Sterben die Innenstädte bald aus? Nein. Geht künftig überhaupt noch jemand in der Fußgängerzone bummeln, wenn wir doch bequem von der Couch aus sämtliche Konsum-Bedarfe auf unserem Tablet online bzw. mobil bestellen und uns Drohnen beliefern? Wahrscheinlich ja. Ein Plädoyer für Augenmaß bei Trend-Debatten.
Retail 2019: Status Quo des Handels
Der deutsche Einzelhandel steht unter Druck. Die Umsätze steigen zwar voraussichtlich auch 2019 weiter an, doch besonders Kleinstädte und ländliche Regionen werden zunehmend zum „Opfer der Digitalisierung“, wie das Handelsblatt Anfang Januar titelte. Immer mehr E-Commerce und M-Commerce (mobiles Shopping) bedrängen die kleinen Händler, die sich ohnmächtig fühlen. Immer mehr Bestellungen werden über Sprachassistenten wie Amazons Alexa, Apples Siri, Microsofts Cortana, Googles bzw. Alphabets Home oder Samsungs Bixbi aufgegeben – und das bald schon ohne Zutun der Menschen, wenn es nach Unternehmen wie Gupshup geht. Immer mehr Händler fühlen sich ohnmächtig im Angesicht einer wachsenden Marktmarkt der Retail-Goliaths Amazon, Alibaba, H&M und Co.
Walmart hat kürzlich angekündigt, seinen US-Kunden die Lebensmittelbestellungen künftig bis in den Kühlschrank zu liefern. Andere Händler übertrumpfen sich gegenseitig dabei, jegliche Bestellungen vor die Haustür zu bringen – in immer kürzerer Zeit. So möchte Amazon mithilfe des neuen hauseigenen Drohnen-Lieferdienstes Prime Air innerhalb von 30 Minuten Kunden in Großstädten mit ihren Kleinbestellungen bis zu 2,3 kg versorgen (innerhalb eines Radius‘ von 24 Kilometern bis zum nächsten Lager). Dabei ist Amazon seinerzeit zum weltgrößten Handelsunternehmen aufgestiegen, viele Jahre ohne eigene Lager zu besitzen.
Ist das alles Digitalisierung? Absolut. Einer der zentralen Mechanismen der Digitalisierung ist die Plattform-Ökonomie, welche die Grundlage für den Erfolg von Amazon, Facebook, Netflix, Uber, Airbnb etc. bildet. Der Mechanismus lautet: Wenn du eine Software schreiben kannst, die bestehende Infrastruktur und technische Geräte zu deinen Gunsten besser organisiert als das bisherige, analoge System, dann suche dir rechtzeitig einen guten Vermögensverwalter.
Scheinbar ausweglos? Nein! Es ist noch nicht alles verloren.
Ich kenne die Situation im Einzelhandel ganz gut, nicht zuletzt aus biographischen Gründen. Ich stamme aus einer Stadt, die den Niedergang der Fußgängerzone in den letzten 20 Jahren live miterlebt hat. Aus Beratungsprojekten der vergangenen Jahre und Dutzenden Gesprächen mit Insidern kenne ich die Themen, die dem deutschen Retail-Segment Sorgen bereiten. Mit diesem Beitrag lade ich Sie ein, die Situation von Grunde auf neu zu bewerten. Los geht’s mit einem…
Perspektivwechsel: Blickpunkt China
Im Herbst 2018 bin ich im Zusammenhang mit einem Studienprojekt bei meinem alten Arbeitgeber nach China gereist. Dort habe ich mich mit einigen Unternehmer*innen in Shanghai und Peking unterhalten, um dem Mythos auf den Grund zu gehen, dass China uns in puncto Technologie längst überholt hat. Die kurze Antwort auf diesen Mythos lautet: Nein, aber ja. Nein, ein fundamentaler Vorsprung lässt sich nicht attestieren. Aber ja, in China verlassen jedes Jahr grob geschätzt so viele Informatikstudierende die Hochschulen wie hier überhaupt für alle Fächer eingeschrieben sind. Noch ist es nicht soweit, aber es besteht ausreichend Grund, hierzulande alles in Bewegung zu setzen, um den Anschluss nicht zu verlieren. Schließlich wollen wir doch nicht wie bei der MP3 oder dem Automobil im Nachhinein Vordenker auf diversen Gebieten sein, aber anderen den ökonomischen Erfolg überlassen. Oder?
Zurück zum Reisebericht. Besonders lehrreich war für mich auf meiner ersten Chinareise ein ganzer Tag mit Jingdong (JD.COM). Nach eigenen Angaben hat der Konzern im letzten Jahr mehr Waren verkauft als Alibaba, welches im Rest der Welt deutlich bekannter ist, und ist damit zum landesweit größten Online- und Offline-Händler des Landes aufgestiegen. Die Firmenzentrale in Peking ist zunächst unscheinbar und nur das Maskottchen – der weiße Hund – deutet daraufhin, dass in dem verglasten Gebäude keine Bank oder eine gewöhnliche Behörde ihren Hauptsitz hat. Zuvor haben wir mit der lustigen, heterogenen Reisegruppe schon ein paar Stationen in Peking erkundet, haben in einem Jingdong Restaurant-Supermarkt (7FRESH) zu Mittag gegessen und Blockchain-vernetzte Fische in den Aquarien bestaunt. Außerdem durften wir das personalfreie Popup-Geschäft im Erdgeschoss ausprobieren, in dem kein Kassierer sitzt . Hier loggen sich die Kunden beim Eintreten in den Markt mit ihrem Smartphone ein und erhalten einen einmaligen Code aufs Telefon. Kameras und RFID-Chips senden automatisch die vom Kunden ausgewählten an diesen Code, sodass die Software beim Verlassen des Geschäfts automatisch den fälligen Betrag vom Konto des Kunden einzieht. In China gibt es keine Gewerkschaft, die dagegen sein könnte, also wird es einfach gemacht.
In dem Jingdong Hauptquartier habe ich dann also im Rahmen einer kleinen Pressekonferenz einige leitende Mitarbeiter getroffen, darunter auch Chen Zhang, damals noch Chief Technology Officer – also Chef-Ingenieur – von Jingdong. Zhang bringt viele Jahre Erfahrung aus dem Silicon Valley mit und hat in seiner Zeit bei JD.COM das mindset des chinesischen Konzerns maßgeblich geprägt und ungewöhnliche Ideen vorangetrieben. Jingdong konnte nur derart erfolgreich werden, weil die Unternehmensführung früh begriffen hat, dass reiner Handel kein skalierbares Geschäftsmodell ist. Die Margen sind begrenzt und je länger eine Wertschöpfungskette ist, desto weniger Gewinn bleibt am Ende für jedes Glied. Deshalb ist Jingdong ebenso wie die G-MAFIA (Google, Microsoft, Amazon, Facebook, IBM, Apple) zu einem Technologieunternehmen geworden. Ohne Datenauswertung (Big Data bzw. Predictive Enterprise) lässt sich heute kein Sortiment mehr optimieren, keine Lagerdisposition organisieren, kein Transport über tausende Kilometer realisieren – schon gar nicht in einem Markt mit potentiell 1,3 Milliarden Kunden wie in China. Jingdong hat deshalb auch eine eigene Logistikinfrastruktur durchs gesamte Land aus dem Boden gestanzt und testet fleißig autonome Fahrzeuge in der International Auto City in Shanghai (nebst Volkswagen, Ford und Co.).
Neben den üblichen Themen der Retailer – Drohnenlieferungen, Blockchains zur Nachverfolgung der Waren vom Erzeuger bis zum Point of Sale, Lagerautomatisierung, personalfreier Einzelhandel – hat mich ein Thema aus Zhangs Erzählungen besonders fasziniert: Retail as a Service. Das Konzept war mir zwar nicht neu, aber ich habe es zugegebenermaßen vorher nicht vollständig verstanden – nicht zuletzt da es noch keine ernsthafte Umsetzung gab.
Was steckt also hinter Retail as a Service (RaaS)? Ich versuche mich an einer knackigen Erklärung, ohne Gefahr zu laufen, Werbung für Jingdong zu machen. Ein Handelsunternehmen, welches in einer geografischen Region über viel datenbasiertes Knowhow verfügt, kooperiert mit kleinen Händlern. Ende der Geschichte.
Retail as a Service: Fiktive Geschichte einer Implementierung
Konkret kann RaaS folgendermaßen aussehen. Stellen Sie sich vor, Sie betreiben ein Spielwarengeschäft in der Lüneburger Fußgängerzone. Sie spüren seit Jahren, dass immer weniger Kunden zu Ihnen ins Geschäft kommen. Und dann gibt es immer wieder solche, die sich lang und breit von Ihnen beraten lassen und nach einem netten, informativen Gespräch mit folgenden Worten Ihr Geschäft verlassen: „Vielen Dank, ich denke nochmal darüber nach.“ Sie ahnen schon, dass Sie die Kundin erstmal nicht wiedersehen werden, dass sie lieber online bestellt und damit vielleicht ein paar Euro spart, und Sie fühlen sich ausgenutzt. Immerhin haben Sie die Kundin doch beraten und da ist ein kleiner Preisaufschlag doch gerechtfertigt! Ist er auch, doch viele Kunden entscheiden letztlich grundlegend rational. Und die Währung für diese Entscheidung ist der Preis. Dass Sie beide Zeit für das Gespräch investiert haben, dass Sie Miete für Ihr Geschäft zahlen und vielleicht sogar besonderen Wert auf gut ausgebildetes Beratungspersonal legen, juckt den Geldbeutel der wenigsten Kunden. Doch es ist Rettung in Sicht: Unternehmen wie Jingdong erkennen gerade den fragmentierten Markt der kleinen Händler immer mehr als attraktive Partner im RaaS-Sinne. Und das läuft dann so ab.
Ein großes Technologie- und Handelsunternehmen wendet sich an Sie als Inhaber unseres Spielwarengeschäfts, wahrscheinlich via E-Mail. Der große Händler, nennen wir ihn ABC AG, verblüfft Sie zunächst mit einigen Erkenntnissen über Ihre Kunden ohne jemals Ihren Laden oder Lüneburg oder Niedersachsen betreten zu haben. Außerdem kennt er Ihr Sortiment einigermaßen genau und wird schon in einem ersten Gespräch Optimierungsvorschläge nennen, welche Produkte oder Dienstleistungen gerade bei Ihren Zielkunden angesagt sind. Schließlich wird die ABC AG Ihnen ein Angebot machen, über das Sie sicher erst eine Nacht schlafen müssen: Die ABC AG steigt als stiller Beteiliger in Ihrem Unternehmen ein und hilft Ihnen dabei, die lange fälligen Renovierungs- und Modernisierungsarbeiten an Ihrer Ladenfläche zu realisieren.
Nehmen wir an, Sie entscheiden sich für die Kooperation. Dann geht alles ganz schnell. Neben einer Verjüngungskur für Einrichtung und Innengestaltung installiert Ihr neuer Partner ein paar Kameras im Eingangsbereich, die fortan alle Kunden, die damit einverstanden sind, per Gesichtserkennung identifizieren und durch einen Abgleich mit Ihrem Kundenregister (CRM) einsortieren. An kleinen und großen digitalen Bildschirmen in Ihrem Geschäft werden die auf diese Weise erkannten Kunden mit individualisierten Produktvorschlägen und personalisierten Sonderangeboten gelockt. Nimmt ein Kunde ein Produkt aus dem realen Regal, werden zudem auf Wunsch auf einem Monitor in der Nähe Informationen über die Herkunft, Haut(un)verträglichkeiten, Anwendungsmöglichkeiten etc. angezeigt – möglich machen es RFID- oder NFC-Chips an den Produkten und Verpackungen. Die digitalen Preisschilder synchronisieren sich laufend mit den Preisen auf der Online-Plattform der ABC AG, sodass der Kunde überhaupt kein Argument hat, jetzt nicht sofort in Ihrem Geschäft Umsatz zu generieren – andernfalls weiß die ABC AG auch genau, dass exakt dieser Kunde bei Ihnen im Geschäft war und Sie erhalten umgekehrt dennoch eine Verkaufsprovision, wenn der Kunde doch lieber von zuhause aus bestellt.
Zusätzlich bieten Sie natürlich die Möglichkeit an, Ihren Kunden die eingekaufte Ware aus Ihrem Geschäft nach Hause zu liefern; dafür sorgt das durch die ABC AG betriebene, hochgradig automatisierte Logistiknetz mit fliegenden und fahrenden Drohnen. Und letztlich bieten Sie neuerdings nicht mehr nur Spielwaren an, sondern auch einige Artikel und Dienstleistungen, die Ihre Zielgruppe außerdem interessant findet. Wenn wir davon ausgehen, dass Ihr Endkunde in der Regel Kinder und Jugendliche sind, zusätzlich zu diesen aber auch deren erwachsene Verwandte bei Ihnen im Geschäft stehen, könnten diese zusätzlichen Artikel vielleicht die letzten SPIEGEL Bestseller, Küchengeräte oder Gartenmöbel sein. Das wird die ABC AG auf jeden Fall wissen, denn sie weiß sehr viel über diese Menschen, die Ihren Laden betreten – und welche Bedürfnisse sie außerhalb dieses Geschäfts haben. Und das Beste: Sie verfügt über exakt diese Waren und stattet Ihr Geschäft in einer kleinen, dedizierten Motto-Ecke damit aus. Das Sortiment in diesem Bereich wechselt selbstverständlich regelmäßig, immerhin braucht kein Mensch im tiefsten Winter einen Liegestuhl für die Veranda.
Last but not least: Bezahlsysteme / Payment. Ich habe oft das Gefühl, dass alternative Bezahlsysteme hierzulande noch wie Magie anmuten. Am liebsten zahlen die Deutschen noch mit Bargeld, erst 2018 wurde mehr Geld überwiesen als überreicht. Damit sind wir in Bezug auf das Geld bestenfalls konservativ. Einige Händler und Gastronomen rudern sogar wieder zurück, da sie die Gebühren der Kreditkartenunternehmen nicht übernehmen möchten. Dass dieses Argument fahrlässig kurz gedacht ist, weiß jeder, der schon einmal das Lokal gewechselt hat, weil er oder sie nicht mit Kreditkarte zahlen konnte. Umgekehrt ist es ein Leichtes für Händler oder Gastronomen, bestimmte Preise im Sortiment zu heben und somit die Gebühren zu amortisieren. Noch besser, man macht sich unabhängig von den Kreditkartenunternehmen und akzeptiert Paypal, Apple Pay oder Google Pay. Warum Geräte anschaffen, wenn die Kunden ihre Bank in der Hosentasche mit sich herumtragen? Sicherlich müssen sowohl Personal als auch Kunden in der Anfangsphase geschult werden. Doch Ihre Buchhaltung und Steuerberater werden es Ihnen danken, wenn sie keine verklebten Bons mehr Wochen nach Beleg entziffern müssen.
Lohnt sich der Blick nach China? Nun, das liegt ganz an Ihnen. Chen Zhang hat im Gespräch Oktober 2018 angekündigt, dass Jingdong die Expansion ins restliche Asien ab 2019 anschieben wird. Ebenfalls 2019 wird man sich in ersten europäischen Ländern breit machen, darunter auch Deutschland, erste Schritte wurden bereits gegangen. Alibaba übrigens auch. Ob Sie wollen oder nicht, früher oder später wird dieses Thema Sie beschäftigen. Aber verfallen Sie bitte nicht in Angststarre oder kategorische Ablehnung; es geht hier um existenzielle Veränderungen, so hart es klingen mag. Existenziell bedeutet aber auch, dass es zwei Seiten geben wird. Diejenige, die sich den veränderten Rahmenbedingungen erfolgreich anpassen kann und die andere. Das ist eine fast banale Erkenntnis über die Evolution der Ökonomie.
Schön, aber was wird nun aus den Innenstädten?
Richtig, fast vergessen. In der Einleitung habe ich ein Plädoyer angekündigt und zwischendurch viel über Trends aus aller Welt berichtet. Seit Jahrzehnten prophezeien Trendforscher das Aussterben der Fußgängerzonen und folglich der Innenstädte. Ganz Unrecht hatten sie damit nicht. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass dystopische Aussagen meiner Vorgänger*innen oft auch genau dahin führen, wo sich viele Menschen schließlich ihrem Schicksal hingeben: zur Lethargie, dem Veränderungs-Widerstand, der Angststarre. Besonders kommunale Einrichtungen wie städtische Stellen für Stadtentwicklung, Gewerkschaften oder Kammern haben jahrelang zu wenig gegen die Insolvenzwelle besonders der kleinen Händler*innen getan. Umgekehrt haben sie vielleicht zu wenig getan, um ebendiese zu fördern und zu unterstützen bei einer innovativen Restaurierung des Kerns ihrer Kommunen. Digitalisierung ist kein Ein-Mensch-Projekt.
Mein Plädoyer für mehr Augenmaß bei Trend-Debatten geht also so:
Glauben Sie keinem Trend und dessen Jüngern, die behaupten, Ihr Umfeld würde sich praktisch über Nacht diametral verändern. Technologisch könnten wir sicher schon ganz woanders stehen – doch es gibt eben auch soziale, politische und ökonomische Zwänge, die der Technologie Einhalt gebieten. Und das ist nicht gut oder schlecht, das ist so, wie es ist.
Ob als politische Entscheider oder Geschäftsführer*in eines (kleinen) Betriebs: Wagen Sie den Schritt aus der Komfortzone, gehen Sie unkonventionelle Wege dabei, finden Sie alternative Finanzierungskonzepte Ihrer Ideen und Mitstreiter*innen, um Ihre Utopie zur Realität zu machen. Die Städte, denen dies gelingt, werden nicht aussterben. Alles, was Sie dazu brauchen, ist ein präzises Verständnis Ihrer Zielgruppe und deren wirklichen Bedürfnisse – und die sind und bleiben maßgeblich bestimmt durch deren Erbgut. Ich möchte wetten, dass jedes Einzelhandelsgeschäft mit geeigneten Mitteln „überleben“ kann; doch ohne Veränderung des eigenen Geschäftsmodells wird das nichts.
Bei der Entwicklung von Ideen für Ihr neues Geschäftsmodell bin ich gern behilflich – als Workshop-Moderator oder Impulsgeber bei Ihrer Veranstaltung. Schreiben Sie mir gern!
Photo by Mike Petrucci on Unsplash
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