Whitepaper HR: Das Ende der Personalabteilungen. Warum sich HR selbst abschafft.

Das Ende der Personalabteilungen.

Warum sich HR selbst abschafft.

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von Zukunftsforscher.de und Digital Competence Lab mit einem Vorwort der Corporate Health Initiative

Kernthesen auf einen Blick

Themen:

  • Recruiting: Vom Arbeitgeber- zum Arbeitnehmermarkt
  • Organisation: Die Wahrheit hinter „New Work“
  • (Projekt-)Management: Holokratie ist das neue Scrum
  • Paradoxon: Digitalisierung steigert den Wert menschlicher Interaktion
  • CARE: Personalstrategie in einem Wort

Dieses Whitepaper ist eine pointierte Darstellung der Schlüsselkompetenzen für zukunftsfähige Personalstrategien. Grundlage sind Erkenntnisse der wissenschaftlichen Zukunftsforschung und praktischer Erfahrungen der Autoren. Fünf Dimensionen rahmen die wichtigsten Handlungsfelder für Personalverantwortliche in kleinen, mittelständischen und großen Unternehmen.

Recruiting: Arbeitgeber bewerben sich bei ihren Arbeitnehmern – dieser Trend weitet sich im kommenden Jahrzehnt auf sämtliche Qualifikationsbereiche aus. Organisationen benötigen einen automatisierten Personalprozess: prädiktive Erkennung von Bedarfen, Analyse von Emotionen und Psychogrammen, fluides Bewerber– und Mitarbeitermanagement.

Organisation: Personalarbeit wird nicht mehr sinnvoll in einer Abteilung gedacht, sondern dezentral. Die gesamte Aufbauorganisation ist betroffen. New Work ist keine Haltung, sondern ein Dauerprojekt zur Mitarbeitergewinnung und -bindung.

(Projekt-)Management: Die Rahmenbedingungen des kommenden Jahrzehnts – v.a. Digitalisierung, demografischer Wandel – zwingen Unternehmen in eine projektbasierte Planung. Rigide Strukturen haben ausgedient. Holokratische (engl. holacracy) Organisation liefert Teilantworten für die agilere, resilientere Unternehmensorganisation in VUCA-Zeiten.

Paradoxon: Unternehmen automatisieren zunehmend Expertentätigkeiten. Folglich steigt die Nachfrage nach den (vorerst) nicht automatisierbaren Fertigkeiten, welche primär auf Softskills abzielen. Arbeitnehmer, die an dieser Stelle hohe Kompetenzen vorweisen, werden im Gehaltsgefälle überproportional von der Digitalisierung profitieren.

CARE: Candidate—AI—Responsibility + Relevancy + Relationships—Experience + Exnovation. Diese vier Dimensionen beschreiben die Erfordernisse einer erfolgreichen, zukunftsfähigen Personalstrategie für das Jahr 2030 und den strategischen Weg dorthin.

Vorwort: Die Zukunft der Arbeit. Weichenstellung für Erfolg oder Niederlage

Die sogenannte „moderne Arbeitswelt“, „New Work“ – auf den ersten Blick erscheint sie Arbeitgebern und Arbeitnehmern dynamisch, flexibel, kraftvoll und erfolgsverwöhnt. Auf der anderen Seite ist sie geprägt von komplexen Prozessen, Globalisierung, Veränderungsdruck und hoher Arbeitsbelastung. Ein öffentlichkeitswirksames Bild zukunftsorientierter Firmen mit Strahlkraft ist das Ergebnis einer langjährigen Mammutaufgabe eines jeden Geschäftsführers und Personalverantwortlichen – es betrifft gleichermaßen Kleinstbetriebe, Familienunternehmen sowie die DAX-Konzerne. Bei all den Herausforderungen der Gegenwart – wie der demographischen Entwicklung begegnet werden soll, wie die Digitalisierung mit den Bedürfnissen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Einklang gebracht werden kann und welche Schritte es für die Positionierung als attraktiven Arbeitgeber bedarf – steht eine zentrale Managementaufgabe im Vordergrund: Der wertfreie Blick ins Antlitz der sich wandelnden Gesellschaft.

„Unabhängige Variablen“: So wurden die Optimierung des Kerngeschäfts und die Verantwortungsübernahme für die Gesundheit der eigenen Belegschaft in der Unternehmensführung der deutschen Wirtschaft lange Zeit betrachtet. Nachdem die Global Player bereits vor Jahren entsprechende Maßnahmen zur Entwicklung einer neuen Unternehmenskultur eingeleitet haben, spürt nun auch der ortsansässige Handwerksbetrieb den aufkommenden Druck, sich der ökonomischen, ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit und somit dem gesellschaftlichen Anspruch zu stellen.

Die in unserer Deutschland-Trendstudie ermittelten Werte sind Sinnbild für die strategische Neuausrichtung der Unternehmensaufgaben. So stieg in den vergangenen sechs Jahren der Anteil der Einbindung der Geschäftsführung in die Etablierung eines Corporate Health Managements um 18,6 Prozent. Ähnlich wie im 19. Jahrhundert die Vorreiter der Industrialisierung den Grundstein für die heutigen – sowohl positiven als auch negativen – Entwicklungen gelegt haben, so werden in einigen Jahren jene Arbeitgeber den fortschreitenden Prozess des Wandels neu justieren, die sich der heutigen Gesellschaft stellen und mit einem nachhaltigen Ansatz, mit Wertschätzung und Weitsicht voranschreiten – um sich und die eigene Belegschaft gemeinschaftlich zum Wachstum zu befähigen. Es stellt sich nur die Frage der Perspektive: Bedrohung oder Erfolgsfaktor?

Die Lösung für Arbeitgeber und Arbeitnehmer liegt in der unternehmensindividuellen Konfrontation der Geschäftsführung mit einem strategischen Personalmanagement begründet, welches nachhaltig die Weichen für eine gesunde und motivierte Belegschaft stellt. Denn auch – oder gerade – auf Arbeitnehmerseite kann die heutige und künftige Arbeitswelt, die von hoher Flexibilität, Digitalisierung, höchsten Ansprüchen und Internationalisierung geprägte Arbeitswelt Unbehagen auslösen. Das so oft skizzierte Bild der scheinbar wünschenswerten neuen Arbeitsweisen lässt an vielen Stellen einen neuartigen Druck im (Arbeits-)Alltag aufkommen, für den angesichts der Veränderungslawinen verständlicherweise ein steter Anpassungsbedarf zu verzeichnen ist.

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind auf die Impulse und anhaltende Hilfestellung in die neuen Arbeitsmodelle der Zukunft durch den Arbeitgeber angewiesen. Neben den neuen Errungenschaften flexibler Arbeitszeiten, ergonomischer Arbeitsplätze, Gesundheitschecks und digitaler Gesundheitsportale und -apps, bedarf es gleichzeitig der Berücksichtigung der intrinsischen und immateriellen Bedürfnisse nach Sicherheit, Vertrauen, Wertschätzung und Struktur – in einer offenen und neuen Welt.

Die Herausforderungen sind bekannt. Ihre Umsetzung erfordert neues Denken.

Herzlichst Ihr
Steffen Klink

EuPD Research Sustainable
Management GmbH
Director of Social Sustainability
Leitung Corporate Health Award | Initiative | Akademie

Editorial der Autoren

Dieses Whitepaper beschreibt pointiert die größten und wahrscheinlichsten Verschiebungen (Trends) sowie deren Ursachen und Auswirkungen in den kommenden zehn Jahren für den Personalbereich. Keine Science-Fiction, keine haltlosen Spekulationen, sondern die Verknüpfung der relevantesten Strömungen der SPLEETE-Dimensionen (Society, Politics, Law, Economy, Ecology, Technology, Ethics) mit Bezug auf den Bereich der Personalstrategien. Die vorliegende Abhandlung entstand auf der Basis einer Kooperation von Zukunftsforscher.de, Digital Competence Lab und Corporate Health Initiative und ist nicht interessengeleitet, sondern benennt die relevantesten Szenarienbündel basierend auf Erkenntnissen der laufenden Zukunftsforschung sowie der praktischen Erfahrungen der beteiligten Institutionen. Die Inhalte sind zugespitzt für die Zukunftsperspektive, kurz und bündig hergeleitet und basieren auf einem umfangreichen Thesensatz der Autoren. Das bedeutet auch: Wir fokussieren auf die wirklich wichtigen Verschiebungen und schreiben nicht über Megatrends oder Wild Cards. Ganz ohne Nennung der beiden letzteren kommen wir aber auch nicht aus.

Digitalisierung und Globalisierung durchdringen immer stärker alle Lebensbereiche. Der Anstieg der Rechenleistung von Computern und der Leistungsfähigkeit „künstlicher Intelligenz“ wird im kommenden Jahrzehnt noch erheblich ansteigen (weiterhin exponentiell, vgl. „Moore’s Law“). Gleichzeitig wächst die Geschwindigkeit von Innovations- und Veränderungszyklen überproportional zur Anzahl der in einem System beteiligten Akteure (Metcalfe’s Law). Hiervon profitieren infolge der Verbreitung des weltweiten Internet, globalen immer offenerer Märkte und des Industrial Internet of Things (IIoT) vor allem heutige Schwellenländer. Stillstand ist in diesem dynamischen Umfeld keine Option.

Eine zentrale Grundannahme dieses Whitepaper ist: die fundamentalen Mechanismen, gelernten Prozesse und Organisationsformen von Unternehmen in industrialisierten Staaten eignen sich nicht dafür, in einer digital-globalisierten Welt mit dem Veränderungstempo der aufstrebenden Konkurrenz mitzuhalten. Und doch – und es mag paradox klingen – wird infolge des technologischen Fortschritts der einzelne Mensch auf neue Weise ins Zentrum der Wirtschaft rücken.

Es gehören auch düstere Prognosen zur Erkenntnisgrundlage dieses Papiers. Das kommende Jahrzehnt wird durch das größte Massensterben von Unternehmen in die Geschichte eingehen. Häufigste Ursache für die Liquidierung ist das Verschlafen von Innovationen, und zwar sowohl im technologischen als auch im personellen Kontext, in sämtlichen Branchen und Unternehmensgrößen. Sogenannte „Disruption“ ist eine Mär und passiert nur dann, wenn Unternehmen keine strategische Vorausschau betreiben. Einzelne Akteure verlassen sich oft blind auf Herdendummheit (das Gegenteil von Schwarmintelligenz), was auch in wenigen Jahren zur nächsten globalen „Finanzkrise“ führen wird.

Im besten Fall attraktiverer wirtschaftspolitischer Rahmenbedingungen entstehen allerdings mehr neue Unternehmen denn je. Die Rahmenbedingungen waren im Durchschnitt nie besser für Neugründungen, obwohl die sozialen und förderseitigen Hürden zur Unternehmensgründung immer noch höher sind als sie sein müssten. Neben „klassischen“ neuen Unternehmen werden sich in den kommenden Jahren auch immer mehr DAOs (decentralized autonomous organizations) tummeln, die ganz ohne Personal auskommen und dennoch mit Ihnen Geschäfte abwickeln werden. Diese werden auch legislativ einen Rahmen haben, Rechte und Pflichten genießen, Steuern zahlen und als „elektronische Person“ eigenes Vermögen und damit Macht akkumulieren.

Dieses Positionspapier will weder Lexikon noch Schablone sein, sondern Impulsgeber für Veränderung. In diesem Sinne:

Futuristische Grüße und eine inspirierende Lektüre!

Kai Gondlach & Sven Göth

Recruiting: Vom Arbeitgeber- zum Arbeitnehmermarkt

Zukunft

Die Vollbeschäftigung hat die Grundregeln des Arbeitsmarkts verändert. Während der Anteil der fest gebundenen Angestellten deutlich gesunken ist, sind  neue Formen des Projektarbeitertums entstanden. Diese freiberuflichen Arbeitskräfte verkaufen ihre Fähigkeiten und Kenntnisse an mehrere Auftraggeber oder Arbeitgeber in sehr fluiden Teilzeitverträgen. Es wird für Arbeitgeber immer schwieriger, Personal zu rekrutieren und zu binden, da der verfügbare und doch oft gebundene Pool an Arbeitnehmern zu komplex für einen menschlichen Personaler ist. Kaum jemand bewirbt sich noch für einen Job.

Das Fach- und Arbeitskräfte-Rekrutierungsmanagement ist längst automatisiert: Virtuelle Recruiter (Bots) durchsuchen permanent und autonom Bewerberprofile im Internet und prüfen diese auf Konformität (Potential, Kultur), den potentiellen Wechselwunsch und die nötige Weiterqualifizierung für die zu besetzende Stelle. Die Qualifikationserfordernisse spalten sich in „Super-Spezialisten“, „Generalisten“ und „Ungelernte“. Informelle Qualitäten und Softskills werden wichtiger als formelle Bildungsabschlüsse.

Strategieansätze

  1. Das Unternehmen Starling Trust betreibt eine Lösung zur Messung des gegenseitigen Vertrauens in Teams. Die Software analysiert die Kommunikation unter den Mitarbeitern und schlägt Alarm in kritischen Situationen, damit Führungskräfte oder auch Mitarbeiter untereinander rechtzeitig über angespannte Themen sprechen. Im Zweifel lohnt sich eine gezielte Mediatorenausbildung, wenn es zu sehr hakt.
  2. Social Recruiting: immer mehr KMU incentivieren ihre eigenen Mitarbeiter für die Weiterempfehlung von Stellenausschreibungen in ihren sozialen Kreisen. Dafür ist zunächst wichtig, die eigenen Arbeitnehmer glücklich und loyal zu machen. Employer Branding 2030 kennt und bedient die individuellen Bedürfnisse jedes Arbeitnehmers und der potentiellen Zielgruppe und wirbt auf allen relevanten, v.a. digitalen Kanälen für Tätigkeiten und Zusammenarbeit mit dem Unternehmen.
  3. Das automatisierte „Crawlen“ gängiger Bewerberportal gehört zur wichtigsten Fertigkeit eines modernen Recruiting. Algorithmen suchen nach formellen und informellen Kompetenzen, um diese mit offenen Stellen und nehmen den heutigen Recruitern einen großen Anteil der manuellen Arbeit ab, um schließlich nur eine kleine Auswahl geeigneter Personen für die engere Auswahl zu präsentieren.

Historie

Je nach Branche und Qualifikationsprofil herrschte bis in die 2000er Jahre hinein im deutschsprachigen Arbeitsmarkt ein Überangebot an Arbeitnehmern. Arbeitnehmer mussten sich bei mehreren Wunsch-Arbeitgebern bewerben, um ihre Arbeitskraft (Human Resources) günstig zur Verfügung zu stellen. Das Machtverhältnis war klar: Arbeitgeber konnte hohe Ansprüche stellen, die Arbeitnehmer waren Bittsteller.

Infolge des demografischen Wandels (Babyboomer-Generation vs. „Pillenknick“) kommt es seit Mitte der 2010er bis ca. 2030 zu einem massenhaften Übergang von Arbeitnehmern, die in Rente / Pension gehen. Diese entstehende Lücke von über 5 Millionen Arbeitnehmern bundesweit schließen Arbeitgeber zunehmend durch Automatisierung - einer der wichtigsten und oft unterschätzten Treiber der Digitalisierung.

Die Rekrutierung qualifizierter Mitarbeiter bewegt sich immer stärker in Direktsuche und Headhunting auch durchschnittlicher Stellen und Nachwuchskräfte. Die wertvollste Ressource der Unternehmen, der Mensch, wird im kommenden Jahrzehnt immer knapper.

Organisation: Die Wahrheit hinter „New Work“

Zukunft

Personal bzw. HR ist keine Abteilung mehr, sondern eine notwendige Funktion jeder Unternehmenseinheit. Personalarbeit findet dezentral statt und wurde größtenteils automatisiert, insbesondere in der Rekrutierung und Entwicklung von Mitarbeitern. Die Unternehmen, welche die große Krise der 20er Jahre überlebt haben, gehen fluide mit der gestiegenen Wechselbereitschaft der Arbeitnehmer um – diese kommen und gehen, wie es in ihre Erwerbsbiografien hineinpasst. Arbeitgeber managen deshalb geistiges Eigentum (Wissen, Ideen, Netzwerke) in effizienten Wissensmanagement-Systemen. Eine der größten Herausforderungen des vergangenen Jahrzehnts war es, die passende Mischung zwischen Fluidität und Umsorgung des Personals zu finden.

Die Denkschule von „New Work“ hat sich inzwischen durchgesetzt und im Vergleich zu 2020 zu einer sehr offenen Unternehmenskultur geführt, die bereit ist, alles infrage zu stellen – angefangen bei Hierarchien, Prozessen, Routinen. Feste Arbeitsplätze, sterile Raumgestaltung, unpersönliche Unternehmenskommunikation sind mit einer Vielzahl der eher trägen KMU ausgestorben, die bis zur Insolvenz an der Losung „haben wir schon immer so gemacht“ festgehalten haben.

Erfolgreiche Unternehmen stellen auch heute noch jede Grundannahme über die eigene Struktur ohne Denkverbote infrage und transformieren sich und ihre Mitarbeiter permanent zu einem konkreten Zukunftsbild, um den Kern des eigenen Geschäftsmodells ohne selbst auferlegte Hürden zu erfüllen.

Strategieansätze

  1. Ein erfolgreiches Unternehmen zeichnet sich durch glückliche, gesunde Mitarbeiter aus. New Work ist kein Projekt, sondern eine Haltung. Alle Mitarbeiter sollten in der Lage sein, die Unternehmensphilosophie, den „purpose“ (Sinn), den USP gegenüber Konkurrenten in einem Satz wiederzugeben. Die erfolgreichsten Unternehmen haben erkannt, dass die Trennung der Persönlichkeiten ihrer Arbeitnehmer in „Job-Ichs“ und „Privat-Ichs“ obsolet wird. Gut gebildete Arbeitnehmer möchten sich nicht einschränken lassen und werden unzufrieden, oft sogar krank durch zu enge Grenzen.
  2. Innovation von innen kann nur funktionieren, wenn jede/r gehört wird. Ideenmanagement muss ernst genommen werden. Ohne ein effizientes Innovationsmanagement überlebt kein Unternehmen das kommende Jahrzehnt; ein berühmter Ansatz ist es, Mitarbeitern 20% der Arbeitszeit für die Erarbeitung eigener Konzepte und Ideen zu überlassen. Dazu benötigt es IT-Infrastruktur, aber vor allem die Ermutigung der Mitarbeiter, regelmäßige Meetups innerhalb von Abteilungen und ein aufrichtiger Dialog im gesamten Unternehmen.
  3. Ohne Hierarchien funktionieren größere Strukturen nicht. Doch sowohl die Anzahl als auch die Rolle der Hierarchiestufen wird sich ändern müssen. Dazu gehören u.a. Kommunikation auf Augenhöhe, Wertschätzung gegenüber Mitarbeitern, Raum für kollegiale Beratung, auf Synergien ausgelegte, teils temporär wechselnde Führungsstrukturen und regelmäßige „Sprechstunden“ der Unternehmensleitung.

Historie

Infolge des Übergangs zum Arbeitnehmermarkt (s. Kapitel Recruiting) müssen sich Arbeitgeber möglichst attraktiv aufstellen – ganz unabhängig von Größe, Branche und Standort. Sie brauchen die Brains. Die Idee von New Work stammt von Frithjof Bergmann aus den 1980er Jahren, als zum ersten Mal im Nachkriegs-Kapitalismus greifbar wurde, dass menschliche Arbeitskraft massenhaft durch Maschinen ersetzt würde. Inzwischen hat sich das Konzept zu einer Denkschule besonders bei Startups, aber auch den Tech-Giganten des Silicon Valley entwickelt. Aber auch KMU und Kammern in Deutschland sind inzwischen erfolgreiche Schritte mit den Leitideen gegangen.

Tayloristische Organisation widerspricht der Natur des Menschen und wird einer aufgeklärten, durchschnittlich gebildeteren Gesellschaft nicht mehr gerecht. Die rigiden Strukturen, Prozesse und Hierarchien wurden in Zeiten der aufkommenden Industrialisierung entworfen, in denen Arbeitgeber davon ausgehen mussten, ungelernten Arbeitskräfte jegliche Entscheidungskompetenz abzunehmen. Kreativität wurde den Arbeitnehmern abgesprochen. Sie sollten Maschinenarbeit leisten, da Maschinen noch nicht in der Lage waren, die Aufgaben zu erledigen. Das ändert sich mit der fortschreitenden Digitalisierung.

Der langjährige Megatrend „Nachhaltigkeit“ setzt sich auch im Personalkontext durch; es wird für nicht-nachhaltig wirtschaftende Unternehmen immer schwieriger, Arbeitnehmer durch höhere Gehälter und Zusatzleistungen gegen ihr Gewissen (und das ihrer Kinder #fridaysforfuture) zu halten. Einige Branchen laufen Gefahr, durch diesen Zusammenhang wellenartig hochqualifizierte Mitarbeiter zu verlieren, die von Arbeitgebern der New oder Circular Economy abgeworben werden; vielleicht zu monetär schlechteren Bedingungen, jedoch mit einer höheren „Purpose-Kongruenz“.

(Projekt-)Management: Holokratie ist das neue Scrum

Zukunft

Organisationen kennen keine Abteilungen mehr, nur Funktionen. Sie kennen keine strikten Kompetenzbereiche, sondern nutzen die Synergien ihrer Mitarbeiter, organisieren und planen ihre heutigen und künftigen Aufgaben durch gezieltes Talent-Management.

Sie begreifen und bearbeiten jegliche interne und externe Herausforderung als Projekt, welches durch temporäre, agile Teams bewältigt wird. Die Mitglieder sind eine Mischung aus Festangestellten, Freiberuflern und künstlichen Intelligenzen; oft verteilt über den gesamten Globus bzw. das Internet.

Selbstverständlich bearbeiten Unternehmen einige Themen auch in vorübergehenden Allianzen mit Wettbewerbern und virtuellen Organisationen (DAOs). Dies abzubilden gelang erst durch KI-gestütztes, prädiktives Projektmanagement der 2020er Jahre.

Strategieansätze

  1. Zukunftsfähiges Personalmanagement weiß exakt, welche Fähigkeiten und Kenntnisse jeder einzelne Mitarbeiter vereint – und welche fehlen. Gemeint ist nicht die Funktions- oder Stellenbeschreibung zum Zeitpunkt der Einstellung oder Beförderung. Gemeint ist das gesamte Kompetenzprofil. Viele Menschen teilen derartige Informationen ganz öffentlich auf Xing, Linkedin, Indeed und nicht-beruflichen „social media“-Kanälen. Next step: schöpfen Sie das gesamte Potential der Menschen in Ihrer Organisation aus, indem Sie diese Fähigkeiten und Fertigkeiten mit Ihren heutigen und zukünftigen Unternehmensaufgaben korrelieren. Dabei werden auch die Mitarbeiter zufriedener und loyaler, weil sie sich wertgeschätzt und gebraucht fühlen.
  2. Zu einer zukunftsfähigen Organisation gehört ebenso der ergebnisoffene Dialog mit den Mitarbeitern über deren individuelle Entwicklungsziele der kommenden 3, 5 oder 10 Jahre. Dazu kann auch der Arbeitgeberwechsel gehören.
  3. Agiles Projektmanagement ist ein wertvoller Ansatz für die datenbasierte Durchführung von Projekten jeglicher Art – und doch noch nicht überall angekommen. Holokratie ist der nächste, konsequente Schritt in eine „peoples‘ organization“: keine Abteilungen, kaum Hierarchien, hohe Flexibilität, Geschwindigkeit sowie Resilienz gegenüber Veränderungen.

Historie

In den 1980er Jahren kam aus der Informatiker-Welt das agile Projektmanagement auf, das u.a. mit Scrum und Kanban Projekte („agiles Projektmanagement“) hochgradig operationalisiert hat. Diese Mechanik funktioniert in einer Programmiererwelt hervorragend, wo es in vielen Bereichen nicht ganz so wichtig ist, welcher Programmierer welche Zeile Code schreibt – daher kann unabhängig von der Person ein Teil-Job vergeben werden.

Der gesellschaftliche Wandel von der Industrie- und Agrar- hin zur Dienstleistungsgesellschaft setzt sich ungebremst fort und resultiert in immer größeren Synergien zwischen den Kompetenzen von Mitarbeitern. Damit ergeben agile Projektmanagement-Methoden nun auch Sinn für die Organisation von Mitarbeitern unterschiedlicher Funktionen. Ein Aspekt davon ist die Bedeutungszunahme von Softskills wie Kommunikation, Ideenentwicklung oder kollegialer Beratung, welche nicht in klassische Organigramme passen.

Paradoxon: Digitalisierung steigert den Wert menschlicher Interaktion

Zukunft

Jegliche Tätigkeiten, die prinzipiell wiederkehrenden Mustern folgen, wurden im letzten Jahrzehnt bei den meisten Arbeitgebern automatisiert. Algorithmen oder Roboter haben eine Reihe von Expertenjobs sinnvoll ergänzt, sodass sich die Mediziner, Juristen, viele Führungskräfte inzwischen auf „menschlichere“ Tätigkeiten konzentrieren können. Einige Spezialisten haben sich noch weiter spezialisiert und finden im Team mit der künstlichen Intelligenz immer bessere Lösungs- und Management-Wege. Viele haben sich aber auch breiter aufgestellt und sind zu Generalisten geworden, die für zahlreiche Auftraggeber tätig sind.

Viele Unternehmen sind im letzten Jahrzehnt jedoch der Automatisierungswelle zum Opfer gefallen, da sie sich der Veränderung verweigert haben. Hunderttausende Menschen haben dadurch ihre Jobs verloren, nicht alle von ihnen waren für gleichwertige Positionen vermittelbar.

Doch ein großer Teil der vormals in strikten Funktionsbereichen mit geringem Einkommen haben neue Nischen besetzt, die vor allem auf zwischenmenschliche Interaktion setzen. Massive Förderprogramme der Regierung tragen dazu bei, dass ein komplett neuer Wirtschaftssektor infolge der Krise entstanden ist. Inzwischen verdienen die Coaches und zwischenmenschlichen Dienstleister erheblich mehr als die Experten der Bereiche noch vor zehn Jahren, zum Beispiel Krankenpfleger und -schwestern gegenüber Fachärzten.

Strategieansätze

  1. Die besten Arbeitgeber stellen ihre Angestellten auf neue Art und Weise ins Zentrum der jeweils eigenen Erwerbsbiografie. Sie erheben und schulen die persönlichen Charakterstärken, die beispielsweise mit dem Myers-Briggs-Test (z.B. abrufbar unter 16personalitites.com) erhoben werden. Nach dieser psychologisch gut erforschten Theorie hat jeder Mensch bestimmte Neigungen und Stärken, die gefördert werden können – besser als bei anderen Profilen. „Stärken stärken“ und „lebenslanges Lernen“ sind keine revolutionär neuen Konzepte, werden aber erst richtig interessant, wenn die individuellen Potentiale messbar werden.
  2. Zahlreiche Tätigkeiten werden in den kommenden Jahren auch bei Ihnen im Unternehmen automatisiert werden. Antizipieren und erarbeiten Sie (ganz unabhängig von der Größe Ihrer Organisation) besser früher als zu spät neue Tätigkeitsprofile, ganz praktisch mit Stellenaus- und Funktionsbeschreibungen im Jahr 2030. Darauf können sich dann Ihre Angestellten heute schon bewerben und sich für entsprechende Weiterbildungsprogramme verpflichten.

In diese überführen bzw. entwickeln Sie die aktuelle Belegschaft schrittweise. Bei einem Teil der aktuellen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wird dies vielleicht nicht möglich sein. Dann ist es jedoch Ihre Verantwortung als Arbeitgeber, einen Exit-Plan gemeinsam zu erarbeiten. Die laufende Welle der Veränderung wird massenweise Unternehmen die Existenzgrundlage entziehen, wenn sie sich nicht rechtzeitig anpassen. Nur wer bereits heute massiv Softskills, insbesondere im Bereich Kommunikation, der Angestellten fördert, kann die Situation überstehen.

Historie

Moderne Volkswirtschaften basieren auf Regelsystemen, Institutionen und Vertrauen in diese. Vertrauen wiederum entsteht durch positive Erfahrungen. Schrittweise werden wir in den kommenden Jahren in manchen Bereichen eher einer KI-gestützten Entscheidung trauen als der menschlichen. Dennoch sind und bleiben Menschen soziale Wesen, die in bestimmten Kontexten Wert auf Zwischenmenschlichkeit legen. Diese Bedingung ist allerdings sehr individuell; manch eine delegiert die Entscheidung für die beste Haftpflichtversicherungspolice an einen virtuellen Assistenten; manch einer überträgt die Planung der optimalen Reiseroute einem virtuellen Kartendienst. In anderen Kontexten wiederum legen dieselben Personen großen Wert auf menschliche Interaktion, vielleicht bei der Terminvereinbarung beim Friseur oder einem tiefgründigen Gespräch mit dem Hausarzt. Für eine vertrauensvolle Beziehung zu den letzteren benötigen diese Dienstleister jedoch andere Kernkompetenzen als in der heutigen Welt; Empathie, Deutungswissen, Bauchgefühl, Mut, Querdenken. Nicht gerade Kompetenzen, die im klassischen (Weiter-)Bildungssystem vermittelt werden.

CARE: Personalstrategie der Zukunft in einem Wort

Candidate: Leadership statt Führung

Im von Arbeitnehmern dominierten Arbeitsmarkt der Zukunft spielt das Individuum eine bedeutsamere Rolle denn je. Aus Industriesicht entwickelt sich „die Arbeitskraft“ zur Losgröße 1. Der Wertewandel bringt mündige, selbstbewusste und flexible Menschen hervor. Arbeitgeber sind gut beraten, ihre menschlichen Mitarbeiter mit ihren Werten und exklusivem Wissen zu infizieren, um trotz der immer fluideren Mitarbeiterstruktur langfristige Wertschöpfung zu erreichen.

Klassische Führungsstile haben in einer Zeit der Hyperindividualisierung der Angestellten ausgedient. Jeder Mensch bringt ein eigenes Wertesystem und Psychogramm mit, auf das Führungskräfte mehr denn je reagieren und proaktiv eingestellt sein müssen. Die zukunftsfähigste Führungskraft zeichnet sich durch hochgradig ausgeprägte empathische Fähigkeiten aus, setzt mehrere verschiedene Kommunikationsstile ein.

Das solidarische Sozialversicherungssystem strauchelt immer mehr unter der Überalterung der Gesellschaft; das Renteneintrittsalter wird gegen Ende der 20er Jahre auf über 70 Jahre gestiegen sein. Die Rentenzahlungen wiederum können die Inflation nicht mehr ausgleichen, wodurch die (Angst vor) Altersarmut steigt bzw. ein steigender Anteil der Bevölkerung seinen Lebensstandard nicht mehr im Alter halten können wird. Vorausdenkende Arbeitgeber tragen dem Rechnung, indem sie allein oder in Kooperativen eine Art Grundsicherung nach dem Vorbild des Bedingungslosen Grundeinkommens für ihre Angestellten und deren Familien anbieten – das System könnte wie eine Mischung aus dem punktebasierten Gesetzlichen Rentenversicherungssystem und einer digitalen und anreizgetriebenen Logik aufgebaut sein. Kooperationen mit anderen Arbeitgebern ermöglichen bahnbrechende Jobsharing-, Coworking-, Gesundheits- und Innovationssynergien.

Artificial Intelligence

Erst digitalisieren Unternehmen alle Funktionen, dann augmentisieren sie, dann automatisieren sie und schließlich müssen sie durch den gesamten Prozess ihre Belegschaft empathisieren. In der digitalen Wert sind Vertrauen und Emotionen messbar: Software wie von Beyond Verbal oder Precire kann dabei helfen, die psychische Gesundheit der Mitarbeiter zu beobachten, um rechtzeitig Maßnahmen gegen psychische Erkrankungen zu ergreifen. Auch die Leistung kann immer besser gemessen werden, um Weiterbildungen und ggf. Anpassungen der Tätigkeiten vorzunehmen. Lösungen wie Workgenius automatisieren darüber hinaus einen nennenswerten Anteil der Berichtstätigkeiten von Führungskräften bis hin zu Beurteilungen, natürlich gestützt durch menschlichen Input.

Human-digitale Teams prägen den Arbeitsalltag der meisten Unternehmen im Jahr 2030, ganz unabhängig von der Branche. Zahlreiche Tätigkeiten werden automatisiert werden, darunter sicherlich einfachere Sachbearbeitungstätigkeiten, aber auch heutiges Expertenwissen wird zunehmend durch Algorithmen und Roboter übernommen. Die wichtigsten Fähigkeiten Ihrer Mitarbeiter sind daher…

… der Umgang mit smarten Kollegen, die immer mehr auch autonom Entscheidungen treffen und Verantwortung übernehmen und

… Softskills im zwischenmenschlichen Bereich. Die erfolgsreichsten Arbeitnehmer werden daher diejenigen sein, die sich bereits heute in den Bereichen Kommunikation (bis hin zu Psychologie), Mediation als auch generalistischen Wissensmanagementtechniken und Achtsamkeits-Ansätzen weiterbilden.

Responsibility, Relevancy and Relationships

Arbeitgeber übernehmen auch im nächsten Jahrzehnt eine wichtige volkswirtschaftliche Verantwortung für jeden einzelnen Arbeitnehmer. Ob KMU, Behörde oder Großkonzern: die Aufgabe der Arbeitgeber übersteigt in Zukunft bei Weitem die monetäre Entlohnung ihrer Angestellten. Es geht vielmehr darum, in einer Symbiose die Gesundheit und das Glück der Arbeitnehmer zu steigern, um im Gegenzug Mehrwerte für das Unternehmen zu erwirtschaften. Nur so bleiben Organisationen für ihre Arbeitnehmer und Kunden gleichermaßen relevant.

Schließlich schaffen erfolgreiche Arbeitgeber Orte der Begegnung für ihre Mitarbeiter, an denen nicht in erster Linie gearbeitet wird (Co-Working), sondern vor allem menschliche Beziehungen gepflegt werden. In Zukunft dominieren moderne, durchlässige Co-Living-Spaces die Innenstädte weltweiter Metropolen gegenüber klassischen, monolithischen Bürogebäuden der vergangenen Jahrzehnte.

Experience and Exnovation

Arbeit muss Spaß machen, Work-Life heißt auch flexible Arbeitszeiten, regelmäßige Erlebnisse im Arbeitskontext, Inspiration von Führung und von außen, positive Überraschungen im Arbeitsumfeld. Das fängt schon bei der IT an; in vielen Unternehmen ist das Smartphone der MA leistungsstärker als die Computer ganzer Teams. Niemand will heute mehr mit einem Fax arbeiten. Und E-Mail ist auch nicht die Lösung aller Probleme, eher die Wurzel. Kombinieren Sie daher verschiedene Kommunikationskanäle mit Anreizsystemen bis hin zu finanziellen Incentives (oder Freizeit), lassen Sie die Mitarbeiter regelmäßig in Offsites aus dem Alltag ausbrechen, bieten Sie den sensation-seekern in Ihren Reihen genug Stoff für die Selbstverwirklichung und häufige „Sensationen“.

Um nicht dem immer globaleren und digitalen Wettbewerb zum Opfer zu fallen und die Existenzen der Mitarbeiter zu riskieren, kombinieren einige Arbeitgeber bereits neuere Innovations- und Management-Theorien in ihrer Praxis und überprüfen ihre bestehenden Strukturen hinsichtlich der Zukunftstauglichkeit. Dazu gehört insbesondere auch das Verlernen bewährter Denkansätze: Exnovation ist die Schlüsselkompetenz des 21. Jahrhunderts.

Urheber

Dieses Whitepaper wurde herausgegeben durch Zukunftsforscher.de in Kooperation mit dem Digital Competence Lab. Verantwortlich im Sinne des Presserechts ist der Gründer von Zukunftsforscher.de Kai Arne Gondlach. Für Fragen, Anmerkungen und Kommentare stehen Ihnen folgende Kontaktmöglichkeiten zur Verfügung.

Zitierung

Für die Zitierung wird folgende Zitierweise empfohlen:

Gondlach, Kai A.; Göth, Sven (2019): Das Ende der Personalabteilungen. Warum sich HR selbst abschafft. Whitepaper von Zukunftsforscher.de und Digital Competence Lab, Leipzig und Hannover. Veröffentlicht am 27.11.2019, online abrufbar: https://www.kaigondlach.de, gefunden am TT.MM.JJJJ.


Quantencomputer: Was, wann, wie und warum?

Sprechen wir über Quantencomputer. Wenn ich das Thema bei meinen Keynotes aufwerfe, ernte ich in der Regel verständnislose, mäßig begeisterte Blicke. "Klingt nach Magie", oder: "Bis das kommt, bin ich Rentner*in!", so die Sprüche danach. Nun sind QC in den Massenmedien angekommen, also schauen wir doch mal, was sie können (werden).

Quantencomputer sind also endlich in den Massenmedien angekommen. Warum ist die Quantenüberlegenheit (quantum supremacy) wichtig für Sie? Weil sie das Spektrum der erlaubten Fragen (und der potentiell möglichen Lösungen) erheblich erweitert! Dieser Beitrag soll das Verständnis für Quantencomputer weitertragen - und er stellt keinen Anspruch an Vollständigkeit oder technische Tiefgründigkeit, sondern richtet sich an Einsteiger. Legen wir los!

Kurzer Rückblick

Quantencomputer basieren auf der Physik der kleinsten Teilchen unseres Universum, den Quanten. Als theoretische Begründer dieser divergierenden Auffassung der "Physik von allem" gelten in erster Linie die in den 1900-30er wirkenden Physiker Max Planck, Werner Heisenberg, Max Born, Pascual Jordan und Erwin Schrödinger (bekannt durch das Gedankenexperiment "Schrödingers's Katze"). Kurios, aber inzwischen durch die Experimentalphysik nachgewiesen: Quanten lassen sich zu keinem Zeitpunkt eindeutig in ihrem aktuellen Aufenthaltsort bestimmen. Sobald Forscher ein Quantenteilchen also beobachten, lässt sich dessen genaue Position nicht mehr eindeutig nennen. Darüber hinaus  treibt  die  Quantenmechanik das Ganze auf die Spitze, da sie die Theorien (Unschärferelation, Teilchenverschränkung, deterministische Zeitentwicklung uvm.) längst messbar macht. Kurz gesagt. Alles, was wir aus unserem Erfahrungshorizont für gegeben angenommen haben, steht plötzlich infrage. Materie ist nicht mehr fest, Teilchen haben zwei Zustände gleichzeitig und vieles mehr.

Es dauerte nicht lang, bis die aufkommende Informatik das Thema aufgriff. Deren Grundlage beruht ja bekannterweise auf der Festkörperphysik und dem Ein- und Ausschalten von Transformatoren, um binäre Zustände darzustellen. Schnelle Computer zeichnen sich dadurch aus, dass sie mit ihren Bits sehr oft zwischen 0 und 1 umschalten können. Durchschnittliche Smartphones können diesen Umschalteffekt heute ungefähr 100.000 mal schneller darstellen als der NASA-Computer der Apollo 11 Mission, der vor 50 Jahren Menschen auf den Mond gebracht hat. Würde man einen Turm aus allen aktiv genutzten iPhones weltweit bauen, käme man immerhin fast bis zur Hälfte zum Mond. Das wäre noch eine sinnvollere Verwendung der Geräte als Katzenvideos und Pornos zu streamen.

An- und Ausschalten ist der Quanteninformatik aber natürlich viel zu wenig. Wenn Quantenteilchen mehrere Zustände gleichzeitig einnehmen, müsste man das doch auch für Rechenmaschinen nutzen können. Und so gebar die Idee der Qubits (statt Bits). Qubits können theoretisch jeden sowohl 0 als auch 1 darstellen, um es einfach herunterzubrechen. Gleichzeitig steigt die Rechenleistung der Quantenprozessoren nicht nur linear mit der Anzahl der Qubits, sondern exponentiell. Heißt: Ein Quantencomputer mit 3 Qubits hat doppelt so viel Rechenleistung wie einer mit 2 Qubits. Einer mit 4 Qubits hat bereits 2*2*2 Rechenleistung. Und um das Spielchen noch komplexer zu machen, sind inzwischen auch Qutrits gelungen: ein Qutrit kann sogar drei Zustände gleichzeitig annehmen.

Warum ist das JETZT wichtig?

Kürzlich verkündete Google - erst durch einen Leak, nun auch offiziell - die Quantenüberlegenheit. Verantwortlich dafür ist Google's Quantenprozessor Sycamore, der 54 Qubits hat (bzw. 53, einer ist leider durchgebrannt). Er schlug kürzlich den schnellsten Computer der Welt in einer sehr spezifischen Aufgabe, der Errechnung tatsächlicher Zufallszahlen, um Längen. Dieser "herkömmliche" Supercomputer heißt IBM Summit und kann 122 Billiarden Mal pro Sekunde 0en und 1en ein- und ausschalten. Er benötigt (rein rechnerisch) für das Lösen der Aufgabe rund 10.000 Jahre, Sycamore 200 Sekunden.

Ja, richtig, IBM bestreitet die Überlegenheit - immerhin will IBM das Quantum Rennen gewinnen. Ja, natürlich kann dieser Quantencomputer (noch) nicht die Menschheit retten. Doch genauso funktioniert Innovation:

"So oft eine neue überraschende Erkenntnis durch die Wissenschaft gewonnen wird, ist das erste Wort der Philister: es sei nicht wahr; das zweite: es sei gegen die Religion; und das dritte: so etwas habe Jedermann schon lange vorher gewußt." (Wilhelm Raabe, 1864)*

Heißt im Klartext - und dann endet dieses lange Intro endlich: Es ist an der Zeit, sich mit der Zukunft zu befassen. Sie wird schneller zur Realität als Sie denken.

Einleitung, zweiter Anlauf

Quantencomputer beschäftigen Zukunftsforscher schon seit einigen Jahrzehnten. Sie gehörten jedoch lange Zeit zu den weit entfernten utopischen Technologien, deren Durchbruch schon mehrmals "kurz bevor" stand. Doch nun nimmt die Entwicklung endlich Fahrt auf - und die Pioniere auf dem Gebiet präsentieren immer mehr realistische Anwendungen. Schauen wir uns doch mal ein paar an, bevor wir die Perspektive Richtung Zukunftsapplikationen wenden.

Vor drei Jahren hat eines der weltweit führenden Unternehmen in der Entwicklung von Quantencomputern, D-Wave Systems Inc., einen medienwirksamen use case präsentiert. In Kooperation mit Volkswagen AG haben die Entwickler den Verkehr der jeweils nächsten 20 Minuten zwischen dem Flughafen Peking und der Innenstadt der Millionenmetropole prognostiziert. Für die Auswertung der Datenpunkte (mehrere Millionen pro Sekunde) benötigte der Quantencomputer nur wenige Sekunden, ein extrem schneller, herkömmlicher Rechner brauchte über 20 Minuten. Die Navigationssysteme der Taxifahrer wurden entsprechend informiert und die Taxis umgeleitet - mit messbaren Folgen für den Verkehr.

Fun Fact: 2017 traf ich Robert "Bo" Ewald, den Präsidenten der Firma, beim 2b AHEAD Zukunftskongress und sprach mit ihm über die Implikationen der Technologie. Einer dieser Momente, wenn sich ein Zukunftsforscher zusammenreißen muss, um nicht zu euphorisch zu werden. Er, ein offensichtlich strahlender Pionier der Entwicklung, prognostizierte: Die Quantenüberlegenheit, also der Moment, wenn ein Quantencomputer auch den schnellsten Computer der Welt deutlich schlagen würde, sei Anfang der 2020er Jahre greifbar. Und nun, im Oktober 2019, wurde sie erreicht (s.o.)! Selbst die Prognosen optimistischer Technologen werden derzeit also offenbar durch die Realität überholt. Wow!

Abseits der Euphorie stellt niemand wirklich infrage, OB Quantencomputer technologisch realisierbar sind - es ist nur eine Frage der Zeit, WANN sie ihr volles Potential entfalten werden. Wenn Sie mich fragen: innerhalb des kommenden Jahrzehnts. Sollten wir uns also heute schon darauf vorbereiten? Na gut, die Frage war suggestiv, also lassen Sie uns über die oben versprochenen, neuen Fragen sprechen, die wir stellen dürfen, wenn Rechenleistung keine Limitierung mehr darstellt.

Grundsätzlich

Die klassische Grundlagenforschung, die natürlich seit Jahrzehnten Computer einsetzt, nutzt trial & error als Hauptprinzip – als Sozialwissenschaftler erlaube ich mir mal so eine stümperhafte, alles andere als despektierlich gemeinte Simplifikation. Man muss also tatsächlich in langen Versuchsreihen probieren, was geht und was nicht. Einige Verbesserungen, neue Entdeckungen und Erfindungen entstehen durch hypothetisches Vorgehen, einige entstehen durch Zufälle. Sobald Quantencomputer ihr Potential für die Forschung entfalten, erwarten Zukunftsforscher Durchbrüche auf diversen Gebieten, auf denen sehr, sehr viele Kombinationsmöglichkeiten zum Beispiel auf molekularer Ebene denkbar sind. Besonders die Algorithmen künstlicher Intelligenz, insbesondere Machine Learning, werden wohl ihr Potential erst richtig ausnutzen, wenn Quantencomputer zur Durchführung der komplexen Rechenoperationen zur Verfügung stehen.

Schauen wir uns die großen, ungelösten Probleme an…

Gesundheit

Millionen Menschen sterben jedes Jahr infolge von genetisch veranlagten Dysfunktionen. Das nennt die moderne Medizin zwar nicht so, sondern hat hochtrabende Bezeichnungen für Symptom-Erkrankungen gefunden. Tatsächlich erklärt die (Epi-)Genetik jedoch einen großen Teil der Volkskrankheiten von Krebs über Diabetes bis zu Herz-Kreislauf-Krankheiten. Bereits heutige Systeme maschinellen Lernens erkennen aufgrund von Zusammenhängen Krankheiten, die der beste menschliche Mediziner nicht sehen würde.

Tauchen wir ein in die Molekularbiologie, wo Millionen Zellen, Milliarden Neuronen, Billionen Erbgutinformationen biologische Wesen zu dem machen, was sie sind. "Ein Wunder!", denkt der menschliche Verstand. "Spannende Mechanik!", denkt Leonardo da Vinci und beschreibt den vitruvianischen Menschen. "Eine lösbare Rechenaufgabe!", denkt der Quantencomputer.

Der "Heureka"-Moment der zeitgenössischen Medizin wird die Entwicklung individueller Arzneimittel sein für Krankheiten, die noch gar nicht ausgebrochen sind. Durch die Rechenleistung der Quanten in Kombination mit fortgeschrittenen Messinstrumenten (darunter Genomsequenzierung, lab-on-a-chip etc.) wird es noch im nächsten Jahrzehnt möglich werden, den aktuellen und kommenden Gesundheitszustand eines Lebewesens 1. präzise zu bestimmen und 2. das passende Mittel zur (präventiven) Heilung jeglicher Dysfunktion (Krankheit) zu entwickeln. Seit 2012 ist bekannt, dass Quantencomputer das Verhalten von Proteinen und Molekülen berechnen und prognostizieren können; die langjährigen Versuchsreihen der Pharmaunternehmen und Zertifizierungszeiten der Behörden werden dann bald der Vergangenheit angehören.

Was bedeutet das praktisch?

Vielleicht kennen Sie das Szenario aus meinen Keynotes: Eines Tages stehen Sie früh auf, laufen ins Badezimmer und ein Smart Mirror (oder Ihr Smartphone, die Küche oder ein Sprachassistent wie Alexa, Siri oder Bixby) begrüßen Sie im neuen Tag mit folgenden Worten: „Guten Morgen, toll sehen Sie heute aus! Allerdings sind Sie zu 17 Prozent krank, was eine signifikante Verschlechterung zur Vergangenheit bedeutet. Ihr individuelles Arzneimittel wird gerade in Ihrer Stammapotheke zubereitet und ist in 42 Minuten bei Ihnen. Möchten Sie die Ursache für Ihren Gesundheitszustand erfahren?“ Möglicherweise mischt übrigens nicht eine Apotheke Ihr Gesundheitsprodukt, sondern eine Drogerie, Ihr „Kühlschrank“ oder jeder beliebige andere Anbieter, dem Sie Ihre Daten anvertraut haben. Es kann jedoch gut sein, dass diese Verheißung (zunächst) nur einer sehr kleinen Menschengruppe vorbehalten bleibt, darüber müssen wir uns jetzt aber nicht unterhalten.

Für Versicherer bedeutet das: Sie werden den Gesundheitszustand ihrer Kunden unheimlich präzise errechnen können. Erst auf dieser Datengrundlage wird es möglich sein, echte Prävention zu betreiben. Das bedeutet in Zukunft nicht mehr Subvention ergonomischer Büromöbel, wenn der Rücken schon schmerzt, sondern Verhinderung von Krankheiten, lange bevor sie ausbrechen. Rechnen Sie gern allein durch, was das für die Aufwendungen kurativer Maßnahmen bedeuten kann.

Energie

Quantencomputer arbeiten auf der Grundlage der kleinsten bekannten Teilchen im Universum, den Quanten. Je komplexer ein Organismus, desto schwieriger ist es, dessen Quantenzustand zu messen. Für Energie, besonders Elektrizität, ist das weniger kompliziert. Elektrizität lässt sich bereits heute beamen, d.h. in (fast) Echtzeit von einem Ort zum andern transferieren. Heutige Netzbetreiber freuen sich weniger über die Entwicklung, dass potentiell Energie von einem Erzeuger zu jedem beliebigen Empfänger übertragen werden kann. Doch das ist die, zugegebenermaßen, ferne Zukunft.

Sehr viel früher erwarte ich einen Durchbruch im Bereich der Energiespeicherung. Energieversorger, Netzbetreiber und Mobilitätsunternehmen weltweit sind auf der Suche nach dem heiligen Gral der effizienten Speicherung von Elektrizität. Herkömmliche Lithium-Ionen-Akkus basieren auf klassischen elektrochemischen Prinzipien, eine Gruppe von Forschern der Universitäten Alberta und Toronto haben kürzlich die technische Machbarkeit von Akkus demonstriert, die auf den Gesetzen der Quantenmechanik basieren – immerhin theoretisch – und während der Speicherung keine Energie verliert (Quelle: https://phys.org/news/2019-10-blueprint-quantum-battery-doesnt.html / Primärquelle: https://dx.doi.org/10.1021/acs.jpcc.9b06373). Kombiniert man diesen Fortschritt mit dem Wunderelement Graphen, könnte auch die Kapazität der Energiespeicher im bevorstehenden Jahrzehnt endlich den rapide steigenden Bedarf in diversen Wirtschaftssektoren erfüllen.

Was bedeutet das praktisch?

Um einen Faktor zu nennen: ein Lithium-Ionen-Fahrzeugakku dürfte sich bis 2030 um die fünffache Potenz verbessern. Ausgehend vom Klassenbesten (Tesla Model S) bedeutet das eine Reichweite von bis zu 16.000 Kilometer Reichweite pro Ladung. Batterie-Akku-Fahrzeuge haben war ein berechtigtes Imageproblem, das liegt aber vor allem an der heutigen Reichweite, die noch nicht mit Verbrennern mithalten kann. Das wird sich sehr bald ändern.

Verkehrsorganisation

Bereits die ersten Quantencomputer-Prototypen von D-Wave haben in einem werbewirksamen Experiment ihre Stärke ausgespielt (s.o.). Ein ähnliches Projekt wurde 2018 in Barcelona von denselben beiden Unternehmen demonstriert. Nun ging es nicht mehr nur darum, den Verkehrsfluss vorherzusagen, sondern auch daraufhin die Verfügbarkeit von Taxis auf den erwarteten Bedarf abzustimmen – mit Erfolg. Darüber hinaus sei das Projekt skalierbar, das heißt in dem Fall: in jeder beliebigen anderen Stadt einsetzbar.

Was bedeutet das für den Verkehr in Zukunft?

Personenverkehr

In Metropolen und Metropolregionen herrscht mindestens zweimal täglich Verkehrschaos. Gleichzeitig gibt es aktuell wenig Grund zur Annahme, dass sich der Trend zur weiteren Urbanisierung schlagartig umkehren sollte. Es wird also noch voller, es kommen noch mehr Carsharing-Angebote, die bald auch autonom unterwegs sind – in Summe also noch verstopftere Straßen. Die gängigsten Navigationssysteme und -Apps errechnen nicht bloß eine Route von A nach B, sondern senden bereits heute Informationen über die Geschwindigkeit der Nutzer ans Rechenzentrum. Deshalb wissen die Maps und Kartendienste der Welt deutlich früher als Radiosender oder Polizei von Staus und stockendem Verkehr. Natürlich nutzen Pendler, die seit Jahren dieselbe Strecke fahren, kein Navi. Vielleicht wäre es dennoch eine gute Idee, denn die heutige Route ist mit hoher Wahrscheinlichkeit auch alternativ fahrbar, wenn mein Navi nicht nur den Echtzeit-, sondern auch den Zukunfts-Verkehr kennt und bessere Routen vorschlägt.

Warenverkehr

Warenlogistik orientiert sich an einer Art Kaskadeneffekt. Ein Beispiel: Ein voll beladenes Containerschiff läuft in den Hamburger Hafen ein. Jeder Container wird früher oder später auf einen Lkw oder einen Güterzug geladen und zum nächsten Logistik-Verteiler-Zentrum gebracht. Dort werden die Inhalte des Containers aufgeteilt auf neue Fahrzeuge und früher oder später ist man beim einzelnen Bestandteil angekommen, der in einer Maschine verarbeitet oder vom DHL-Boten zum Endkunden gebracht wird. Allein der Folgeverkehr eines Containerschiffs an Land ist der Wahnsinn, all die gefahrenen Kilometer, Arbeitsstunden, Emissionen. Bisher hatten wir aber auch schlicht keine bessere Lösung. Die Zukunft gehört perfekt effizienter Routenplanung und end-to-end-Lieferungen mit autonomen, emissionsarmen Fahr- und Flugzeugen.

Internet

Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Menschheit noch gar nicht reif genug ist für das Internet (s.o.). Viel zu mächtig erscheint die Grundlagentechnologie, jeden Ort der Welt plötzlich miteinander verbinden zu können – und unsere herkömmlichen Systeme (Sicherheit, Bildung, Kommunikationsgepflogenheiten) sind schlicht zu langsam dafür. Wie dem auch sei, viele Orte sind immer noch schlecht angebunden an vertretbar schnelles Internet, von Glasfaser und 5G ganz zu schweigen.

Quantencomputer bringen gleich zwei potentielle Anwendungsfälle mit.

  1. Erstens ist einer der Gründe, warum mobiles Internet teilweise großen Schwankungen unterliegt, dass die Position der Kommunikationssatelliten nicht immer perfekt für die internetfähigen Geräte ist. Das Unternehmen Booz Allen Hamilton arbeitet gerade an einer Lösung der „Routenplanung“ von Satelliten, um die Anzahl der schwarzen Löcher zu minimieren. Allein die Optimierung der "Routenplanung" der Satelliten erhöht die Abdeckung um ein Vielfaches, um stets dort Internet verfügbar zu machen, wo es benötigt werden wird.
  2. Zweitens können wir uns den schwerfälligen Ausbau der Infrastruktur auf der Erde auch gleich sparen, denn das Quanteninternet / Quantennetzwerk steckt in den Startlöchern. Glasfaser-Internet sendet die Kommunikationssignale mit nahezu Lichtgeschwindigkeit. Das ist schon ganz schön schnell, dennoch muss die Information eine gewisse Strecke zurücklegen und verliert dabei Zeit. Je weiter ein Empfängergerät, beispielsweise Ihr Smartphone, von einem Sender entfernt ist, zum Beispiel einem Rechenzentrum, das diesen Artikel beherbergt, desto länger dauert’s – klingt trivial, ist es auch. Durch den Effekt der Quantenverschränkung kann die Eigenschaft physikalischer Gesetze Reisedauer = Geschwindigkeit x Entfernung ausgehebelt werden und eine Simultanübertragung gewährleistet werden.

Praktisch heißt das: ob ich eine Information in einer direkten Verbindung zwischen zwei Geräten 10 Zentimeter oder 10 Mal um die Erde senden möchte, ändert nichts an der Dauer, Quantum sei Dank! Und dass das Internet bzw. dessen Verfügbarkeit schon in den letzten 30 Jahren zu einer Neudefinition der Menschheit geführt hat, muss ich wohl nicht ausführen.

Digitale Sicherheit

Klassische Verschlüsselungslogiken sind extrem fehleranfällig – nicht, weil Passwörter leicht geknackt oder gehackt werden können, sondern weil Menschen faul und ein Sicherheitsrisiko für Datensysteme sind. Ganz ehrlich, wann haben Sie das letzte Mal das Passwort Ihres privaten E-Mail-Kontos, Ihres Heim-WLAN oder die Kombination für Ihr Smartphone geändert? Und dann noch die Mär mit biometrischen Verschlüsselungsverfahren. Jedes symmetrische Verschlüsselungssystem ist in dem Moment entschlüsselbar, in dem die Information auch auf einem noch so gut geschützten Server mit Internetverbindung hinterlegt wird.

Während dann aber komplexe Verschlüsselungsverfahren gegenüber heutigen Supercomputern „recht sicher“ sind, könnten Quantencomputer problemlos unendlich viele Kombinationsmöglichkeiten simulieren und selbst die komplexeste, symmetrische Verschlüsselung knacken. Neuartige Verfahren werden bereits heute eingesetzt, die erstens asymmetrisch funktionieren – das heißt, es gibt immer einen öffentlichen und einen privaten „Schlüssel“ pro Benutzer. Kryptowährungen wie Bitcoin basieren auf diesem Prinzip: jeder Nutzer hat einen öffentlichen Schlüssel, quasi eine Art Kontonummer, bei einer Transaktion wird jedoch ein privater Schlüssel für Sender und Empfänger erzeugt, die nur diese beiden Parteien erhalten. Zweitens wird wohl einer der ersten kommerziellen Einsatzbereiche von Quantencomputern die Quantenkryptographie sein. Kurz gesagt: aus heutiger Sicht gibt es keine praktizierte Verschlüsselungstechnologie, die unmöglich zu hacken ist. Quantenkryptographie verspricht – wie gesagt, aus heutiger Sicht – die Generierung so unvorstellbar komplexer Verschlüsselungsverfahren, dass diese durch kein absehbares System gehackt werden können.

Finanzwesen

Die größten Börsen und Banken der Welt geben Unsummen für den Betrieb gigantischer Rechenzentren aus, die auf Basis herkömmlicher Computer permanent Finanzmarktmodelle, Portfoliooptimierung und Risikoabschätzungen für Investoren, Kunden, Regierungen etc. zu kalkulieren. Komplexe Modelle erfordern unheimlich viel Rechenleistung; Quantencomputer könnten bestimmte Arten von Berechnungen mit deutlich weniger Energiebedarf und folglich weniger Kosten durchführen. Ja, das bedeutet leider auch, dass viele Bankangestellte ihren Job verlieren werden - besonders, wenn der Zugriff auf Quantencomputer schlagartig umgesetzt wird, wovon auszugehen ist.

Die mittelfristige Zukunft gehört dem komplett automatisierten Handel. Selbst wenn Sie selbst keine Ahnung von Spekulation haben, werden Sie einen virtuellen Bot ins Rennen schicken, der für Sie immer zum richtigen Zeitpunkt das Portfolio aktualisiert, kauft, verkauft, etc. Bitte bringen Sie ihm beizeiten Werte und anständiges Verhalten bei.

Foresight allgemein

Die Zukunft vorherzusagen ist unmöglich. Wirklich? Um ehrlich zu sein, wäre es als Zukunftsforscher ganz schön dämlich, diese Aussage einfach so stehen zu lassen. Natürlich können wir gewisse Dinge prognostizieren, wenn wir nur ausreichend gute Modelle und vor allem ein Verständnis für (unheimlich komplexe, chaotische, entropische, sich wechselseitig beeinflussende) Systeme entwickeln, Muster erkennen, Entwicklungen bewerten und zu einem zutreffenden Maß extrapolieren. Viele Branchen sind dennoch auf die Simulation komplexer Daten angewiesen, allen voran die Finanz- und Energiebranche, Maschinenbau und sämtliche Ingenieursbereiche.

Bereits heutige Verfahren wie die Monte-Carlo-Simulation wenden statistische Verfahren an, um schwer oder unmöglich berechenbare Probleme, wie etwa Zerfallsprozesse im Bereich der Kernfusion oder die Berechnung aller Nachkommastellen von Pi, mit Behelfslösungen doch nutzen zu können. Diese Formen der unmöglichen Berechnungen wird es dank Computern nicht mehr geben; ich als Zukunftsforscher fände es natürlich schade, wenn ein Quantencomputer nicht bloß Pi, sondern auch die Entwicklung einer Branche mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit unter den gegebenen Variablen vorhersagen könnte. Dennoch bin ich überzeugt, dass es nur eine Frage der Datengrundlage ist, die groben Rahmenbedingungen der Zukunft zu errechnen. Es wäre auch ziemlich arrogant anzunehmen, dass die Gehirne von Zukunftsforschern schneller oder besser kombinieren können als ein Quantencomputerchip mit genügend Qubits und exponentieller Rechenleistung…

Umwelt

Ich bin fatalistisch davon überzeugt, dass weder Politik noch Gesellschaft in naher Zukunft ernsthaft einen Wandel im umweltschädlichen Verhalten herbeiführen können. Wir wissen ja längst, dass das Verbrennen fossiler Ressourcen und die massenhafte Tierhaltung schlecht fürs Klima sind, doch haben wir uns an die Annehmlichkeiten im Lebensstil so sehr gewöhnt, dass eine andere Lösung als die Änderung der eigenen Gewohnheiten und die scheinbare Senkung des Lebensstandards herhalten muss.

Stattdessen wächst eben der Anteil der „Technik-Jünger“, die für unsere Klimakrise auf die technologische Lösung hoffen. Meiner Ansicht nach sind alle Technologien längst entwickelt worden, um die Emissionen zu verringern und das bestehende Ungleichgewicht im Treibhauseffekt teilweise zu korrigieren. Dabei muss es auch nicht immer Hightech, sondern kann auch das Pflanzen von Bäumen sein, um CO2 zu binden. Oder man denkt größer und extrahiert CO2 aus der Atmosphäre, spaltet es in aufwendigen chemischen Prozessen in Kohlen- und Sauerstoff und verwertet mindestens den Kohlenstoff weiter. Bedarf haben wir genug. Beispielsweise für e-fuels, also synthetische Kraftstoffe, die in herkömmlichen Verbrennungsmotoren funktionieren. Diese Lösungen haben wir mit herkömmlichen Forschungsprozessen entwickelt; sobald Quantencomputer zum Standard in Laboren und Forschungszentren werden, sind chemische Reaktionen plötzlich simulierbar, völlig neuartige Kombinationsmöglichkeiten denkbar. Wir würden noch besser verstehen, welche Zusammenhänge konkret das Klima beeinflussen – und welche wir wo unterbinden sollten.

Menschheit (anstelle eines Fazit)

Und spätestens an diesem Punkt der Liste komme ich zu dem Schluss, dass die beste Technologie nichts nützt, wenn die sozialen Systeme nicht mitspielen. Das aktuelle Design ebendieser ist nur leider nicht für (bald) 10 Milliarden Menschen und komplexe Herausforderungen wie den Klimawandel, Epidemien oder die gerechte Verteilung von Lebensmitteln und Ressourcen ausgelegt.

Wir benötigen also beides, um die Menschheit zu retten: Den mutigen Einsatz wirklich innovativer Technologien und beherzte Entscheider*innen. Dazu dann noch eine gehörige Prise Exnovation.

Ich bleibe dabei: je mehr (digitale) Technologie die Menschheit entwickelt, desto wichtiger wird die menschliche Interaktion. Quantencomputer werden nicht alle Probleme der Menschheit über Nacht lösen - aber vielleicht können sie dabei helfen, die heute noch scheinbar unlösbaren großen Themen handhabbar zu machen.

Ausgewählte allgemeine / Übersichts-Quellen (unsortiert!):

https://www.dwavesys.com/quantum-computing/applications

https://www.volkswagenag.com/de/news/stories/2018/11/intelligent-traffic-control-with-quantum-computers.html

https://dwavefederal.com/app/uploads/2017/10/Qubits-Day-2-Morning-5-VW.pdf

https://www.thedrive.com/tech/8789/volkswagen-uses-quantum-computing-to-fight-beijing-traffic

https://www.dwavesys.com/sites/default/files/Qubits%20Europe%202018TrafficflowOptimisation.pdf

https://medium.com/@jackkrupansky/what-applications-are-suitable-for-a-quantum-computer-5584ef62c38a

https://quantumcomputingreport.com/our-take/the-best-applications-for-quantum-computing/

https://www.nature.com/articles/d41586-019-02936-3

https://www.quantamagazine.org/stephanie-wehner-is-designing-a-quantum-internet-20190925/

https://www.scientificamerican.com/article/the-quantum-internet-is-emerging-one-experiment-at-a-time/

https://gizmodo.com/you-wont-see-quantum-internet-coming-1836888027

https://devops.com/4-amazing-quantum-computing-applications/
https://www.predictiveanalyticstoday.com/what-is-quantum-computing/
https://listverse.com/2019/01/10/top-10-unexpected-future-applications-of-quantum-computers/
https://de.wikipedia.org/wiki/Quantenkryptographie
https://www.zeit.de/digital/internet/2019-10/quantencomputer-google-innovation-supercomputer-quantum-supremacy
https://www.sueddeutsche.de/digital/quantencomputer-google-kristel-michielsen-1.4657120
https://winfuture.de/news,107166.html
https://www.independent.co.uk/news/science/apollo-11-moon-landing-mobile-phones-smartphone-iphone-a8988351.html
https://de.wikipedia.org/wiki/Schrödingers_Katze

Beitragsgrafik von: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:C%2B%2B_evolution_text.svg

* Zitiert nach: Eckhardt Meyer-Krentler: Arbeitstechniken Literaturwissenschaft. München: W. Fink 3. Auflage 1993 (UTB 1582), S. 75. Dieser gibt als Quelle an: Karl Hoppe: Wilhelm Raabe. Göttingen 1968, S. 89, gefunden hier, inspiriert von einer Keynote von Prof. Dr. Gunter Dueck, in dem er das Zitat Schopenhauer zuschrieb - scheinbar nicht als einziger.


Haben Sie schon einen Chief Futures Thinker oder Chief Foresight Officer?

Das Zeitalter der Digitalisierung ist auch das Zeitalter der Beschleunigung, der Veränderung und damit auch neuer Berufstitel. Wer heute keinen CHRO, CDO oder CCO (Human Ressources, Digital, Change) Officer beschäftigt, taucht nicht mehr in den Leitmedien unter dem Attribut „innovativ“ oder „relevant“ auf. Alles schön und gut. Wie wäre es aber mal lieber mit einem Chief Futures Thinker (CFT) oder Chief Foresight Officer (CFO), also einer/m expliziten Zukunftsforscher*in als Vorstands- oder Geschäftsleitungs-Mitglied? Die folgende Liste liefert ein paar Argumente für Ihre Entscheidung (oder Bewerbung).

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Sapiens 2.0 - Kurzer Ritt in die Zukunft der Menschheit

Exponentieller Technologiefortschritt, globalisierte Ökonomie, Werte- und Demografie-Wandel... was bedeutet das für Homo Sapiens in naher Zukunft? Ein globalgalaktischer Versuch, die Zukunft unserer Spezies zu denken.

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Automatisierung vernichtet keine Jobs. Arbeitgeber tun das.

Es geistern immer wieder Statistiken und Prognosen über die Vernichtung von Jobs bzw. Arbeitsplätzen infolge der aktuellen Automatisierungswelle und künstlicher Intelligenz durch die Medien. Glauben Sie bitte keiner von denen. Alles Quatsch. Lust auf eine kleine Prise Tiefgang? Lesen Sie meine kurze Meinung als Zukunftsforscher zu dem Thema...

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Warum der Hyperloop die Lufthansa angreift, nicht die Bahn

Rohrpost für Personentransport. Klingt ein bisschen nach „Liebling, ich habe die Kinder geschrumpft“? Dabei ist die Idee von einem Magnetzug in einem Vakuum-Röhrensystem – dem Prinzip Hyperloop – nicht neu, war aber aufgrund der technologischen Hürden selbstverständlich über ein Jahrhundert eine Utopie. Vor einigen Jahren hat dann der wohl prominenteste Milliardär und Technologie-Guru Elon Musk die verrückt anmutenden Überlegungen in einen Bauplan verwandelt, getreu dem Motto „alle sagten, es geht nicht. Dann kam einer, der das nicht wusste und machte es einfach“. Anstatt ein Patent anzumelden warf Musk diesen Plan dem Internet zum Fraß vor, weil er sich zu der Zeit lieber um seine anderen Projekte kümmern wollte.

Es dauerte nicht lang, bis sich einige visionäre Ingenieure daran machten, den Plan auf Machbarkeit zu prüfen – und sich Geschäftsmodelle zu überlegen, mit denen sie auf Investorensuche gingen. Das ging dann alles sehr schnell und plötzlich kristallisierten sich zwei konkurrierende und gleichzeitig sehr unterschiedliche Unternehmen heraus: Hyperloop Transportation Technologies (HTT) und Hyperloop One (heute Virgin Hyperloop One (VHO), nachdem Richard Branson, der andere verrückte Milliardär, dazustieß). Ich hatte das große Vergnügen, mich mit Dirk Ahlborn, dem CEO von HTT beim 2b AHEAD Zukunftskongress 2016 zu unterhalten; da haben wir ihm nämlich einen Innovators Award für sein Projekt verliehen und viele interessante Dinge gelernt.

2020-25: Frachttransporte in Phase 1

Zurück zum Hyperloop an sich. Das Rohrpostsystem verspricht in beiden Varianten Fortbewegung mit nahe-Schallgeschwindigkeit. Der erste Use Case ist natürlich die Beförderung von Fracht, bevor Lebewesen mit den Pods schneller und einfacher denn je zwischen den Metropolen der Welt reisen werden. Erste Strecken werden geplant, selbst der Hamburger Hafen liebäugelt mit dem Hyperloop.

Wenn die Verbreitung des Automobils Kutscher verdrängte, mehrere neue Industrien begründete (neben der Herstellung von Autos und den benötigten Teilen auch zeitgemäßen Straßenbau, Verkehrsleitsysteme, das Kraftfahrtbundesamt und vieles mehr) – welchen Effekt wird dann der Hyperloop haben? Dass die Welt ein weiteres Stück zusammenwächst, liegt auf der Hand. Doch wer sind die Kutscher, die mit den Hufen scharren und die Einführung der ersten Hyperloop-Strecken fürchten? Kleiner Tipp (steht ja auch schon in der Überschrift): Es sind nicht die Bahnunternehmen, denn auf kurzen und mittleren Strecken entfaltet ein Hochgeschwindigkeitszug natürlich nicht sein volles Potenzial.

Luftverkehr-Anbieter investieren in HTT- und VHO-Projekte

Stattdessen sind es die Flugzeugbauer und Airlines, die die Konsequenzen des Hyperloop fürchten und in ersten Projekten mit HTT und VHO stecken. Eine mächtige, zahlungskräftige Konstellation, die zweifellos dazu führen wird, dass nichts ungetan bleiben wird, politische und legislative Hürden zu nehmen und erste Strecken in Betrieb zu nehmen. Auf fast allen Kontinenten sind inzwischen erste Verträge (oft mit Regierungen) in Arbeit oder unterschrieben, die den Weg freimachen für den ersten Spatenstich. In den innovativsten Forschungszentren sowie bei den beiden Hyperloopern arbeiten Wissenschaftler, Ingenieure und Wirtschaftswissenschaftler unter Hochdruck daran, die Röhrensysteme, Pods, Energiemanagement und Innendesign der Systeme zu entwickeln.

Und ganz nebenbei: Natürlich ist ein Hyperloop sehr viel umweltfreundlicher als kerosinbetriebene Flugzeuge. Vorausgesetzt, der Strom stammt von regenerativen Energieträgern. Damit könnten die Hyperloop-Projekte eher unbewusst die Politik und den Energiesektor unter Druck setzen, die Energieerzeugung schneller als eigentlich geplant auf „erneuerbar“ umzustellen. Meine Einschätzung dazu ist, dass auch hier andere Staaten schneller sein werden als Deutschland – selbst wenn wir hier aktuell einen Anteil erneuerbarer Energien im Energiemix haben, der sich international sehen lassen kann.

Die Fahrt im Hyperloop wird kostenlos für Passagiere

Dirk Ahlborn kündigte beim Wirtschaftsforum in Davos 2018 an, in knapp drei Jahren die erste Strecke für Passagiere eröffnen zu können. Übrigens hat er auch angekündigt, dass niemals ein Passagier für ein Ticket zahlen wird, womit wir mal wieder beim Thema kostenloser Verkehr wären. Voraussichtlich wird die erste Hyperloop-Strecke gar nicht soweit von den Bundesgrenzen entfernt liegen: Frankreich möchte das erste europäische Land mit einem Hyperloop sein. Dann möchte ich unter den ersten sein, die Tickets zur Jungfernfahrt haben. Ich werde berichten!

Photo: https://en.wikipedia.org/wiki/Hyperloop


New Work: Neue Arbeit im Zeitalter der Digitalisierung

Was steckt eigentlich hinter dem Konzept von „New Work"? Was bedeutet Neue Arbeit für Sie als Personaler*in, Unternehmer*in oder Angestellte*r? Ein schneller Ritt durch die schöne, neue Arbeitswelt.

Begriffsbestimmung

Wie es sich für einen pseudo-wissenschaftlichen Beitrag gehört, möchte ich zunächst den Begriff definieren. Denn ich möchte wetten, dass Ihre Idee von New Work eine andere ist als meine und vermutlich auch als die Ihrer Angestellten oder Kolleg*innen.

Immerhin: Der Suchbegriff „New Work“ liefert bei Amazon über 100.000 Resultate, bei buch7.de findet man 39 deutschsprachige Bücher und 3522 Englische. Anschnallen: Wir betreten #Neuland!

Ursprung: New Work nach Bergmann

Das Konzept von New Work hat seine Wurzeln in den USA und wurde vom in Sachsen geborenen US-Österreicher Frithjof Bergmann bereits in den 1980er Jahren entwickelt. Bergmann betrachtete die Entwicklungen der kapitalistischen und kommunistischen Ökonomien kritisch. Als eine heftige Rezession die Automobilstadt Flint in Michigan traf, gründete er dort das erste Zentrum für Neue Arbeit. Dessen Ziel war es, Menschen auf den erwarteten Zusammenbruch der herkömmlichen Wirtschaftswelt vorzubereiten. Erst 2004 veröffentlichte Bergmann seine Ideen im Buch „Neue Arbeit, neue Kultur".

Bergmanns drei zentrale Thesen fußen auf der zunehmenden Automatisierung und Globalisierung. Er projizierte diese beiden Megatrends in die Zukunft und kam zu dem Ergebnis, dass die klassische Lohnarbeit kein tragfähiges Konzept für die Wirtschaft sei.

  1. Im Ergebnis erschien es Bergmann naheliegend, die Erwerbsarbeitszeit deutlich zu reduzieren, weil schließlich nicht genug Arbeit für alle Menschen in einem geographischen Gebiet verfügbar wäre.
  2. Diese Menschen würden ihre Güter für den alltäglichen Gebrauch in Hightech-Eigenproduktion selbst herstellen und in Netzwerken jedem frei zur Verfügung stellen.
  3. Eine starke normative Komponente kritisierte den Überfluss der Konsumgesellschaft, weshalb ein großer Teil der Güter und Waren des täglichen Lebens – so Bergmanns Argumentation – ohnehin überflüssig seien. Der Ansatz war damals natürlich revolutionär und wurde als anarchisch verschrien. Letztlich klingt das aber auch sehr schön, wenn nicht gar utopisch, denn die freigewordene Zeit sollen die Menschen in der schönen, neuen Arbeitswelt mit dem füllen, was sie am liebsten tun und am besten können. Viel mehr Menschen würden sich künstlerisch oder sportlich oder musisch oder floristisch oder, oder, oder… betätigen. Freiwillig.

Deutsche Adaption: Neue Arbeit nach Markus Väth

Obwohl die ersten Anzeichen für einen Wandel der Arbeitswelt spätestens seit der Jahrtausendwende immer offensichtlicher zutage traten, dauerte es hierzulande bis 2016, bis ein vergleichbares Standardwerk für die neue Arbeitswelt erschien. Der Psychologe und Informatiker Markus Väth nannte sein erweitertes und aktualisiertes Konzept „Arbeit – die schönste Nebensache der Welt". Väth bestimmte darin fünf Dimensionen der Neuen Arbeit:

  1. Psychologische Dimension: Ähnlich wie Bergmann erfüllt für Väth die Arbeit für den Menschen einen Zweck, nicht umgekehrt. Die Entfaltung des Individuums soll im Zentrum der Arbeitswelt stehen.
  2. Soziale Dimension: Im Beruf entstehen zwangsläufig mehr oder weniger intendierte zwischenmenschliche Beziehungen. In der neuen Arbeitswelt findet immer mehr Teamarbeit statt, moderne Führungskonzepte wiederum verteilen die Entscheidungsgewalt quasi-demokratisch auf mehrere Schultern der Angestellten.
  3. Technologische Dimension: Nach der großen Welle der Automatisierung im 20. Jahrhundert geht es nun an die Digitalisierung. Ziel dieser Veränderung ist natürlich die Effizienzsteigerung der Unternehmen bzw. Organisationen, welche zwangsläufig zu Veränderungen in der Personalbedarfsplanung führen (maximal objektiv formuliert).
  4. Organisatorische Dimension: In Zeiten des Taylorismus herrschten die starr hierarchischen Organisationsformen mit klarer Linienführung und top down-Entscheidungslogik vor. Diese Art der Organisation weicht einer immer agileren, netzwerkartigen Aufbauorganisation, die auch Platz für (teil-)autonome Teams und „unkonventionelle“ bottom up-Entscheidungswege lässt.
  5. Politische Dimension: Diese Dimension bezieht schließlich die externe Politik mit ein, die die Rahmenbedingungen für Gesundheit, soziale Gerechtigkeit, Lohnniveau und Arbeitsschutz schneller den aktuellen Gegebenheiten anpassen muss. Diese Anforderung adressiert natürlich die politische Exekutive, namentlich die Bundesregierung und die Bundesministerien (insbesondere die Ministerien für Wirtschaft, Arbeit und Soziales, Justiz und Finanzen).
    Markus Väth bloggt unter anderem zu New Work und hat in einem unterhaltsamen Artikel Ende Mai 2019 der deutschen Politik bescheinigt, dass auch New Work #neuland für sie ist.

Neue Definition New Work

In einer mir vorliegenden Bachelorarbeit (siehe Quellen) hat der Autor basierend auf einer qualitativen Expertenbefragung im Jahr 2019 eine – wie ich finde – gute neue Definition für Neue Arbeit entwickelt:

„New Work bezeichnet eine neue Form der Arbeit, welche die Selbstverwirklichung des Individuums im Arbeitsprozess in den Mittelpunkt stellt [!] und deren Ursprungsbezeichnung auf den Philosophen Frithjof Bergmann zurückgeht. Damit ist New Work ein Gegenbeispiel zur klassischen, linearen, hierarchischen Organisations- und Arbeitsform, in welcher der Mensch als Produktionsmittel wahrgenommen wird. New Work ist dabei mehr als nur Arbeitsweise, sondern hat Auswirkungen auf die Organisationsform. Dabei ist New Work aber keine einheitliche Denkschule, sondern kann in Bezug auf Arbeitsfelder, Miteinander und Arbeitsergebnisse – dabei sowohl auf deren Sinnhaftigkeit als auch auf deren gesellschaftlichen Mehrwert – individuell auf Unternehmen und Arbeitnehmer ausgerichtet sein.“

Exkurs: Industrielle Revolution(en)

Wir sind uns alle einig, dass der technologische Fortschritt einen Einfluss auf unser Verständnis von Arbeit hat. Immerhin tragen die meisten Arbeitnehmer*innen in Deutschland mit ihrem Smartphone auch 2019 noch einen schnelleren Computer in ihrer Hosentasche herum und nutzen barrierefreiere Angebote als das in ihrem Arbeits-PC möglich oder erlaubt wäre. In der Arbeitswelt wirft die Digitalisierung oder auch vierte industrielle Revolution ihre Schatten voraus. Ein kurzer Überblick über die industriellen Revolutionen:

  • 1. industrielle Revolution: Der Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft und Beginn der Urbanisierung hat vor allem Landarbeiter verdrängt, verabschiedet den Feudalismus als vorherrschendes Gesellschaftssystem. Beginn ab ca. 1780, Epizentrum: britische Baumwollindustrie.
  • 2. industrielle Revolution: Die zunehmende Mechanisierung und Elektrifizierung bringt viele Fließbandarbeiter um ihre Jobs und festigt das kapitalistische Wirtschaftssystem. Beginn ab ca. 1870, prominentestes Beispiel ist die massenhafte Automobilfertigung von Henry Ford (USA) in den 1910er Jahren.
  • 3. industrielle Revolution: Die mikroelektronische Revolution ersetzt einfache Hilfsarbeiten und setzt die ökonomische Globalisierung in Gang. Beginn in den 1970er Jahren mit dem Siegeszug der kommerziellen Computer und der ersten Industrieroboter – Sie ahnen, wo der Ursprung liegt. Richtig: Im Silicon Valley (auch USA).
  • 4. industrielle Revolution: Neue Grundlagentechnologien sind in dieser Revolution nicht hinzugekommen, doch die Vernetzung durch das globale und vor allem zunehmend mobile Internet entfaltet seit den 2010er Jahren ihr Potential. Beginn: 2007 mit Einführung des iPhone und 2010 mit der Einführung des 3G-Standards für mobile Internetverbindungen, ausgehend von den USA, aber bald (fast) global verfügbar. Die Welt wächst zusammen. Aber: Nicht zuletzt aufgrund des von der deutschen Regierung geprägten Begriffs „Industrie 4.0“ wird die tatsächliche Existenz des Revolutionscharakters kontrovers diskutiert; manch eine*r spricht höchstens von einer zweiten Phase der 3. industriellen Revolution.
  • Kurzer Ausblick: Spätestens mit dem bevorstehenden Durchbruch bei Quantencomputern sowie der künstlichen Intelligenz werden Digitalisierung und Globalisierung eine neue Stufe erreichen. Homo sapiens steht damit anthropologisch betrachtet auf einer neuen Grundlage (vgl. Yuval Noah Harari). Auch im Büroalltag wird es bald völlig normal sein, dass einige Kolleg*innen nur aus Programmcode bestehen; sie sind lernende Algorithmen, die im kommenden Jahrzehnt zunehmend Entscheidungen treffen werden. Das fängt bei einfachen Dingen wie Terminvereinbarungen an (vgl. Amy AI), macht aber auch vor heutigen Expertenaufgaben nicht Halt. Die Software von NDALynn oder Lawgeex prüft Verschwiegenheitsvereinbarungen (NDAs) schon heute präziser und viel schneller als Fachanwälte, die ihr Leben lang nichts anderes gemacht haben. Je mehr Entscheidungsgewalt auf die künstlichen Kollegen (Roboter bzw. Algorithmen) übertragen wird, je mehr diese in der Lage sind sich und ihre Interessen zu artikulieren, desto dringlicher wird auch der Bedarf nach rechtlichen Rahmenbedingungen und betrieblicher Mitbestimmung. In der Schweiz wurde im Dezember 2018 ein Roboter in die traditionsreiche Gewerkschaft „Verband Angestellte Schweiz“ aufgenommen, nachdem ein Robo-Kollege in Großbritannien entlassen wurde. Denn selbstverständlich machen die künstlichen Kollegen auch Fehler. Und als Korrektiv dafür muss aktuell noch das vorherrschende Rechtssystem herhalten; Unternehmen haften für ihre Kinder, äh, KIs. Dabei wird es immer komplizierter festzustellen, auf welcher Grundlage eine KI Entscheidungen trifft oder sich auf diese oder jene Weise verhalten hat. Bis zum Jahr 2030 werden die Kinderkrankheiten aber längst der Vergangenheit angehören. Die Auswirkungen auf menschliche Beschäftigte sind einerseits noch unklar, andererseits liegen sie vor allem in der Verantwortung der Arbeitgeber und der Politik.
    Es gehört zweifelsohne zu den Charakteristika solcher Revolutionen, dass bestehende durch neue Handlungsmuster auf allen gesellschaftlichen Ebenen ersetzt werden. Ebenso gehört es zu den bitteren Wahrheiten, dass im kapitalistischen System das Leitmotiv „Gewinnmaximierung“ nicht immer zugunsten der Beschäftigten entscheidet. So gab es in allen industriellen Revolutionen vor allem Massenentlassungen („Rationalisierungen“) und zumindest in Europa historische Massendemonstrationen (bspw. den Weberaufstand 1844, Widerstände gegen die Eisenbahn im 19. Jahrhundert, Taxifahreraufstände 2019, bald Automobil-Zulieferer-Aufstand…). Genauso können wir es aktuell beobachten. Und es werden noch viele Meldungen über Massenentlassungen folgen, nicht zuletzt weil Arbeitgeber und Arbeitnehmerorganisationen sich aus nachvollziehbaren, aber unvernünftigen Gründen gegen „disruptive“ Technologien sperren.

Wir halten folgende Formel fest: Technologiesprung + Kapitalismus = industrielle Revolution.

Zurück zum Leitthema, oder eher: Leidthema?

Willkommen zurück im Jahr 2019.

Industrielle Revolution hin oder her, das dürfen die Historiker der nächsten Generation beurteilen. Die Arbeitswelt unterliegt einem Wandel, dieses Mal mischen aber noch mehr Faktoren mit. Neben Technologiesprüngen und dem Kapitalismus spielen für die Debatte um New Work zwei weitere wichtige Faktoren eine wichtige Rolle: demografischer Wandel und Wertewandel.

Demografischer Wandel

Der Begriff an sich ist eigentlich bescheuert. Demografie befindet sich immer im Wandel, jede Sekunde sogar. Im Volksmund wissen wir in den westlichen Industriestaaten aber alle, was damit gemeint ist: die bevorstehende Überalterung der Gesellschaft(en).

Woher kommt das? Die sehr geburtenstarken Nachkriegsgenerationen, auch Babyboomer genannt, stehen altersmäßig kurz vor dem Renten- bzw. Pensionsalter. (Was das für Unternehmensnachfolgen bedeuten wird, habe ich mal als Co-Autor einer wissenschaftlichen Zukunftsstudie untersucht.) Die Generation danach wird nicht ohne Grund auch „Pillenknick-Generation“ genannt: Nach der Markteinführung der Anti-Baby-Pille kamen signifikant weniger Menschen zur Welt, auch andere Verhütungsmittel und der offenere Diskurs über Schwangerschaftsverhütung sowie HIV-Prävention spielen in die Statistik. Das Phänomen hat bis heute Bestand.

Nicht zuletzt erlebten die westlichen Staaten in den 1950er Jahren einen wirtschaftlichen Aufschwung (goldene 50er) und paradoxerweise führt Wohlstand zu weniger Geburten, das gilt sogar in Entwicklungsländern wie Indien oder Bangladesch (an die Soziologen: natürlich ist das kein monokausaler Zusammenhang, ich weiß).

Jedenfalls sterben schon seit 1972 in Deutschland mehr Menschen als geboren werden, gleichzeitig werden die Alten älter. Nicht ohne Grund wurde die Sicherheit der Rente schon in den 1990er Jahren infragegestellt.

Die demografische Entwicklung führt damit geradewegs in eine Welt des Arbeits- und Fachkräftemangels sowie des Altersüberschusses. Kombinieren wir diese Einflussfaktoren, erkennen wir für das Thema New Work zwei zentrale Konsequenzen der Demografie:

  1. Der Wert menschlicher Arbeit nimmt zu. Es war noch nie so leicht für qualifizierte Fachkräfte, einen Job zu finden (persönliche Mobilität vorausgesetzt). Was für Informatiker und einige Ingenieursberufe seit einem guten Jahrzehnt gilt – regelmäßige Abwerbeversuche anderer Arbeitgeber zu immer besseren Konditionen – gilt für auch immer mehr Sozial- oder Geisteswissenschaftler*innen. Und natürlich für Mediziner*innen. Sie suchen sich ihren nächsten Arbeitgeber an dem Tag aus, wenn sie eine neue Stelle antreten. Fordern ein Sabbitical, mehr Urlaubstage, bessere Sozialleistungen und so weiter. Viele Unternehmen in westlichen Industriestaaten wiederum sind in einer Zeit des Fachkräfteüberflusses gewachsen. Sie wissen oft nicht, wie sie mit anderen Mitteln als ihrer Marke und einem sicheren Einkommen um Fachkräfte werben sollen, wenn überhaupt. Employer Branding kann man deshalb inzwischen studieren. Dazu gehört inzwischen mehr als kostenloses Wasser und Obst am Arbeitsplatz. Haben Sie schon mal über Wohnzuschüsse für die Eltern Ihrer Angestellten nachgedacht? Oder Subventionen für temporäre Expat-Office-Aufenthalte auf Bali? Oder demokratische Wahlen der Geschäftsführung?
  2. Wirtschaftlich agierende Organisationen, in der Regel Unternehmen, müssen Arbeitsprozesse automatisieren. Dieser Befund ist heutzutage einer der zentralen Treiber für technologische Innovation, denn wenn ein Unternehmen keine Arbeitskräfte mehr durch die besten Employer Branding-Strategien findet, muss es neue Wege finden, den Profit zu maximieren. Nach einer Prognos-Studie fehlen 2030 drei Millionen Fachkräfte. Fachkräfte! Nicht „nur“ Arbeitskräfte. Damit gemeint sind lediglich die Spezialist*innen bzw. Expert*innen! Und heute stehen die Züge der Deutschen Bahn schon regelmäßig still, weil das Personal für die Stellwerke oder Loks fehlt. Dabei weiß ich aus sicherer Quelle, dass gerade der DB-Konzern recht früh damit angefangen hat, Gegenmaßnahmen zu ergreifen…

Wertewandel: Generation X, Generation Y, Generationsbrei…

Danke, Prof. Dr. Martin Schröder!

Im Oktober 2018 stieß ich auf seinen Beitrag in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (drauf gestoßen hat mich Spiegel Online). Endlich gibt es empirische Ergebnisse, die die gängigen Annahmen über „Generation X“, „Generation Y“, „Generation Z“ etc. widerlegen. Natürlich gibt es einen sich wandelnden Zeitgeist, natürlich wird ein Wertewandel durch Generationenwechsel beschleunigt. Und natürlich ist die Jugend verroht und respektlos, das wusste schon Sokrates. Aber es ist falsch zu behaupten, dass eine Geburtenkohorte in sich gefestigt über diese oder jene (insgesamt homogene) Wertvorstellungen verfügt oder Entscheidungen immer auf dieselbe Weise trifft. Nun endlich auch wissenschaftlich belegt.

Der gesellschaftliche Wertewandel vollzieht sich also dynamisch und relativ unabhängig vom Geburtsjahr, sondern orientiert an der aktuellen gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen Gesamtsituation. Meiner Generation werden beispielsweise eine kürzere Aufmerksamkeitsspanne und postmaterielle Ideale zugeschrieben – das erklärt noch lange keine Inflation von Achtsamkeitstrainings und die Absatzzahlen von Tablets bei über 45-Jährigen.

Was wir aber sehr wohl festhalten können ist ein steigender Drang zur Subjektivierung, auch Individualismus genannt. Parallel vollzieht sich ein Bruch mit dem Determinismus, sprich der Weltanschauung, dass ein oder mehrere göttliche(r) Schöpfer das Schicksal jedes Lebewesens bestimmt/bestimmen. Immer mehr Menschen nehmen ihre Lebensläufe selbst in die Hand, gehen – besonders in Sozialstaaten – höhere Risiken ein, sehen Arbeit nicht mehr als das zentrale Element ihres Lebens. Immerhin will man ja was erleben! Schließlich erfreuen wir uns einer steigenden Gleichberechtigung der Geschlechter, Kulturen, Religionen und weiteren Kategorien. (Über die weiteren, spannenden Auswüchse des Wertewandels schreibe ich vielleicht mal an anderer Stelle etwas, aber das war’s im Wesentlichen für das Thema New Work.)

Konkrete Folgen für den Arbeitsmarkt:

  • Immer weniger Menschen hegen den Wunsch, ihr Erwerbsleben bei nur einem Arbeitgeber zu verbringen.
  • Immer mehr sehen lebenslanges Lernen mit teils obskuren Richtungswechseln als Erfüllung.
  • Immer mehr Menschen sind beruflich Selbstständige (Statistik, mehr Startups. auch mehr Gründungen durch Ältere) oder fristen als Freiberufler ihr flexibles Dasein.
  • Immer mehr Frauen rücken in Führungspositionen oder gründen Unternehmen – dasselbe gilt für homo-, trans- und intersexuelle Menschen sowie Menschen mit Migrationshintergrund. Langsam, aber immerhin.

Mini-Fazit Demografie und Wertewandel

Die Arbeitswelt unterliegt erheblichen exogenen und endogenen Treibern der Veränderung. Wer noch nicht angefangen hat, sich mit New Work zu beschäftigen, sollte genau jetzt starten. Aber Sie lesen diese Zeilen vermutlich aus dem Grund, weil Sie schon im Thema stecken… das ewige Paradoxon setzt sich fort. Wenn Sie jemanden kennen, der mit New Work noch nichts verbindet – nutzen Sie bitte die Teilen-Funktion dieses Beitrags für Xing, Linkedin, Mail oder ein Format Ihrer Wahl. Danke! Und jetzt: weiter im Text.

Zwischenfazit: Warum New Work? Warum jetzt?

Erwerbsarbeit, ein historisch relativ junges Konstrukt, unterliegt großen Umschwüngen. Dieser stetige Wandel wurde bislang vor allem durch technologische und politische Umwälzungen angestoßen. Die stärksten derzeit wirkenden Einflüsse bzw. Trends lauten:

  • Die Digitalisierung entfaltet so langsam ihr volles Potential. Gemeint ist nicht bloß die Elektrifizierung und Automatisierung vormals mechanischer (Arbeits-)Prozesse. Die Vernetzung der wachsenden Weltgemeinschaft (Globalisierung 2.0) und des globalen Arbeitsmarkts hat erst vor wenigen Jahren eingesetzt.
  • Der demografische Wandel zwingt Arbeitgeber in die Situation, automatisieren zu müssen. Arbeitnehmer profitieren von der Überalterung der Gesellschaft, sodass immer mehr Qualifikationen oder Professionen unter Hochdruck gesucht werden – und Beschäftigte sich immer mehr ganz mündig und selbstbestimmt ihre Erwerbsbiographie stricken.
  • Der Wertewandel in liberalen, demokratischen Staaten ermöglicht die aktive Teilhabe vormals unterdrückter Bevölkerungsgruppen. Gleichzeitig werden die Bedingungen für die berufliche Selbstverwirklichung immer günstiger.Schließlich zeigt die relative Reife der New Work-Diskussion, dass wir weit davon entfernt sind, eine einheitliche Definition für Neue Arbeit zu entwickeln. Es sind allenfalls Stoßrichtungen der Transformation; das Ergebnis wird bei jeder Organisation anders aussehen.

Was bedeutet New Work für Organisation und Management?

Selbstverständlich stehen wir noch am Beginn der Transformation. Oder stecken mittendrin. Das hängt von Ihrem Standpunkt und der Rhetorik ab. Wichtig ist, dass New Work per Definition kein abschließbarer Prozess sein kann – kein Change-Prozess mit einem konkreten Ziel.

Mindset shifts for organization transformation (new work)Aaron Sachs und Anupam Kundu haben eine schöne bildliche Darstellung entwickelt, die die fundamentalen Richtungswechsel darstellt. Ich versuche mich auch in meinen Keynotes immer mal gern an einer Erläuterung. Nun auch hier:

  • Unternehmenszweck: Natürlich müssen Unternehmen Gewinn (profit) erwirtschaften. In Wirklichkeit müssen sie sich aber viel stärker an einem Sinn (purpose) orientieren – das macht übrigens auch die Personalarbeit leichter. Im nächsten Schritt wird die strikte Formulierung von Prozessen weniger benötigt, da jede*r einzelne Mitarbeiter*in den Sinn so sehr verinnerlicht hat, dass das Ziel mit eigenen Mitteln erreicht werden kann. Oft auch unkonventionell, eben individuell auf die Bedürfnisse und Stärken der Persönlichkeit zugeschnitten.
  • Aufbauorganisation: Verabschieden Sie sich von starren Hierarchien und machen Platz für Netzwerke. Agile Projektteams, in denen auch mal die Geschäftsführung als einfache Teamplayer einer Projektleiterin unterstellt sind – kein Novum mehr in Unternehmen an der Spitze der New Work-Bewegung. Eine Kienbaum-/StepStone-Studie hat 2017 nachgewiesen, dass mit steigender Durchlässigkeit der Hierarchieebenen der Unternehmenserfolg messbar steigt (von funktional über Matrix über gar keine Abteilungen zu divisional und schließlich agil).
  • Personalführung: Gemäß dem tayloristischen System müssen Führungskräfte ihre Angestellten eng führen und kontrollieren, weil sie ja schließlich selbst nicht in der Lage sind, eigenständig zu handeln. Überprüfen Sie gern mal Ihr Prozesswerk, das haargenau diese und jene Schritte für die einfachsten Tätigkeiten festlegt – dadurch wird Menschen das eigenständige Denken abgewöhnt. Viel wichtiger ist in der Neuen Arbeitswelt die Befähigung (empowering) der Beschäftigten: durch eine offene, faire Feedback-Kultur, intrinsische Anreize, eine gesunde Fehlerkultur und Zugeständnisse bei Entscheidungswegen.
  • Produktentwicklung: Die deutsche Innovationskultur zeichnet sich durch einen perfektionistischen Tüftlerdrang aus. Die Metapher ist der schwäbische Tüftler, der in seiner Garage eine Idee jahrelang bis zum perfekten, marktfähigen Produkt entwickelt – zwischendurch ein Patent anmeldet und ein Marktforschungsinstitut mit einer repräsentativen Studie seiner Zielgruppe beauftragt. Bei immer kürzer werdenden Innovationszyklen auf immer diffuseren Märkten kann diese Taktik nicht mehr funktionieren. An der Stelle müssen sich Erfinder*innen und Entwickler*innen eine Scheibe aus dem Silicon Valley abschneiden und mehr experimentieren. Und zwar in der Realität. Ein Prototyp bzw. Pretotyp (oder auch MVP, minimum viable product) ist egal für welche Idee (ausgenommen vielleicht Hochsicherheitslösungen) schnell entwickelt, wird dann an eine begrenzte Testgruppe herangeführt, um Feedback zu erhalten, dieses anschließend umzusetzen und mit einer überarbeiteten Fassung erneut an die Öffentlichkeit zu gehen. Selbst die ersten Fahrzeuge von Tesla verfolgten dieses Ziel; in den Fahrzeugen war so viel unfunktionale Sensorik verbaut, die nur dem Zweck diente, Daten über das Nutzungsverhalten zu sammeln und mit einer massiven Support-Offensive die oft noch unzufriedenen, oft unbewussten Test-Fahrer bei Laune zu halten.
  • Daten: Das leidige Thema Datenschutz und Betriebsgeheimnisse. Die „alte Welt“ funktioniert nach strikten Wettbewerbsregeln, in denen Unternehmen ihre interne Entwicklung hermetisch abschirmten. Wieder bemühe ich die steigende Innovationsgeschwindigkeit als Gegenargument: in einer globalisierten Welt können Sie sich sicher sein, dass ein*e Entwickler*in irgendwo auf dem Globus exakt dieselbe Idee schon mal gedacht hat wir Ihr Entwicklerteam. Ideen wachsen nur durch Diskurs und Experimente. Besonders in heterogenen Gruppen gedeihen diese umso besser – eine Erklärung für die wachsende Anzahl teils brancheninterner Allianzen, wie zwischen BMW und Daimler oder Kooperationen zwischen TÜV NORD und TÜV SÜD, die ich leiten durfte. Darüber hinaus findet immer mehr Ideen- und Innovationsaustausch auf oft noch informellen Treffen statt, während andernorts Innovativität noch an der Anzahl der angemeldeten Patente gemessen wird. Wenn die Anmeldung eines Patents ca. zwei Jahre dauert, der Konkurrent dieselbe Lösung aber zwischendurch auf den Markt bringt, nützt dem besten Erfinder das Postkartenformat im Hausflur genau gar nichts.

Schlussstrich und Ausblick: Digitalisierung führt zu New Work

Der Druck auf den Arbeitsmarkt ist groß. Digitalisierung, Demografie, Arbeitnehmerbewusstsein, Globalisierung… Im Ergebnis erwarten Optimisten, dass die Neue Arbeit keine Umstellung für den einzelnen Menschen sein wird, sondern viel enger auf die Bedürfnisse abgestellt ist. Flexible Arbeitszeiten und -orte (wie Homeoffice), BYOD (bring your own device), interessen- und stärkenbasierte Einsatzzwecke und vieles mehr. In ein paar Jahrzehnten werden sich Historiker über unsere Epoche der tayloristischen Erwerbsarbeit und Aufbauorganisation mit einer ähnlichen Distanz und Unverständlichkeit äußern wie wir heute über Sklaventum oder Feudalismus urteilen.

Es gibt viel zu tun. Packen wir es an! … und wenn Sie Unterstützung bei der Umsetzung oder Inspiration für Ihre Mitarbeiter (oder Vorgesetzten) wünschen: kontaktieren Sie mich.

Ausgewählte Quellen

Dittrich, Bob (2019): New Work. Eine qualitative Expertenbefragung (Bachelorarbeit, unveröffentlicht).

Eilers, Frank (laufend): Arbeitsphilosophen Podcast: https://www.einfach-eilers.com/arbeitsphilosophen.

Mason, Paul (2015): Postkapitalismus.

Schröder, Martin (2018): Der Generationenmythos. Online.

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Die Renaissance des Verbrennungsmotors

„Totgeglaubte leben länger“, hat bestimmt mal Albert Einstein oder Mark Twain gesagt. Die Liste der dafür empirisch zur Untermauerung genannter Beispiele wird sich möglicherweise schon bald um einen Kandidaten erweitern, mit dem nun wirklich gerade niemand rechnet: der Verbrennungsmotor.

Elektromobilität ist die neue Religion

Alle Welt und Massenmedien prescht in puncto Antriebstechnologie bzw. Treibstoffe für Autos und andere Fahrzeuge gerade in Richtung E. E ist wie eine neue Religion. E spaltet die Geister, die politischen Lager, die Konzernwelten und das aus vielen Gründen. Diejenigen, die den Markt der E-Mobilität dominieren, haben die etablierte Industrie überrannt. Gefühlt über Nacht brachte Tesla ein fast alltagstaugliches Elektroauto auf den Markt (Roadster), dann ein relativ teures, wirklich alltagstaugliches (S), dann eins zu akzeptablem Preis (3)*, nicht zu vergessen einen SUV (X).

Die Arroganz der etablierten Automobilindustrie wird ihr gerade zum Verhängnis, der öffentliche Kampf gegen E-Autos wurde beigelegt und nun bauen auch sie E-Modelle, manche mehr, manche weniger. Es sei eine „Zukunftstechnologie“ (was für ein Quatsch, die allerersten Autos waren auch elektrisch betrieben), außerdem müsse man sich angesichts der immer schärferen CO2-Auflagen für Automobilbauer darum bemühen, im Durchschnitt weniger Dreck zu emittieren. Deshalb gibt es ja auch bald den E-Smart, damit die Luxuslimousinen desselben Konzerns weiterhin 600 PS mit Diesel- oder Benzinmotoren über die Bundesstraßen jagen können.

Auf der anderen Seite die ausdauernden E-Skeptiker. Lithium-Ionen Batterien, so ihr Plädoyer, mögen zwar mit Inbetriebnahme weniger CO2-Emissionen generieren. Aber für die Herstellung müssen große Mengen sogenannter Blut-Rohstoffe wie Cobalt oder, wie der Name ahnen lässt, Lithium abgebaut werden. Die sind vor allem dort vorhanden, wo Gesundheits- und Arbeitsrechtsstandards reine Theorie sind. Und vielleicht in Sachsen. Außerdem werden große Energiemengen benötigt, um überhaupt eine Batterie herzustellen – was überwiegend noch aus fossilen Quellen befeuert wird. Und dann ist es außerdem so, dass Batterien mit einer sinnvollen Kapazität für mehrere 100km Antrieb eines Autos ein stattliches Gewicht auf die Waage bringen. Deshalb produziert man einen guten Teil der Batterie nur dazu, sich selbst zu bewegen – irgendwie paradox. Unterm Strich, haben kluge Menschen errechnet, dass ein Elektroauto wie der Tesla Model S erst nach 80-100.000 gefahrenen Kilometern wirklich klimapositiv fährt.

Es klingt immer blöd, aber: Zukunftsforscher wissen längst, dass die Zukunft der Branche nicht von Elektromotoren dominiert sein wird. Natürlich lässt es sich nicht mehr verhindern, dass ein gewisser Anteil der Personenfahrzeuge im Jahr 2030 elektrisch angetrieben werden (ich schätze irgendwo zwischen 15 und 25 Prozent). Aber bei all dem Schaumschlagen um die batteriebetriebenen Fahrzeuge schlüpfen ein paar spannende technologische Entwicklungen aus den Kinderschuhen, um die E-Revolution anzugreifen.

Die Revolution der Revolution der Mobilität

Wie verrückt erscheint Ihnen die Vorstellung, CO2 aus der Atmosphäre zu extrahieren, mit Wasserstoff chemisch zu verheiraten und daraus einen flüssigen Treibstoff herzustellen, der in üblichen Verbrennungsmotoren Schub erzeugt? Oder wenn wir giftige Nebenprodukte der Chemieindustrie wie LOHC mit einem ähnlichen Ziel nachnutzen könnten? Genau das passiert gerade. Ich habe im obigen Absatz bewusst nur zwei Quellen verlinkt, es arbeiten diverse Akteure aus unterschiedlichsten Industrien (darunter auch Audi) rund um den Globus daran, die vorhandenen Autos mit Verbrennungsmotor vor dem Exitus zu retten.

Ich wundere mich immer wieder über die Starrköpfigkeit der Öffentlichkeit oder auch Politik, solche Entwicklungen zu ignorieren. Man streitet lieber noch über das böse Cobalt und hackt übel gelaunt Tweets in sein Smartphone (, welches nebenbei bemerkt auch aus einer Menge Blutrohstoffe von oft suizidalen Arbeitern der Zu-zu-zulieferer der schillernden Marken zusammengeklöppelt wurde). Augen auf, liebe Leute: Die Revolution der Revolution hat längst begonnen.

Fazit: Der Verbrennungsmotor ist nicht tot, nur das Verbrennen fossiler Energieträger. Das Wettrennen der Lobbyisten um Fördergelder für entweder Elektromobilität oder die Rehabilitation des Verbrenners dürfte in vollem Gange sein.

PS: Der Vollständigkeit halber: ich fokussiere in diesem kurzen Beitrag bewusst nur auf „herkömmliche“ Elektromotoren vs. Verbrenner, alle anderen Konzepte (von Wasserstoff-Hybrid über Ionenantrieb bis Thorium) klammere ich mal aus. Ergänzungen bitte ins Kommentarfeld ????

*Funny fact: Das Model 3 sollte ursprünglich Model E heißen, was aber von der Konkurrenz markenrechtlich gerichtlich verboten wurde. Aber auch mit S, 3 und X funktioniert der Guckwitz von Elon Musk’s heißem E-Auto-Trio. Wir dürfen gespannt sein, ob er es mit einem Model Y zu einem Vierer verwandelt (Spekulation basierend auf der Biographie von Elon Musk).

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Einzelhandel / Retail der Zukunft

Sterben die Innenstädte bald aus? Nein. Geht künftig überhaupt noch jemand in der Fußgängerzone bummeln, wenn wir doch bequem von der Couch aus sämtliche Konsum-Bedarfe auf unserem Tablet online bzw. mobil bestellen und uns Drohnen beliefern? Wahrscheinlich ja. Ein Plädoyer für Augenmaß bei Trend-Debatten.

Retail 2019: Status Quo des Handels

Der deutsche Einzelhandel steht unter Druck. Die Umsätze steigen zwar voraussichtlich auch 2019 weiter an, doch besonders Kleinstädte und ländliche Regionen werden zunehmend zum „Opfer der Digitalisierung“, wie das Handelsblatt Anfang Januar titelte. Immer mehr E-Commerce und M-Commerce (mobiles Shopping) bedrängen die kleinen Händler, die sich ohnmächtig fühlen. Immer mehr Bestellungen werden über Sprachassistenten wie Amazons Alexa, Apples Siri, Microsofts Cortana, Googles bzw. Alphabets Home oder Samsungs Bixbi aufgegeben – und das bald schon ohne Zutun der Menschen, wenn es nach Unternehmen wie Gupshup geht. Immer mehr Händler fühlen sich ohnmächtig im Angesicht einer wachsenden Marktmarkt der Retail-Goliaths Amazon, Alibaba, H&M und Co.

Walmart hat kürzlich angekündigt, seinen US-Kunden die Lebensmittelbestellungen künftig bis in den Kühlschrank zu liefern. Andere Händler übertrumpfen sich gegenseitig dabei, jegliche Bestellungen vor die Haustür zu bringen – in immer kürzerer Zeit. So möchte Amazon mithilfe des neuen hauseigenen Drohnen-Lieferdienstes Prime Air innerhalb von 30 Minuten Kunden in Großstädten mit ihren Kleinbestellungen bis zu 2,3 kg versorgen (innerhalb eines Radius‘ von 24 Kilometern bis zum nächsten Lager). Dabei ist Amazon seinerzeit zum weltgrößten Handelsunternehmen aufgestiegen, viele Jahre ohne eigene Lager zu besitzen.

Ist das alles Digitalisierung? Absolut. Einer der zentralen Mechanismen der Digitalisierung ist die Plattform-Ökonomie, welche die Grundlage für den Erfolg von Amazon, Facebook, Netflix, Uber, Airbnb etc. bildet. Der Mechanismus lautet: Wenn du eine Software schreiben kannst, die bestehende Infrastruktur und technische Geräte zu deinen Gunsten besser organisiert als das bisherige, analoge System, dann suche dir rechtzeitig einen guten Vermögensverwalter.

Scheinbar ausweglos? Nein! Es ist noch nicht alles verloren.

Ich kenne die Situation im Einzelhandel ganz gut, nicht zuletzt aus biographischen Gründen. Ich stamme aus einer Stadt, die den Niedergang der Fußgängerzone in den letzten 20 Jahren live miterlebt hat. Aus Beratungsprojekten der vergangenen Jahre und Dutzenden Gesprächen mit Insidern kenne ich die Themen, die dem deutschen Retail-Segment Sorgen bereiten. Mit diesem Beitrag lade ich Sie ein, die Situation von Grunde auf neu zu bewerten. Los geht’s mit einem…

Perspektivwechsel: Blickpunkt China

Im Herbst 2018 bin ich im Zusammenhang mit einem Studienprojekt bei meinem alten Arbeitgeber nach China gereist. Dort habe ich mich mit einigen Unternehmer*innen in Shanghai und Peking unterhalten, um dem Mythos auf den Grund zu gehen, dass China uns in puncto Technologie längst überholt hat. Die kurze Antwort auf diesen Mythos lautet: Nein, aber ja. Nein, ein fundamentaler Vorsprung lässt sich nicht attestieren. Aber ja, in China verlassen jedes Jahr grob geschätzt so viele Informatikstudierende die Hochschulen wie hier überhaupt für alle Fächer eingeschrieben sind. Noch ist es nicht soweit, aber es besteht ausreichend Grund, hierzulande alles in Bewegung zu setzen, um den Anschluss nicht zu verlieren. Schließlich wollen wir doch nicht wie bei der MP3 oder dem Automobil im Nachhinein Vordenker auf diversen Gebieten sein, aber anderen den ökonomischen Erfolg überlassen. Oder?

Zurück zum Reisebericht. Besonders lehrreich war für mich auf meiner ersten Chinareise ein ganzer Tag mit Jingdong (JD.COM). Nach eigenen Angaben hat der Konzern im letzten Jahr mehr Waren verkauft als Alibaba, welches im Rest der Welt deutlich bekannter ist, und ist damit zum landesweit größten Online- und Offline-Händler des Landes aufgestiegen. Die Firmenzentrale in Peking ist zunächst unscheinbar und nur das Maskottchen – der weiße Hund – deutet daraufhin, dass in dem verglasten Gebäude keine Bank oder eine gewöhnliche Behörde ihren Hauptsitz hat. Zuvor haben wir mit der lustigen, heterogenen Reisegruppe schon ein paar Stationen in Peking erkundet, haben in einem Jingdong Restaurant-Supermarkt (7FRESH) zu Mittag gegessen und Blockchain-vernetzte Fische in den Aquarien bestaunt. Außerdem durften wir das personalfreie Popup-Geschäft im Erdgeschoss ausprobieren, in dem kein Kassierer sitzt . Hier loggen sich die Kunden beim Eintreten in den Markt mit ihrem Smartphone ein und erhalten einen einmaligen Code aufs Telefon. Kameras und RFID-Chips senden automatisch die vom Kunden ausgewählten an diesen Code, sodass die Software beim Verlassen des Geschäfts automatisch den fälligen Betrag vom Konto des Kunden einzieht. In China gibt es keine Gewerkschaft, die dagegen sein könnte, also wird es einfach gemacht.

In dem Jingdong Hauptquartier habe ich dann also im Rahmen einer kleinen Pressekonferenz einige leitende Mitarbeiter getroffen, darunter auch Chen Zhang, damals noch Chief Technology Officer – also Chef-Ingenieur – von Jingdong. Zhang bringt viele Jahre Erfahrung aus dem Silicon Valley mit und hat in seiner Zeit bei JD.COM das mindset des chinesischen Konzerns maßgeblich geprägt und ungewöhnliche Ideen vorangetrieben. Jingdong konnte nur derart erfolgreich werden, weil die Unternehmensführung früh begriffen hat, dass reiner Handel kein skalierbares Geschäftsmodell ist. Die Margen sind begrenzt und je länger eine Wertschöpfungskette ist, desto weniger Gewinn bleibt am Ende für jedes Glied. Deshalb ist Jingdong ebenso wie die G-MAFIA (Google, Microsoft, Amazon, Facebook, IBM, Apple) zu einem Technologieunternehmen geworden. Ohne Datenauswertung (Big Data bzw. Predictive Enterprise) lässt sich heute kein Sortiment mehr optimieren, keine Lagerdisposition organisieren, kein Transport über tausende Kilometer realisieren – schon gar nicht in einem Markt mit potentiell 1,3 Milliarden Kunden wie in China. Jingdong hat deshalb auch eine eigene Logistikinfrastruktur durchs gesamte Land aus dem Boden gestanzt und testet fleißig autonome Fahrzeuge in der International Auto City in Shanghai (nebst Volkswagen, Ford und Co.).

Neben den üblichen Themen der Retailer – Drohnenlieferungen, Blockchains zur Nachverfolgung der Waren vom Erzeuger bis zum Point of Sale, Lagerautomatisierung, personalfreier Einzelhandel – hat mich ein Thema aus Zhangs Erzählungen besonders fasziniert: Retail as a Service. Das Konzept war mir zwar nicht neu, aber ich habe es zugegebenermaßen vorher nicht vollständig verstanden – nicht zuletzt da es noch keine ernsthafte Umsetzung gab.

Was steckt also hinter Retail as a Service (RaaS)? Ich versuche mich an einer knackigen Erklärung, ohne Gefahr zu laufen, Werbung für Jingdong zu machen. Ein Handelsunternehmen, welches in einer geografischen Region über viel datenbasiertes Knowhow verfügt, kooperiert mit kleinen Händlern. Ende der Geschichte.

Retail as a Service: Fiktive Geschichte einer Implementierung

Konkret kann RaaS folgendermaßen aussehen. Stellen Sie sich vor, Sie betreiben ein Spielwarengeschäft in der Lüneburger Fußgängerzone. Sie spüren seit Jahren, dass immer weniger Kunden zu Ihnen ins Geschäft kommen. Und dann gibt es immer wieder solche, die sich lang und breit von Ihnen beraten lassen und nach einem netten, informativen Gespräch mit folgenden Worten Ihr Geschäft verlassen: „Vielen Dank, ich denke nochmal darüber nach.“ Sie ahnen schon, dass Sie die Kundin erstmal nicht wiedersehen werden, dass sie lieber online bestellt und damit vielleicht ein paar Euro spart, und Sie fühlen sich ausgenutzt. Immerhin haben Sie die Kundin doch beraten und da ist ein kleiner Preisaufschlag doch gerechtfertigt! Ist er auch, doch viele Kunden entscheiden letztlich grundlegend rational. Und die Währung für diese Entscheidung ist der Preis. Dass Sie beide Zeit für das Gespräch investiert haben, dass Sie Miete für Ihr Geschäft zahlen und vielleicht sogar besonderen Wert auf gut ausgebildetes Beratungspersonal legen, juckt den Geldbeutel der wenigsten Kunden. Doch es ist Rettung in Sicht: Unternehmen wie Jingdong erkennen gerade den fragmentierten Markt der kleinen Händler immer mehr als attraktive Partner im RaaS-Sinne. Und das läuft dann so ab.

Ein großes Technologie- und Handelsunternehmen wendet sich an Sie als Inhaber unseres Spielwarengeschäfts, wahrscheinlich via E-Mail. Der große Händler, nennen wir ihn ABC AG, verblüfft Sie zunächst mit einigen Erkenntnissen über Ihre Kunden ohne jemals Ihren Laden oder Lüneburg oder Niedersachsen betreten zu haben. Außerdem kennt er Ihr Sortiment einigermaßen genau und wird schon in einem ersten Gespräch Optimierungsvorschläge nennen, welche Produkte oder Dienstleistungen gerade bei Ihren Zielkunden angesagt sind. Schließlich wird die ABC AG Ihnen ein Angebot machen, über das Sie sicher erst eine Nacht schlafen müssen: Die ABC AG steigt als stiller Beteiliger in Ihrem Unternehmen ein und hilft Ihnen dabei, die lange fälligen Renovierungs- und Modernisierungsarbeiten an Ihrer Ladenfläche zu realisieren.

Nehmen wir an, Sie entscheiden sich für die Kooperation. Dann geht alles ganz schnell. Neben einer Verjüngungskur für Einrichtung und Innengestaltung installiert Ihr neuer Partner ein paar Kameras im Eingangsbereich, die fortan alle Kunden, die damit einverstanden sind, per Gesichtserkennung identifizieren und durch einen Abgleich mit Ihrem Kundenregister (CRM) einsortieren. An kleinen und großen digitalen Bildschirmen in Ihrem Geschäft werden die auf diese Weise erkannten Kunden mit individualisierten Produktvorschlägen und personalisierten Sonderangeboten gelockt. Nimmt ein Kunde ein Produkt aus dem realen Regal, werden zudem auf Wunsch auf einem Monitor in der Nähe Informationen über die Herkunft, Haut(un)verträglichkeiten, Anwendungsmöglichkeiten etc. angezeigt – möglich machen es RFID- oder NFC-Chips an den Produkten und Verpackungen. Die digitalen Preisschilder synchronisieren sich laufend mit den Preisen auf der Online-Plattform der ABC AG, sodass der Kunde überhaupt kein Argument hat, jetzt nicht sofort in Ihrem Geschäft Umsatz zu generieren – andernfalls weiß die ABC AG auch genau, dass exakt dieser Kunde bei Ihnen im Geschäft war und Sie erhalten umgekehrt dennoch eine Verkaufsprovision, wenn der Kunde doch lieber von zuhause aus bestellt.

Zusätzlich bieten Sie natürlich die Möglichkeit an, Ihren Kunden die eingekaufte Ware aus Ihrem Geschäft nach Hause zu liefern; dafür sorgt das durch die ABC AG betriebene, hochgradig automatisierte Logistiknetz mit fliegenden und fahrenden Drohnen. Und letztlich bieten Sie neuerdings nicht mehr nur Spielwaren an, sondern auch einige Artikel und Dienstleistungen, die Ihre Zielgruppe außerdem interessant findet. Wenn wir davon ausgehen, dass Ihr Endkunde in der Regel Kinder und Jugendliche sind, zusätzlich zu diesen aber auch deren erwachsene Verwandte bei Ihnen im Geschäft stehen, könnten diese zusätzlichen Artikel vielleicht die letzten SPIEGEL Bestseller, Küchengeräte oder Gartenmöbel sein. Das wird die ABC AG auf jeden Fall wissen, denn sie weiß sehr viel über diese Menschen, die Ihren Laden betreten – und welche Bedürfnisse sie außerhalb dieses Geschäfts haben. Und das Beste: Sie verfügt über exakt diese Waren und stattet Ihr Geschäft in einer kleinen, dedizierten Motto-Ecke damit aus. Das Sortiment in diesem Bereich wechselt selbstverständlich regelmäßig, immerhin braucht kein Mensch im tiefsten Winter einen Liegestuhl für die Veranda.

Last but not least: Bezahlsysteme / Payment. Ich habe oft das Gefühl, dass alternative Bezahlsysteme hierzulande noch wie Magie anmuten. Am liebsten zahlen die Deutschen noch mit Bargeld, erst 2018 wurde mehr Geld überwiesen als überreicht. Damit sind wir in Bezug auf das Geld bestenfalls konservativ. Einige Händler und Gastronomen rudern sogar wieder zurück, da sie die Gebühren der Kreditkartenunternehmen nicht übernehmen möchten. Dass dieses Argument fahrlässig kurz gedacht ist, weiß jeder, der schon einmal das Lokal gewechselt hat, weil er oder sie nicht mit Kreditkarte zahlen konnte. Umgekehrt ist es ein Leichtes für Händler oder Gastronomen, bestimmte Preise im Sortiment zu heben und somit die Gebühren zu amortisieren. Noch besser, man macht sich unabhängig von den Kreditkartenunternehmen und akzeptiert Paypal, Apple Pay oder Google Pay. Warum Geräte anschaffen, wenn die Kunden ihre Bank in der Hosentasche mit sich herumtragen? Sicherlich müssen sowohl Personal als auch Kunden in der Anfangsphase geschult werden. Doch Ihre Buchhaltung und Steuerberater werden es Ihnen danken, wenn sie keine verklebten Bons mehr Wochen nach Beleg entziffern müssen.

Lohnt sich der Blick nach China? Nun, das liegt ganz an Ihnen. Chen Zhang hat im Gespräch Oktober 2018 angekündigt, dass Jingdong die Expansion ins restliche Asien ab 2019 anschieben wird. Ebenfalls 2019 wird man sich in ersten europäischen Ländern breit machen, darunter auch Deutschland, erste Schritte wurden bereits gegangen. Alibaba übrigens auch. Ob Sie wollen oder nicht, früher oder später wird dieses Thema Sie beschäftigen. Aber verfallen Sie bitte nicht in Angststarre oder kategorische Ablehnung; es geht hier um existenzielle Veränderungen, so hart es klingen mag. Existenziell bedeutet aber auch, dass es zwei Seiten geben wird. Diejenige, die sich den veränderten Rahmenbedingungen erfolgreich anpassen kann und die andere. Das ist eine fast banale Erkenntnis über die Evolution der Ökonomie.

Schön, aber was wird nun aus den Innenstädten?

Richtig, fast vergessen. In der Einleitung habe ich ein Plädoyer angekündigt und zwischendurch viel über Trends aus aller Welt berichtet. Seit Jahrzehnten prophezeien Trendforscher das Aussterben der Fußgängerzonen und folglich der Innenstädte. Ganz Unrecht hatten sie damit nicht. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass dystopische Aussagen meiner Vorgänger*innen oft auch genau dahin führen, wo sich viele Menschen schließlich ihrem Schicksal hingeben: zur Lethargie, dem Veränderungs-Widerstand, der Angststarre. Besonders kommunale Einrichtungen wie städtische Stellen für Stadtentwicklung, Gewerkschaften oder Kammern haben jahrelang zu wenig gegen die Insolvenzwelle besonders der kleinen Händler*innen getan. Umgekehrt haben sie vielleicht zu wenig getan, um ebendiese zu fördern und zu unterstützen bei einer innovativen Restaurierung des Kerns ihrer Kommunen. Digitalisierung ist kein Ein-Mensch-Projekt.

Mein Plädoyer für mehr Augenmaß bei Trend-Debatten geht also so:

Glauben Sie keinem Trend und dessen Jüngern, die behaupten, Ihr Umfeld würde sich praktisch über Nacht diametral verändern. Technologisch könnten wir sicher schon ganz woanders stehen – doch es gibt eben auch soziale, politische und ökonomische Zwänge, die der Technologie Einhalt gebieten. Und das ist nicht gut oder schlecht, das ist so, wie es ist.

Ob als politische Entscheider oder Geschäftsführer*in eines (kleinen) Betriebs: Wagen Sie den Schritt aus der Komfortzone, gehen Sie unkonventionelle Wege dabei, finden Sie alternative Finanzierungskonzepte Ihrer Ideen und Mitstreiter*innen, um Ihre Utopie zur Realität zu machen. Die Städte, denen dies gelingt, werden nicht aussterben. Alles, was Sie dazu brauchen, ist ein präzises Verständnis Ihrer Zielgruppe und deren wirklichen Bedürfnisse – und die sind und bleiben maßgeblich bestimmt durch deren Erbgut. Ich möchte wetten, dass jedes Einzelhandelsgeschäft mit geeigneten Mitteln „überleben“ kann; doch ohne Veränderung des eigenen Geschäftsmodells wird das nichts.

Bei der Entwicklung von Ideen für Ihr neues Geschäftsmodell bin ich gern behilflich – als Workshop-Moderator oder Impulsgeber bei Ihrer Veranstaltung. Schreiben Sie mir gern!

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Tod dem Individualverkehr! Es lebe der Individualverkehr!

Die kürzlich entbrannte Mobilitätsdebatte über „kostenlosen Nahverkehr“ oder „gratis ÖPNV“ lässt Trendforscher abwechselnd schmunzeln und den Kopf schütteln. Ausgehend von unterschiedlichen politischen Lagern ploppt das Thema in aller Regelmäßigkeit kurz auf und verschwindet dann wieder ganz schnell in den Abgründen der vermeintlichen Fachblogs und in den Verbandssitzungen von Interessengemeinschaften, die den Verkehrsmix auf 100% Schiene, 100% Rad, auf jeden Fall aber 0% Pkw diskutieren wollen. Wie die Idee wahrscheinlich Realität werden, komplett anders aussehen und dabei sämtliche etablierte Player ratlos zurücklassen wird, möchte ich in diesem Beitrag skizzieren.

Wie so oft gehen politisch motivierte Grabenkämpfe selten um die wirklichen realen Bedürfnisse der Menschen. Jeder Stakeholder verfolgt die eigene, im Ergebnis gewinnmaximierende Agenda, ohne die eigenen Positionen und den Diskussionsverlauf nach Anpfiff der ersten Halbzeit einem Reality-Check zu unterziehen. Selbstverständlich locken die immer gleichen Diskursverläufe zuallererst die Bedenkenträger aus der Reserve, die eine konstruktive Lösung dann im Keim ersticken. An dieser Stelle möchte ich gar nicht mit dem Finger auf bestimmte Akteure zeigen, jeder ist mal an der Reihe. Und das ist nicht nur meine bescheidene Meinung, sondern hat nicht zuletzt Niklas Luhmann in seiner Systemtheorie damit begründet, dass die systemischen Zwänge einzelner Subsysteme individuelle Motive aushebeln (stark verkürzt – liebe Soziologen, nehmt’s mir bitte nicht übel).

Mobilität in Deutschland

Besonders im deutschen Verkehrssektor haben wir es darüber hinaus mit einem für internationale Vergleiche übertrieben komplexen Geflecht aus wirksamen Gesetzen sämtlicher Ebenen, wechselseitige Abhängigkeiten zwischen Verwaltungsorganen und privaten Unternehmen zu tun. Und – pluralistischer Gesellschaft sei Dank – die Interessenorganisationen reden natürlich auch noch ein Wörtchen mit. Am Ende gewinnt aber ohnehin die Partei mit dem dickeren Sitzfleisch, der größten Nähe des Lobbybüros zum Reichstagsgebäude und natürlich diejenige, welche die meisten Nein-Sager mobilisieren kann.

Schade! In Wirklichkeit wissen nämlich alle Beteiligten, dass das derzeitige System nicht sonderlich modern ist, sondern weit entfernt von agil bzw. adaptionsfähig für das, was uns in den kommenden Jahren erwartet. Die inkrementelle Logik der schrittweisen Ausbesserung von Mängeln ohne den Mut, weitreichende Fortschritte auch nur laut auszusprechen, verwehrt einer ganzen Nation den Zugang zu zeitgemäßer Mobilität. Da ich an dieser Stelle kein Buch schreiben will, endet genau jetzt die Polemik auf Politik und Gesellschaft und ich fokussiere auf das Thema der Einleitung: kostenloser ÖPNV.

Im Jahr 2013 war ich gerade dabei, meine Masterarbeit im Fach Zukunftsforschung mit Fokus aufs Verkehrswesen zu schreiben. Meine Betreuer waren ein Fachexperte aus Forschung und Lehre sowie ein Macher in der Bussparte eines der größten deutschen Mobilitätskonzerne. Das Thema im Wortlaut: „Disruptive Entwicklung ‚kostenloser ÖPNV‘: Utopie oder plausible Zukunft?“. Im Ergebnis ging es mir um den Vergleich der real existierenden Konzepte, die Analyse von Expertengesprächen zur Machbarkeit sowie die Essenz der Gelingensbedingungen. Spoiler: Mit einem gut durchdachten Finanzierungsmodell, das auf einer Bürgergebühr sowie Monetarisierung durch die Nutzer beruht, würde das System in kürzester Zeit gewinnbringend funktionieren. Das haben zwar nicht alle Experten gesagt, aber hier schreibe ja ich meine Einschätzung auf. Leider habe ich dazu keine aktuelle Modellrechnung, das wäre doch mal eine hübsche Aufgabe für unsere Kollegen von der KPMG. Natürlich ist die Idee schnell als Utopie abgetan, weil natürlich die Verkehrsverbünde, sämtliche (Bundes-)Verkehrsgesetze und alle Betreiber etwas dagegen haben könnten. Zack, Willkommen im Land der Visionslosen!

Mobilität ist nicht gleich Verkehr

Wie so oft, verharren die entscheidenden Menschen im trägen Optionstunnel und klammern sich lieber an das, was sie kennen, als nach Möglichkeiten zu suchen. Ein erster Lösungsbeitrag wäre deshalb einzugestehen, dass das derzeitige Verkehrssystem den heutigen Bedürfnissen von Mobilitätskunden nicht mehr gerecht wird. Immer weniger junge Menschen machen einen Führerschein, Autokauf ist zunehmen de-emotionalisiert, der Personentransport ist nicht mehr das, was er einmal war. Menschen möchten von A nach B, soweit, so richtig. Dass der individuelle Verkehrsmittelmix immer intermodaler wird – Pendler fahren mit dem Auto zum Bahnhof, mit dem Zug in die Stadt und mit einem Mietfahrrad ins Büro – ist ebenso nicht neu. Mobilität ist also das Bedürfnis danach, an unterschiedlichen Orten zu leben und zu arbeiten oder Freunde und Familie möglichst effizient zu erreichen. Aha: effizient! Ist es effizient, sowohl ein eigenes Fahrzeug im Wert von mehreren Zehntausend Euro zu besitzen, Versicherung und Steuern sowie Verschleiß zu finanzieren und zusätzlich Geld für öffentliche Verkehrsmittel bis zum Zweirad auszugeben? Und zusätzlich bei jeder Fahrt das Risiko einzugehen, im Individualverkehr in einen Unfall zu geraten? Das muss doch besser gehen. Und das tut es.

Zukunftsforscher erwarten Anfang der 2020er die ersten vollautonomen Fahrzeuge auf deutschen Straßen. Das mag für manchen Leser utopisch klingen oder den Reflex „vielleicht im Silicon Valley, aber nicht hier“ hervorrufen. Erwischt? Ich erkläre gern, warum. Zunächst einmal arbeiten inzwischen sämtliche Autohersteller zusammen mit den größten und innovativsten Technologieunternehmen der Welt daran, den Fahrer am Steuer zu ersetzen. Der Fahrer wird dabei inzwischen übersetzt mit „Sicherheitsrisiko“. Denn schon heute fahren die autonomen Prototypen von Waymo (Ausgründung von Alphabet, Google’s Mutterkonzern), Uber, Baidu, Tesla und Co. sicherer als menschliche Fahrer und verursachen weitaus weniger Unfälle als unachtsame Menschen. Technologisch ist die Aufgabe also sehr bald gelöst. Es wird nicht lange dauern, bis die Statistiken der Vorreiter-Regionen über Sicherheit und auch Ressourceneffizienz jeden Zweifler überzeugt haben werden. Auf diesen Moment warten weltweit zahlreiche Anbieter von (heute noch) Carsharing-Angeboten und Autovermietungen. Sie bereiten derzeit alles Nötige vor, um mit vollkommen neuen Geschäftsmodellen den öffentlichen Verkehr disruptiv zu verändern. Über die Anwendungsfälle habe ich in einem anderen Artikel schon geschrieben. Dass dieser Tag der Todestag des öffentlichen Verkehrs ist, möchte ich hier nun erläutern.

Individuelle Mobilität orientiert sich an den Grundbedürfnissen der Nutzer

Sobald die einschlägigen Unternehmen autonome Fahrzeuge – selbstfahrende Taxis, Hotelzimmer, Restaurants, Büros… – anbieten, sinkt der Preis von Mobilität an sich auf nahe Null Euro. Warum? Es wird nicht mehr darum gehen, eine Fahrt zu bestellen, sondern darum, wie das Gefährt, der fahrende Pod, von innen gestaltet ist. Kein Mensch interessiert sich dann mehr für PS, Verbrauch oder Heckspoiler. Es geht einzig um Entertainment-Systeme, Komfort an Bord oder die Speisekarte. Die Monetarisierung der Leistung folgt nicht mehr der alten Logik des Fahrzeug- oder Ticketkaufs, sondern basiert auf Abonnement-Modellen analog zu Spotify und Netflix mit jederzeit buchbaren Extras, Upselling an Bord und natürlich Werbung. Werbeblocker kosten selbstverständlich extra.

Sobald eine kritische Masse an Fahrzeugen in einem Ballungsgebiet verfügbar ist, hat das letzte Stündlein der starren stationsbasierten Angebote heutiger ÖPNV-Anbieter geschlagen. Denn wer läuft oder fährt schon gern die letzte Meile, wenn ein autonomes Fahrzeug diesen Service inklusive erledigt? Ja, es werden zunächst mehr einzelne Fahrzeuge auf den Straßen fahren. Nein, das wird zu keinem Verkehrsinfarkt führen. Schon heutige Modelle begrenzt autonomer Fahrzeuge zeigen den Effekt, dass zwar die Höchstgeschwindigkeit in Verkehrssystemen abnehmen, die Durchschnittsgeschwindigkeit aber massiv zunehmen wird. Das liegt unter anderem daran, dass die autonomen Pods geringeren Abstand halten und intelligent mit der Infrastruktur interagieren können.

Die Anwendung des ersten kommerziell nutzbaren Quantencomputers von D-Wave in Kooperation mit Volkswagen hat in Peking und Barcelona bereits gezeigt, dass durch die Vernetzung von Fahrzeugen und Ampeln Staus vermieden werden können. Der Computer konnte den Verkehr zwanzig Minuten vorhersagen und wird mit dieser Fähigkeit nicht nur bald meinen Job ersetzen, sondern Verkehrssysteme weltweit organisieren. Und dies war der allererste seines Typs mit nur wenigen Qubits … und wir kennen aus der Vergangenheit den erstaunlichen Effekt exponentieller Fortschritte in der Computertechnologie. Moore’s Gesetz auf Steroiden!

Was ÖPNV-Akteure jetzt tun müssen

Zurück zum ÖPNV. Die eigentliche Aufgabe der Stunde für Anbieter von Verkehrsleistungen im System rund um Betrieb, Verwaltung und Finanzierung der Mobilität lautet: radikales Umdenken. Ein Autohersteller nannte diese Anforderung mal „umparken im Kopf“, wobei ich mir nicht sicher bin, ob wir dasselbe meinen. Wenn ein Fahrgast in Potsdam in die S-Bahn steigt, in Berlin eine Regionalbahn nach Eberswalde nimmt, um dort mit einem (bald autonomen) Mietwagen den Rest zurückzulegen, möchte er nicht unterschiedliche Tarifzonen und Anbieter berücksichtigen müssen. Amazon-Chef Jeff Bezos kommentierte Geschäftsmodelle der digitalen Ära mal sinngemäß so, dass kein gutes Produkt verkauft werden, sondern ein Problem des Kunden gelöst werden muss … womit er auf einer Linie mit Henry Ford liegt, der ja auch keine schnelleren Pferde „herstellte“.

Schon heute lautet der Wunsch vieler Menschen: einmal buchen, ein Paketpreis, egal welcher Anbieter dabei auf welche Weise in die Abrechnung eingebunden ist. Das, was aufgrund der gewachsenen internen Prozesse, träger Unternehmenshierarchien und -kulturen sowie legislativer Hürden für etablierte Akteure eine schier unlösbare Herausforderung ist, denken die neuen, datengetriebenen Unternehmen wie Uber, Waymo oder Tesla von Anfang an mit. Offene Schnittstellen, digital übergangslose Regionswechsel über Stadt-, Land- und Staatsgrenzen hinweg, nutzungsbasierte Abrechnung und natürlich die Monetarisierung sämtlicher Datenpakete. Nutzer sehen allenfalls eine App, wenden sich an „Siri“ oder „Okay Google“ oder finden automatisch das autonome Taxi vor, wenn sie die Arbeitsstelle verlassen; die Mustererkennung weiß ja längst, dass jeden Donnerstag abends immer der Sportkurs stattfindet und auf direktem Wege nach der Arbeit zurückgelegt wird.

Ist die Lage damit im Grunde aussichtslos für heutige Akteure?

Ja, wenn weiterhin abgewartet und stur verwaltet wird. Nein, wenn die wichtigsten Entscheider endlich mit einer konkreten Vision sowie einer ambitionierten Roadmap auftreten.

Zukunft ist ja noch nicht geschrieben, sondern wird von uns gestaltet; also lassen Sie uns in den Austausch treten und das Beste draus machen!

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