführung - wer oder was anderer Meinung ist, ist offensichtlich ein:e Gegner:in. Das ist keine Polemik, sondern sorgsam beobachtete Alltagspraxis.
Wechseln wir mal die Perspektive.
Infolge der Shutdowns wurden einerseits viele Existenzen bedroht oder mussten aufgeben. Auf der anderen Seite hat die Bundesregierung 57 Milliarden Euro an Zuschüssen ausgezahlt, um genau dies zu verhindern, Kredite wurden in Höhe von 109 Milliarden Euro vergeben (Stand November 2021). Vor allem kleine und mittlere Unternehmen wurden in der "Überbrückungshilfe III" berücksichtigt und gerettet, wovon auch ich profitiert habe. Wer hier noch von einer Diktatur spricht, ist ein Fall für die geschlossene Abteilung oder sollte vielleicht mal ein längeres Praktikum in Belarus machen.
Wir leben im Schlaraffenland und keiner merkt's.
Doch Empörung über diejenigen, die leider durch das Raster fallen oder tragischerweise mit den Antragsformularen überfordert sind, verbreitet sich erheblich effizienter als Erfolgsmeldungen über gerettete Existenzen und Rekordkurzarbeitergeldsummen. Wenn ich mir die Diskussionen bei Facebook, Instagram, Tiktok und Linkedin ansehe, wird mir immer übler. Mein Ansatz ist es immer, die Beweggründe von Skeptiker:innen und Gegner:innen besser zu verstehen; manchmal muss ich mich sehr beherrschen, nicht zynisch zu werden. Oft klappt es aber ganz gut und auf respektvolles Zuhören folgen ehrliche Auseinandersetzungen. Es wäre ja auch zu einfach davon auszugehen, dass eine scheinbar einfache Lösung einfach so von 100% der Bevölkerung angenommen wird. Was oft fehlt, ist gewaltfreie, respektvolle und offene Kommunikation über die Bedürfnisse der Menschen. Vielleicht klappt's ja mit dem neuen Gesundheitsminister, der sich allerdings gerade bei skeptischen Menschen nicht gerade hoher Beliebtheit erfreut.
Wie geht's weiter?
Die Wahrscheinlichkeit für weitere Covid-Varianten ist relativ hoch. Auf Delta und Omikron werden global sicherlich noch einige weitere folgen, viele davon werden es nicht um die Welt schaffen und milder sein als die bisherigen. Im globalen Norden ist inzwischen ein großer Teil der Bevölkerung besser dagegen geschützt, vor allem dank der Impfungen inklusive Booster. Mein Mix besteht übrigens aus AstraZeneca, BionTech und Moderna, da ich von Beginn an auf Kreuzimpfungen gesetzt habe. Der globale Süden wiederum wartet noch auf Impfungen, wodurch das Virus weiter mutieren kann. Bedeutet: Die Fortschreibung des wirtschaftlichen Kolonialismus ist eine medizinische Notlage in zahlreichen Staaten in Afrika, Südamerika und Teilen Asiens. Während viele Menschen keinen Zugang zu vernünftiger Medizin haben, lehnen viele Deutsche die Impfung ab - diese Wohlstandsverwahrlosung widert mich an. Entsprechend unterstütze ich harte Maßnahmen gegen Menschen, die andere Menschen und damit die Gesellschaft auf egoistische Weise immer wieder bei Versammlungen in Gefahr bringen, die Falschmeldungen verbreiten und respektlos (besonders in "Social" Media) gegen alles hetzen, was nicht ihrer Meinung ist. Solidarität war nie wichtiger, doch die haben viele leider verlernt. Dank der Unentschlossenheit oder auch bewussten Opposition gegen Wissenschaft stecken wir noch viele Monate in der Pandemie, die auch im nächsten Winter Maßnahmen notwendig machen dürfte mit der Folge, dass die sich weiter radikalisierenden Covidioten auch mal zu schwererem Geschütz greifen werden. Der große Knall kommt noch und wie es sich für einen Rechtsstaat gehört, warten wir selbstverständlich ab, bis es eine Katastrophe gibt.
Das bringt mich zum nächsten Punkt.
Ampel-Regierung 2022
Die Deutschen haben gewählt und dabei kam erstmals eine Dreier-Koalition als Bundesregierung heraus (wenn man die CSU nicht als eigenständige Partei begreift, was sie ja auch nicht ist). Die sogenannte Ampel-Regierung aus Sozialdemokraten (SPD), Grünen und Freidemokraten (FDP) hat sich relativ schnell nach der Bundestagswahl gefunden und nach kurzen Sondierungsgesprächen und gar nicht mal übermäßig zähen Koalitionsverhandlungen auf einen Koalitionsvertrag geeinigt. Anfang Dezember wurde Olaf Scholz als neuer Bundeskanzler gewählt und der Rest des Kabinetts kann anderswo besser nachgelesen werden. Natürlich habe ich darüber auch in meinem Podcast "Im Hier und Morgen" berichtet. Was wichtig ist: Nach 16 Jahren konservativ geführter Politik freue ich mich unabhängig von der politischen Färbung auf eine progressive Regierung - wir brauchen mehr Veränderung. Denn was die Merkel-Ära auszeichnet, ist einerseits eine herzlichere und gar nicht mal so CDU-typische Kanzlerschaft des "wir schaffen das". Andererseits hat die Politik der kleinen Schritte ehrlicherweise vor allem verwaltet, statt zu gestalten; am Vergangenen festgehalten, statt sich Neuem zu öffnen; die Wogen im Äußeren geglättet, statt eigene Werte zu vertreten. Besonders in der Energie-, Sozial- und Wirtschaftspolitik hat sie bestehende Ungerechtigkeiten und Anachronismen verhärtet, statt sie aufzulösen.
Die Ampel-Regierung versteht sich im Kontrast zur CDU-Ära als Koalition des Aufbruchs. Viele auch strittige Punkte zwischen den einzelnen Parteien wurden erstaunlich schnell und konstruktiv gelöst; das könnte daran liegen, dass die FDP einfach mal wieder mitregieren wollte und somit viele Aspekte abgenickt hat. Was viele erstaunt hat, ist der scheinbare Triumpf der Freidemokraten, die Leitung des Verkehrsministeriums erlangt zu haben; für mich ein kluger Schachzug der Grünen, die ja wissen, dass Verkehr zwar in der Außenwahrnehmung ein wichtiges Ökothema ist, in Wirklichkeit aber Industrie und Ernährung die Hauptemissionsursachen sind. Meine Highlights sind der deutliche Anstieg des Mindestlohns, Bürokratieabbau in der Verwaltung, Neuordnung der Subventionspolitik insbesondere im Landwirtschaftssektor, Kohleausstieg bis 2030 und verpflichtende energetische Gebäudesanierung zum selben Datum. Selbstständigkeit soll stärker gefördert werden, Bildung stärker unabhängig vom sozialen Hintergrund und vor allem digitaler, Renten steigen und vieles mehr. Wenn die kommenden vier Jahre vernünftig genutzt werden sollen, dürfte schon in 2022 vieles auf den Weg gebracht werden. Ich bin gespannt, wie sich die Union positionieren wird, wie häufig Abstimmungen gemeinsam mit der AfD oder der Linken geschehen müssen!
Die politische Landschaft muss sich auf neue Gegebenheiten einstellen. Manche erwarten sogar das Aufbrechen der klassischen links-rechts-grün-Dimension, zumal über 40 zugelassene Parteien andere und teils nur partikulare Interessen vertreten - aber nicht im Parlament vertreten sind. Das Wahlrecht könnte eine Reform vertragen. Vielleicht schiebt die Ampel ja auch ein solches Vorhaben an? Wir werden sehen. Klar ist, dass die Welt komplexer und schneller geworden ist, seit die Bundesrepublik gegründet wurde. Das ist erstmal weder gut noch schlecht, jedoch muss man darauf reagieren, wahre Resilienz üben, Zukünftebildung (Futures Literacy) vorantreiben und Reibungen aushalten.
High-Tech-Trends in 2022
Kryptowährungen wie der Bitcoin , Ethereum und andere "Altcoins" werden weiter im Wert zunehmen. Das war seit deren Erfindung Ende der 2000er Jahre bislang konstant so und doch beäugen viele diese Entwicklung eher skeptisch. Gegen Ende des Jahres 2022 werden sich dann wieder alle, die immer noch keine haben, ärgern. Aber dann ist ja wieder ein Jahr rum und man weiß ja nicht, ob es sich jetzt denn nun noch lohnt. Ich wäre da skeptisch, die größten Kursgewinne dürften im Laufe des Jahres 2022 zu verbuchen sein, doch wenn eine kritische Masse "in krypto macht", ist es vorbei und langweilig. Alle Jahre wieder halt. Ein benachbartes Thema sind die Non-Fungible Tokens (NFT), die weiterhin die Digitalwelt erobern. Wer mit dem Begriff NFTs noch nichts anfangen kann und trotzdem etwas digital unterwegs ist, sollte sich damit mal beschäftigen. Bei Medium gibt’s einen netten Artikel, wie NFTs Netflix und Amazon Prime angreifen könnten.
Das Web 3.0 und das Metaversum sind im Anmarsch, werden aber zurecht von einigen Tech-Pionieren als vollkommen überschätzt dargestellt. Ich denke aber schon, dass in den nächsten Monaten und Jahren immer mehr Menschen immer mehr Zeit in der virtuellen Zweitwelt verbringen könnten, dort Geschäfte treiben, Geld verdienen und ausgeben. Einige werden vielleicht ihre Wohnung überhaupt nicht mehr verlassen, soblad die VR-Headsets und Matrixsuits ihnen eine virtuelle Welt so gut vorkaugeln, dass sich das Aufstehen nicht mehr lohnt. Sie ernähren sich von Pulver oder direkt intravenös, sind im Prinzip wie Palliativpatienten gut umsorgt und doch abwesend. Auf der anderen Seite der Skala dezentralisiert sich die Plattformökonomie der letzten Jahre zunehmend. Direkterer Tauschhandel, freiere Informationsströme, demokratischere Strukturen schaffen so den Sprung aus der Schmuddelecke im Deep und Dark Web. Wäre es nicht schön, wenn die Strafverfolgungsbehörden auch den Sprung ins 21. Jahrhundert schaffen und Cyber-Kriminalität endlich wirksam bekämpfen würden? Aber das bleibt 2022 unter Garantie noch ein Wunschtraum. Allerdings wäre es eine relevante Erwartung eines FDP-geführten Justizministeriums, die sich ja so digital und modern gibt?
Klar, künstliche Intelligenz ist weiter auf dem Vormarsch. Das ist nichts Neues, durchdringt aber endlich stärker auch die deutschsprachige Wirtschaft und Gesellschaft. Öffentliche Verwaltung natürlich noch nicht so sehr. Der oben erwähnte Band "Arbeitswelt und KI 2030" möchte genau das ändern und es gibt zahlreiche andere Aktivitäten (ja, auch staatliche), die den zögernden Organisationen helfen möchten. Dass man vor der Technologie, die ihren Namen völlig zu Unrecht trägt, keine Angst haben braucht, beschreibe ich zum Beispiel in dem Beitrag über "German Angst" gemeinsam mit Dr. Michaela Regneri, den wir auch in einer Podcast-Episode kommentiert haben. Die Transformation geschieht aus Vogelperspektive natürlich auch von selbst, doch ohne Starthilfe wird es zum größten Massensterben von Unternehmen führen. Es scheint unausweichlich, dass aufgrund fehlender Digitalisierung, antiquierter Unternehmensorganisation und schlechter Vorbereitung auf Demografie und Klimawandel ein nennenswerter Teil der Unternehmen die 2020er Jahre nicht überleben wird.
Da haben wir noch nicht von Quantencomputern und deren Anwendungen gesprochen, immerhin hat die Fraunhofer-Gesellschaft ja nun Zugriff auf einen IBM-QC und die Bundesregierung fördert den Aufbau eines eigenen Geräts. Davon hat der Mittelstand in diesem Jahrzehnt zwar nichts mehr, doch einige Produkte und Lösungen werden zeitnah, vielleicht schon 2022, auf den Markt kommen, die nur noch auf Basis eines Quantencomputers errechnet, ver- oder entschlüsselt werden können. Noch weniger anwendungsnah klingt die Entwicklung der Xenobots, also Roboter mit lebendigen Zellen, die beispielsweise auf die Reinigung der Ozeane oder Entschlackung der menschlichen Blutbahnen programmiert werden können und dann "sterben".
Die aktuelle medizinische Revolution ist im Labor weitgehend abgeschlossen und wir profitieren ja schon in hohem Maße von den Vorzügen künstlicher Intelligenz und neuartiger Gentechnologie. So schnell hat es eine Innovation noch nie von der Forschung in die Praxis geschafft, aber irgendetwas Gutes muss Covid19 ja auch haben. Nächstes Jahr werden wir immer mehr Anwendungen auch in der Breite sehen, darunter vielleicht neue Individualtherapien für schwere Krebsfälle oder Diabetes; bessere Früherkennung von schweren Krankheiten in besonderen Arztpraxen und Kliniken; personalisierte Arzneimittel aus neuen Apotheken. Das muss natürlich auch erlaubt sein, ich frage meine Krankenkassen ja regelmäßig, wann sie mir auf Grundlage meiner Genomsequenzierungen individuelle Angebote macht - dauert nocht...
Im Energiesektor bahnt sich seit Längerem eine Renaissance der Kernkraft an. Einerseits sollen die Kraftwerde sehr viel kleiner sein, andererseits nicht nur auf Kernspaltung, sondern Kernfusion basieren. Als ich in der siebten Klasse einen Vortrag darüber hielt, tadelte mich mein Physiklehrer Herr Kruse, dass die Idee zwar nett klinge, aber für immer eine Vision bleibe. Hoffentlich kann ich mich nächstes Jahr bei ihm melden und widerlegen, denn vieles deutet darauf hin, dass 2021 die wichtigsten Durchbrüche erzielt wurden, um ein Plasma zu stabilisieren und in wenigen Jahren tatsächlich ähnlich wie in der Sonne nahezu endlos viel Energie zu erzeugen. Seit Google sich mit Bill Gates zusammengetan hat und viele Milliarden US-Dollar in die Technologie investiert, sehe ich alle Anzeichen auf eine Revolution der Energiebranche. Politisch heikel, technologisch aber vielleicht derdie letzte Bedingung für eine neue Stufe der Zivilisation.
Diese Auflistung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Unter High-Tech oder Bleeding-Edge-Tech versteht jede:r etwas anderes. Vielleicht kommen hier fehlende Themen ja auch mal in meinem Podcast oder Newsletter; ich bin ja auch immer offen für Anfragen und Diskussionen.
Mein privater Rückblick auf 2021: Auf und Ab!
Für viele war 2021 ein Jahr der Turbulenzen, so auch für mich. Es begann mit einigen guten Vorsätzen, unter anderem wollte ich mich ernsthaft auf den großen Hamburg Triathlon - immerhin der größte seiner Art weltweit - vorbereiten. Also ging ich Anfang Januar noch häufiger als sonst joggen, was in einer recht winterlich-vermatschten Umgebung natürlich riskant ist. Und so dauerte es nicht lang, bis ich mir beim Training im Park beide Knie verletzte. Genauer gesagt, waren beide Menisken angerissen. Aua. Da aber zu der Zeit dank der Corona-Shutdowns ohnehin nicht viele Reisen angesetzt waren, konnte ich mich ganz gut zuhause kurieren.
Im Frühjahr entspannten sich die Covid-Inzidenzen wieder, was mir auch wieder mehr Reisetätigkeit bescherte. So war ich bei tollen Kunden unterwegs, sprach öfter als sonst über Resilienz und habe unter anderem der Filmindustrie vorgerechnet, wann schauspielerfreie Filmproduktionen machbar sein werden. Dabei kam mir auch eine eigene Idee für eine Science-Fiction-Produktion, welche seitdem verfolgt wird - ist aber noch nicht spruchreif.
Nach ein paar Wochen Schonung und neuen Einlagen in den Schuhen habe ich mich dann auf das Fahrrad- und bald auch Schwimmtraining konzentriert. Schwimmen lief in der Leipziger Seenlandschaft problemlos, doch der nächste große Rückschlag geschah im Juli beim Radeln. Ich war gerade im meinem RedBull-Rennrad (R.I.P.) rund um Leipzig unterwegs und fuhr wieder von Westen über Plagwitz in die Stadt, eine vertraute Strecke. Das dachte sich wohl auch eine Autofahrerin, die beim Abbiegen nicht so genau hinsah und mich beim Anfahren vom Sattel riss. Ich war einige Minuten bewusstlos und als ich wieder zu mir kam, war mein erster Reflex, meine Hände und Füße zu bewegen - erfolgreich! Erleichterung! Alles andere war erstmal sekundär. Alles andere war: Schlüsselbeinbruch, mehrere Rippenprellungen, Hämatome und Platzwunden, ein abgebrochener Zahn, ein eingerissenes Ohr und natürlich ein leichtes Schädel-Hirn-Trauma. Und natürlich die Tatsache, dass der Traum vom Triathlon aus war. Zwei Wochen später wurde ich dann entgegen einer Ersteinschätzung doch operiert und bekam eine Titanplatte in die Schulter implantiert, die dort nun für zwei Jahre wohnen wird. Ziemlich unangenehm alles, aber hey: es hätte schlimmer kommen können.
Am 31. Juli war dann noch eine ganz besondere Frist: Die Abgabe des Manuskripts für den Band "Arbeitswelt und KI 2030", den ich gemeinsam mit Inka Knappertsbusch bei Springer herausgebe. Inzwischen ist das Buch, das 41 Beiträge von 78 renommierten Expert:innen aus Forschung und Wirtschaft enthält, auch verfügbar und kann beispielsweise bei Amazon oder Buch7 oder Springer direkt bestellt werden. Aber zurück zum Thema: meinen eigenen Beitrag für den Band sowie die letzten Korrekturen habe ich in einem Krankenhausbett im Leipziger Uniklinikum unter recht starken Schmerzen finalisiert - wenn das mal kein Einsatz mit Herzblut ist! Aber so ist das Leben der Selbstständigen eben. Wenn es eine Frist gibt, wird die auch ernst genommen!
Zwei Wochen nach der Entlassung aus dem Krankenhaus stand dann wiederum ein lebensveränderndes Ereignis an: Am 13. August habe ich die Liebe meines Lebens geheiratet! Unser Standesamt kennen einige vielleicht aus dem Fernsehen, da dort die meisten Episoden von "Hochzeit auf den ersten Blick" ihr Finale erlebten. Wir kannten uns aber schon ein bisschen länger... Einen Tag danach konnten wir dann sogar mit all unseren Freunden und Verwandten in tollen Leipziger Locations feiern (>90% geimpft, alle getestet). Zwei Tage pure Glücksgefühle, auch wenn der Hochzeitstanz und die vielen Umarmungen der Wundheilung meiner Schulter nicht unbedingt zuträglich waren.
Schließlich endete das Jahr mit einer traurigen Wendung. Mein Vater ist Anfang September im Alter von 87 Jahren zum letzten Mal eingeschlafen. Wer mir schon länger folgt, weiß, dass ich ihn immer genannt habe, wenn es um die Frage ging, wie ich zur Zukunftsforschung gekommen bin. Wir hatten ein sehr gutes Vater-Sohn-Verhältnis und er hat mich auch in den letzten Jahren immer noch geprägt. In einem Buch namens "Papa, erzähl mal", das ich ihm zum 80. Geburtstag geschenkt und mir ausgefüllt zurückgewünscht hatte, schrieb er:
Sein Leben war für einen Jahrgang 1934 äußerst abwechslungsreich und in der ersten Hälfte auch reiseintensiv. In der zweiten kamen dann Selbstständigkeit und mein Bruder und ich dazu sowie schließlich eine ruhige Rentenzeit. Sein Abschied kam nicht vollkommen unerwartet, ging jedoch insgesamt relativ schnell; besonders dankbar bin ich dafür, dass er sich noch von seinem engsten Kreis verabschieden konnte, bevor wir seine Asche in einem Friedwald in der Nähe meiner Geburtsstadt Itzehoe beisetzen konnten.
Fazit: Alles anders, alles gleich
Auch das neue Jahr 2022 wird sich vor allem dadurch auszeichnen, dass vieles anders wird als erwartet. Als Zukunftsforscher kenne ich natürlich viele Entwicklungspfade, sonst bräuchte es ja keine Zukunftsforschung und Foresight. Als ursprünglicher Soziologe und Politik-/Verwaltungswissenschafler habe ich jedoch auch immer die Gesellschaft im Ganzen im Blick und stelle immer wieder fest, wie groß die Entfernung der Pioniere zu der stillen Masse ist. Es sollte nicht jede:r potenziell Raketenwissenschaftler:in werden können, doch ein Verständnis der wesentlichen Grundlagen der moderenen Gesellschaft wäre wichtig. Nur so begreifen Menschen Komplexität und Unplanbarkeit, nur so können sie echte von falschen Informationen unterscheiden, nur so ein zufriedenes und mündiges Leben führen. I have a dream...
Was sich ändert: Es stehen einige technologische Durchbrüche vor dem Beginn ihrer Kommerzialisierung; einige habe ich oben genannt. Worauf ich besonders gespannt bin, ist die Regionalisierung von Wertschöpfungsketten insbesondere in der Energiespeicher-/Batterieindustrie. Möglicherweise gelingt es Neuralink erstmals, Hirnimplantate für Menschen zum Einsatz zu bringen und einfache Gedanken an eine Maschine zu übertragen - der Startschuss für eine Wikipedia auf Gedankenabruf und damit die nächste Stufe des Transhumanismus. Es stehen fünf Landtagswahlen an: im (noch) Groko-Saarland, in (noch) Jamaika-Schleswig-Holstein, in (noch) schwarz-gelb-NRW und (noch) Groko-Niedersachsen. Wenn der Green New Deal ernsthaft umgesetzt wird, werden das Verbraucher:innen und Unternehmen deutlich zu spüren bekommen, nicht zuletzt durch die bereits begonnenen Umwälzungen an den internationalen Finanzmärkten in Richtung post-fossil. Dieser Drahtseilakt wird freilich nicht ohne Turbulenzen ablaufen, stellen Sie sich schon mal auf einen bunten Blumenstrauß von Wild Cards ein.
Was gleich bleibt: Wir leben in einer stabilen Demokratie, können uns auf die wesentlichen Pfeiler der Gesellschaft verlassen. Es droht weder der Zusammenbruch des Parlaments nach Weimarer Vorbild noch eine furchtbare Revolution der Querdenker. Die Preise steigen in fast allen Konsumbereichen und auf dem Weltmarkt, möglicherweise platzt die Immobilienblase nächstes Jahr, und klar, die Weltmächte sortieren sich gerade neu. Der Digitalisierungsschub durch die Pandemie wird anhalten und Automatisierung auch in akademische Berufe vordringen; es bleibt uns auch nichts anders übrig, da wir zu wenig Fachkräfte haben. Die Schwerkraft bleibt uns erhalten, die Klimakrise spitzt sich weiter zu und wir werden nicht müde, auf Risiken und Chancen hinzuweisen.
Doch was auf jeden Fall bleibt: Ich werde berichten, kommentieren und optimistisch nach vorn schauen. Irgendwer muss den Job ja erledigen.
Disclaimer
Dieser Beitrag ist eine gekürzte und alternative, aber verwandte Fassung des Linkedin-Artikels "2021/2022: Rück- und Ausblick vom Zukunftsforscher" und erscheint in ähnlicher Form als Episode am 30. Dezember 2021 in meinem Podcast "Im Hier und Morgen".
Happy World Futures Day!
Der 2. Dezember wurde kürzlich von der UNESCO als "World Futures Day" (Weltzukünftetag) deklariert. Das ist heute. Also: Alles Gute zum Weltzukünftetag!
Warum Zukünfte?
Wir Menschen sind nach wie vor Säugetiere und zu einem hohen Grad durch unsere Biologie bestimmt, was auch gut ist. Doch in einer immer globaleren und vernetzteren Welt, die zu einem nennenswerten Anteil durch das Handeln komplexer staatlicher und privatwirtschaftlicher Organisationen gestaltet wird, brauchen auch wir Menschen neue Fähigkeiten. Insbesondere in Zeiten multipler Krisen (ich bevorzuge den Begriff "Herausforderungen") wird offenkundig, was passiert, wenn Menschen allein gelassen werden. Sie fühlen sich ohnmächtig, bevormundet, unwichtig.
Das hat die UNESCO (die Organisation für Bildung, Wissenschaft und Kultur der Vereinten Nationen) früh erkannt. Seit 2021 unterhält sie daher den dauerhaften Sitz für Zukünftebildung (Futures Literacy). Denn der Umgang mit Komplexität, mit potenziell gefälschten Informationen in den (Online-)Medien, mit möglichen Zukünften muss gelernt sein! Auch im deutschsprachigen Raum kommt diese Erkenntnis immer mehr an, so ist die Initiative ZUKÜNFTE emsig dabei, Personen und Organisationen für die Zukünfte zu sensibilisieren. Einen der Treiber dieser Entwicklung, Dr. Stefan Bergheim, hatte ich ja auch schon mal zu Gast in meinem Podcast "Im Hier und Morgen", gemeinsam mit Lena Tünkers.
Es ist noch viel zu tun auf dem Weg in eine wirklich mündige Gesellschaft. Aber im Grunde ist es gar nicht so schwer; einfach auch mal über den Tellerrand schauen, andere Quellen prüfen, mögliche Szenarien überlegen und sich nicht ausschließlich von den Pfaden der Vergangenheit leiten lassen.
Auf eine gute, gesunde und mündige Zukunft - oder besser viele Zukünfte ;-)
Armin Laschets antisemitische Vergangenheit?
Armin Laschet, Kanzlerkandidat der CDU bei der Bundestagswahl 2021, könnte konservativer sein, als allgemein bekannt ist. Um nicht zu sagen: Laschet fiel in der Vergangenheit durch antisemitisches und NS-verherrlichendes Gedankengut auf. Angesichts der langjährigen Regierungsbeteiligung der Union wundert es allerdings nicht, dass diese Vergangenheit ad acta gelegt scheint. Durch Zufall stieß ich Anfang September im offiziellen Wikipedia-Artikel über Armin Laschet auf eine Passage, die mich stutzig machte:
„1988 war Laschet als Redenschreiber im Team von Bundestagspräsident Philipp Jenninger (CDU) tätig, bis der wegen seiner Gedenkrede zu den Novemberpogromen 1938 zurücktreten musste.“[1]
Die Referenz leitete leider zur falschen Quelle, weshalb ich selbst Nachforschungen anstellte. Zwei Fragen haben mich dabei geleitet: Warum trat Jenninger zurück und welche Rolle spielte Laschet dabei?
Warum trat Jenninger zurück?
Am 10. November 1988 hielt Bundestagspräsident Philipp Jenninger eine Rede (Audio und Transkript vorhanden[2]) im Deutschen Bundestag in Bonn anlässlich des 50. Gedenktages der NS-Novemberpogrome (Beginn 09.11.1938, auch Reichspogrom- oder Kristallnacht genannt). Es gab bereits im Vorfeld einen Eklat, als neben sämtlichen Fraktionen selbst der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland keine Redezeit erhielt.[3] Armin Laschet, damals noch als Journalist tätig, arbeitete für Jenninger – dass das nicht in seinem offiziellen Lebenslauf der CDU[4] auftaucht, wundert nicht. Die Presse im Ruhrgebiet wiederum erwähnte den „Fauxpas“ 2010.[5] Die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung wiederum nennt Laschets Rolle in der Sache, relativiert aber auch die Schwere der Entgleisungen.[6]
Zitate aus der Rede:
- „Die Juden in Deutschland und in aller Welt gedenken heute der Ereignisse vor 50 Jahren. Auch wir Deutschen erinnern uns an das, was sich vor einem halben Jahrhundert in unserem Land zutrug, …“
- „Die Jahre von 1933 bis 1938 sind selbst aus der distanzierten Rückschau und in Kenntnis des Folgenden noch heute ein Faszinosum insofern, als es in der Geschichte kaum eine Parallele zu dem politischen Triumphzug Hitlers während jener ersten Jahre gibt.“
- „Machte nicht Hitler wahr, was Wilhelm II. nur versprochen hatte, nämlich die Deutschen herrlichen Zeiten entgegenzuführen? War er nicht wirklich von der Vorsehung auserwählt, ein Führer, wie er einem Volk nur einmal in tausend Jahren geschenkt wird?“
- „Und was die Juden anging: Hatten sie sich nicht in der Vergangenheit doch eine Rolle angemaßt – so hieß es damals -, die ihnen nicht zukam? Mußten sie nicht endlich einmal Einschränkungen in Kauf nehmen? Hatten sie es nicht vielleicht sogar verdient, in ihre Schranken gewiesen zu werden? Und vor allem: Entsprach die Propaganda – abgesehen von wilden, nicht ernstzunehmenden Übertreibungen – nicht doch in wesentlichen Punkten eigenen Mutmaßungen und Überzeugungen?“
Es gibt auch richtige und wichtige Bezichtigungen der Grausamkeit und Manie der Nazis. Doch das rückt die Auswüchse nicht ins Licht. Es handelt sich bei dieser Rede um eine eindeutig NS-verherrlichende und Holocaust-relativierende Rhetorik; und in diesem Sinne vollkommen unangemessene Rede eines deutschen Amts- und Würdenträgers. Viele Stellen lassen sich nicht anders als „rechtsextrem“ feststellen. Das habe ich mit einer Historikerin und NS-Expertin geklärt.
Folgerichtig trat Philipp Jenninger am nächsten Tag aufgrund der öffentlichen Reaktionen zurück.
Welche Rolle spielte Laschet bei der rechtsextremen Rede?
Armin Laschet hat 1988 für den damaligen Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger als einer der Redenschreiber gearbeitet. Welchen Anteil Laschet zur Rede beigesteuert hat, ist unklar. Klar ist, dass er deren Inhalt darauf wenig später verteidigte. Genauer: Er veröffentlichte wenig später gemeinsam mit seinem Schwiegervater und Verleger Heinz Malangré das Buch „Philipp Jenninger. Rede und Reaktion“ mit schwarz-rot-golden eingerahmtem Titel. Darin verteidigen sie die Rede, drücken ihr völliges Missverständnis über die öffentlichen Reaktionen aus und bekräftigen stattdessen, dass viele Bürger die Rede großartig fanden.
Es steht also außer Frage, dass zumindest vor 32 Jahren Armin Laschet, Kanzlerkandidat der CDU 2021, deutlich braun gefärbtes Gedankengut in sich trug.
Diese Episode ist im Wahlkampf 2021 noch nicht aufgetaucht, ich konnte keine Statements dazu finden, lediglich weitere Sekundärquellen. Meiner Ansicht nach ist diese dunkle Episode im Lebenslauf eines Kanzlerkandidaten eine wichtige Information für die Wähler:innen.
Referenzen (alle abgerufen am 11.09.2021)
[1] Seite „Armin Laschet“. In: Wikipedia – Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 11. September 2021, 08:39 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Armin_Laschet&oldid=215493268
[2] Die gesamte Rede als Audio beim SWR: https://www.swr.de/swr2/wissen/archivradio/philipp-jenningers-rede-am-jahrestag-der-reichspogromnacht-1988-102.html und als Transkript: https://www.severint.net/2019/11/10/dokumentiert-philipp-jenningersrede-1988-zum-jahrestag-der-novemberpogrome/ - 21 Jahre später griff der WDR das Thema erneut auf: „Rede und Reaktion: Die verunglückten CDU-Worte zum 9. November“, 20.11.2019 https://blog.wdr.de/landtagsblog/rede-und-reaktion-die-verunglueckten-cdu-worte-zum-9-november/
[3] Bundeszentrale für politische Bildung: https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/171555/ungluecklicher-staatsakt-philipp-jenningers-rede-zum-50-jahrestag-der-novemberpogrome-1938
[4] https://archiv.cdu.de/system/tdf/media/dokumente/lebenslauf_laschet.pdf (Zugriff bei allen Links am 11.09.2021)
[5] Ruhrbarone: „Der Kandidat von morgen und eine Rede von gestern“, 05.07.2010 https://www.ruhrbarone.de/der-kandidat-von-morgen-und-eine-rede-von-gestern/13630
[6] Konrad-Adenauer-Stiftung: https://www.kas.de/de/web/geschichte-der-cdu/personen/biogramm-detail/-/content/armin-laschet-v1
Foto Armin Laschet: Von Olaf Kosinsky - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=97943526
Globale Krisenlandschaften in der Zeitschrift für Zukunftsforschung
Sie ist die deutschsprachige Instanz für wissenschaftliche Zukunftsforschung: die Zeitschrift für Zukunftsforschung (ZZF). Seit Langem wollte ich einen Beitrag dafür schreiben, um den Draht zur akademischen Zukunftsforschung nicht zu verlieren. In der jüngsten Ausgabe ist es endlich soweit und meine Replik auf einen sehr spannenden Vortrag, den Lars Brozus beim Netzwerk Zukunftsforschung gehalten und dann zu einem Essay verschriftlicht hat, ist erschienen: es ging um "Globale Krisenlandschaften, die Zukunftsforschung und Entscheidungshilfen für die Politik", veröffentlicht in der ZZF Vol. 2021 (1), 2021. Weitere Repliken schrieben Prof. Dr. Dr. Axel Zweck, Prof. Dr. Heiko von der Gracht & Prof. Dr. Stefanie Kisgen und Dr. Christian Neuhaus. Der Tenor: kritische Zukunftsforschung ist zu selten in politischen und administrativen Gremien verankert, um ihre volle Wirkung zu entfalten.
Der Beitrag kann kostenlos hier gelesen werden: https://www.zeitschrift-zukunftsforschung.de/ - und die Zeitschrift ist auch darüber hinaus lesenswert. Teilen erwünscht ;-)
Photo by Robert Metz on Unsplash