Wie wird der Corona-Sommer 2021?
Ausnahmezustand seit einem Jahr. Alle Welt hofft auf Lockerungen, Aufatmen, Impfungen, zurück zu Normal. Das System steht auf dem Prüfstand - wie geht es weiter?
Nach dem Corona-Winter ist vor dem Corona-Winter
Während ich diese Zeilen schreibe, ist noch Winter - Ende Februar 2021. Falls Sie das hier deutlich später lesen, zur Erinnerung: Klimawandel sei Dank hatten wir im Februar europaweit eine heftige Kältewelle, ausgelöst durch verirrte Polarwirbel - gefolgt von den wärmsten Februartagen seit Beginn der Wetteraufzeichnungen (dazu habe ich eine Podcast-Episode aufgenommen).
Nun, da der Frühling den Fuß in der Tür hat, hoffen viele auf Lockerungen der Pandemieauflagen. Doch sie werden leider weitere Enttäuschungen hinnehmen müssen; Virologen sind sich einig, dass insbesondere die neuen, mutierten Varianten des Sars-Cov-2-Virus (vor allem B.1.1.7 und B.1.351) noch ansteckender sind als die ursprüngliche Virusform. Da wir alle im letzten Jahr viel über exponentielle Entwicklungen gelernt haben, können wir uns mit einfachen Mitteln selbst ausrechnen, was das für die Verbreitung und Ansteckungsgefahr bedeutet: Die Infektionszahlen (und damit auch die Inzidenzwerte, also Infektionen pro 100.000 Einwohner:innen) steigen noch schneller, wodurch kritische Werte überschritten werden und Einschränkungen des öffentlichen Lebens bestehen bleiben oder sogar verschärft werden. Ob dadurch auch die Sterberate steigt oder sich das Virus abschwächt, wird derzeit diskutiert. Dennoch: wir müssen aktuell davon ausgehen, dass Corona uns noch eine Weile begleiten wird.
Nun stehen wir wieder mitten in der Zwickmühle. Außer Stillstand scheint es keine Option zu geben - und das ist auch der Punkt, an dem staatliche Maßnahmen zu Recht kritisiert werden. Inzwischen liegen jedoch auch ausreichend Erkenntnisse über verschiedene nationale Strategien vor; der "schwedische Weg" ist gescheitert, komplette Verleugnung (der weißrussische oder tansanische Weg) ebenso. Dann wäre da noch die Wahlkampfvariante aus den USA, wo bislang am meisten Menschen an den Folgen der Covid-19-Erkrankung gestorben sind - ein tragisches Armutszeugnis für die mächtigste Nation der Welt. Dann wäre schließlich ein letzter Hardliner-Weg zu erwähnen, dem viele nicht so Recht trauen: China hat mit der bekannten diktatorischen Härte und harten Quarantäne-Auflagen für sämtliche Einreisende angeblich das Virus ausgerottet. Aus irgendwelchen Gründen glauben wir diesen Meldungen weniger als denen aus Ozeanien, denn auch in Neuseeland und Australien (zusammen ca. 12 Millionen Einwohner) gibt es nahezu keine Fälle mehr.
Deutschland hat sich für eine der sozialsten und gleichzeitig teuersten Varianten entschieden. Und warum? Weil wir können. Und weil die Bundestagswahlen in diesem Jahr anstehen.
Corona und Bundestagswahlen
Was haben nun die Wahlen mit der deutschen Corona-Strategie zu tun? Das ist eigentlich ganz einfach.
Welche Menschen sind durch Corona am stärksten gefährdet? Faustregel: Je älter, desto schlimmer. Genauer gibt es einen signifikanten Anstieg der schweren Krankheitsverläufe ab einem Alter von 50 Jahren. Ein Blick auf die Bevölkerungspyramide verrät, warum diese Menschen nun besonders geschützt werden: Weil sie in der Überzahl sind. 45% der Bevölkerung in Deutschland sind 50+ Jahre alt, 16% unter 18 Jahren, bleiben noch 39% für die 18- bis 49-Jährigen. Und wer wählt wie? Laut Bundeswahlleiter bewahrheitet sich auch hier eine einfache Faustregel: Je älter, desto konservativer.* So ist es die offensichtlich alternativlose Option, insbesondere die ältere Bevölkerung zu schützen.
Verstehen Sie mich nicht falsch, aus (neo-)humanistischer Perspektive finde ich es richtig, Menschenleben zu schützen - unabhängig vom Alter, Herkunft, sexueller oder kultureller Identität etc. Die Wahl der Corona-Strategie in Deutschland folgt aber leider nur bedingt humanistischen Idealen, sondern einem klaren machtpolitischen Kalkül. Politikberatungen werden im Hinblick auf die bevorstehende Bundestagswahl im September sehr genau darauf geachtet haben, welche soziodemografischen Schnitte sich mit und ohne Corona ergeben. Das Alter (und damit das statistische Risiko einer schweren Erkrankung) ist nach wie vor eine sehr einfache Linie für den Wahlkampf.
Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir letzten Frühling einen harten Lockdown für vier Wochen durchgeführt. Doch das war natürlich nicht vermittelbar, da die Menschen mehr Angst vor einer Diktatur haben als dem Virus. Und damit sind wir beim nächsten Abschnitt.
Querdenker töten
Das Wortspiel habe ich von Die PARTEI kopiert. Natürlich soll die Überschrift keine Handlungsempfehlung sein, ich hoffe, Sie ergänzen sie im Kopf mit dem Akkusativobjekt: "Menschen". Warum, löse ich im letzten Absatz dieses Abschnitts auf.
Verschwörungsmythen gehören zu den Menschen wie die Gute-Nacht-Geschichte. Letztere hat einen pädagogischen Zweck und wird in fast allen Kulturen praktiziert. Erstere kann unterhaltsam sein, solange sie klar als Fiktion gilt oder tatsächliche Zusammenhänge aufdeckt - wenn nicht, ist sie mitunter gefährlich. Offensichtlich hat eine ganze Generation zu viel Akte X geschaut, während sie den Geschichtsunterricht geschwänzt hat. Über Jana aus Kassel wurde schon viel gesagt und geschrieben. Kurz: Sie ist als denkwürdiges Beispiel in die Mediengeschichte eingegangen, was alles falsch laufen kann und warum wir immer noch nicht genug für die Aufarbeitung unserer Geschichte tun (falls Sie das verpasst haben).
Ich habe mir viel Mühe gegeben, die "Querdenken-Bewegung" zu verstehen, deren Ängste und persönlichen Motive. Ich habe mich in Social Media auf lange Diskussionen eingelassen, viel Zeit und noch mehr Nerven investiert. Dabei habe ich immer wieder gefragt, woher die Rage kommt und vor allem, welche Quellen zu den teilweise haarsträubenden Behauptungen herangezogen wurden. Letztlich bin ich zu einer sehr einfachen und gleichsam traurigen Erkenntnis gelangt: Die gemeinsame Schnittmenge der Querdenker ist eine bedingungslose Ablehnung wissenschaftlicher Methode oder Rationalität. Die einzigen Argumente, die ich den Diskussionen und Aufnahmen von Demonstrationen entnehmen konnte, sind individueller und emotionaler Natur. Das macht sie nicht verboten, aber man muss sie als solche kennzeichnen.
Und damit wären wir wieder beim Thema Schwarmdummheit (auch dazu gibt's eine Podcast-Episode). Wenn Menschen sich gehört fühlen, folgen sie oft blind dem Anführer - so wie A. Hildmann oder A. Hitler (wobei der Vergleich zum Glück gewaltig hinkt). "I want to believe", so das Motto aus der Serie Akte X. Und tatsächlich sind wir so gut darin, dass der Glaube wirklich manchmal Berge versetzt - wenn wir nur konsequent genug an etwas glauben, finden wir plötzlich überall Belege dafür. Querdenker finden vielfach Belege für die wirren Behauptungen - in Blogs, auf einigen Youtube- oder Tiktok-Kanälen, von Nachbar Schneider. Das individuelle Weltbild wird damit verdichtet und alles ergibt einen gruseligen Sinn. Leider sind sie dann oft resistent gegen eine kritische Infragestellung ihrer Annahmen; also wirklich wissenschaftliches Vorgehen. Es ist nicht immer gut, der Masse zu glauben, aber wie wahrscheinlich ist es, dass >90% der unabhängigen Forschungsinstitute der Welt und daran angegliedert Millionen erfahrener Wissenschaftler:innen sich irren und eine globale Verschwörung der Superreichen unterstützen? Und wie wahrscheinlich ist es, dass Nachbar Schneider einfach nur seiner allgemeinen Unzufriedenheit Ausdruck verleihen will, in Wirklichkeit aber keine Ahnung von Viren und Politik hat?
Die pandemischen Auswirkungen der Querdenken-Bewegung sind inzwischen erforscht: wie Forscher:innen des Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung Mannheim (ZEW) und der Humboldt-Universität zu Berlin Anfang Februar veröffentlichten, hatten die Querdenker-Demos einen erheblichen Anstieg der Inzidenz zur Folge. Heißt im Klartext: Querdenken-Demonstrationen haben Menschen getötet. Die fahrlässige Dummheit der Demonstrierenden ist das eine, das andere die Ohnmacht der staatlichen Gewalt - so hatten einige Gerichte (Judikative) Versammlungsverbote aufgehoben, Ansagen aus den Innenministerien und der Polizei (Exekutive) führten zu unklaren Befehlsketten, sodass schließlich Tausende ungehindert und ohne hinreichenden Infektionsschutz durch die Städte laufen konnten.
"Die Forschenden schätzen, dass bis Weihnachten zwischen 16.000 und 21.000 Covid-19-Infektionen hätten verhindert werden können, wenn diese beiden großen 'Querdenken'-Kundgebungen abgesagt worden wären" (ebd.). Bei einer Sterberate von ca. 3% heißt das, dass in diesem Zeitraum 480-630 Menschen durch Corona gestorben sind, weil Querdenker auf den Straßen ihre Freiheit gefeiert und anschließend Menschen in Bussen, Bahnen, Supermärkten und zu Hause angesteckt haben. Ich hoffe, ihr hattet Spaß. Es ist ruhiger um euch geworden, vermutlich (und das wünsche ich niemandem!) haben inzwischen viele von euch Angehörige oder Bekannte durch Corona verloren. Statistisch gesehen ist heute in ungefähr jedem achten sozialen Kreis ein Mensch in Deutschland an Covid-19 gestorben**. Bevor sich das Kind nicht selbst die Finger verbrannt hat, erkennt es auch nicht die generelle Gefahr des Feuers.
Corona: Neue Konfliktlinie der Gesellschaft
Corona spaltet die Nation(en). Und teilweise sogar Familien. Ob ich für oder gegen die Corona-Politik bin, kann sogar über meine berufliche Perspektive entscheiden. Wer bei Querdenker-Demos mitlief, wurde teilweise kurz darauf fristlos entlassen; und ich würde sagen, aus gutem Grund. Dass Familienangehörige sich zerstreiten, weil der eine an die Verschwörung glaubt, die andere mit ihren recherchierten Fakten aber auf Granit beißt, ist tragisch. Was das für den Zustand unserer Diskussionskultur aussagt, ist auf gesellschaftlicher Ebene verheerend.
Denn plötzlich ist es egal, was man bei der letzten Wahl angekreuzt hat - Corona ist endlich mal wieder eine neue Konfliktlinie, wie es sonst nur Atomkraft oder Kriege geschafft haben: ein Querschnitt durch die Gesellschaft. Plötzlich ergeben die altbekannten Kategorien links vs. rechts keinen Sinn mehr. Wenn Hippies, Impfgegner und Neonazis gemeinsam marschieren, lecken sich Sozialwissenschaftler:innen die Finger. Andere machen sich Sorgen, dass das, wovor die selbsternannten Aufgewachten oder Erleuchteten warnen, Wirklichkeit werden kann: eine Diktatur. Die Angst davor wiederum wird nicht selten befeuert durch fiktive (!) Romane wie der von Dirk Rossmann beschworenen Öko-Diktatur (Rezension über "Der neunte Arm des Oktopus" hier). Doch mit Ängsten kann man natürlich gut spielen und Menschen damit manipulieren; das wissen die Drahtzieher hinter Querdenken genauso gut wie Goebbels und Himmler. Besonders perfide: Sie unterstellen ihren Gegnern (der Regierung, dem Robert-Koch-Institut, dem globalen Finanzkapital und Bill Gates...) exakt ihre eigene Startegie. Das ist praktisch, denn so muss man sich keine Verschwörung überlegen. Angela Merkel und Jens Spahn seien also durch und durch böse, verbreiteten Lügen, um ... ja, um was eigentlich genau? Jedenfalls ist das alles falsch, glaubt man den Querdenkern. Mit diesem Narrativ bringen sie auf bizarre Art und Weise Menschen dazu, hinter der Bundesregierung und dem Staat an sich eine totalitäre Elite zu vermuten, welche wiederum eigentlich Drahtzieher der Querdenken-Bewegung sind. Genial und furchtbar zugleich.
Wer sich die Mühe macht und dem Gesetzgeber wirklich auf die Finger schaut, weiß, dass sowohl die Bundes- und Landesregierungen als auch die Parlamente selbst die größten Schwierigkeiten hatten mit den weitreichenden, oft sehr kurzfristig und teilweise nicht durch Abgeordnete ratizifierten Maßnahmen. Aber das ist es, was der Souverän im Krisenfall tut: er entscheidet, weil die Gefahr für seine Bürger:innen größer ist als deren Ermessens- und Handlungsspielraum. Als in den 1962 Jahren die große Sturmflut vor allem die Menschen in Hamburg unmittelbar bedrohte, hat wohl niemand Demonstrationen gegen die Flut, gegen Fake News über eine erfundene Bedrohung durch Sturm und Wassermassen bis in die erste Etage organisiert. Helmut Schmidt hat damals weitgehend durchregiert. Und das hat vielen Menschen das Leben gerettet, wenn auch nicht allen. Ich habe die Sturmflut selbst nicht miterlebt, doch ich frage mich wirklich, ob es uns heute einfach zu gut geht?
Nun kann man eine Flut besser einschätzen als ein Virus. Wir Menschen sind da etwas beschränkt, immerhin können wir Viren sinnlich nicht wahrnehmen - sie sind einfach zu klein. Bevor es so etwas wie Zivilisation gab, hat sich darüber hinaus niemand geschert, wenn Viren die Runde machten: wir saßen weniger kompakt aufeinander als heute, konnten den Viren damit weniger attraktive Fläche zum Austoben geben und ob Onkel Otto nun an einem Urvater von Sars, Malaria, Hunger oder einem Säbelzahntigerangriff starb, was für die Statistik am Ende auch egal. Deutlich war, dass diejenigen in Ottos Stamm, die sich von den Gefahrenquellen ferngehalten haben, überlebt haben. Die natürliche Auslese haben wir durch moderne Gesellschaftsverträge jedoch (zum Glück!) ausgehebelt. Viele Querdenker wissen vermutlich nichts vom Erbe der Aufklärung oder den ziemlich stabilen Institutionen der Gewaltenteilung, und sie wissen ihre Privilegien in einem reichen Land wie Deutschland nicht zu schätrzen. Sie denken lieber an kurzfristige Glückshormone denn ans große Ganze. Erstaunlich, dass wir es als sprechende Affen soweit bringen konnten.
Wie wird der Corona-Sommer 2021: Zurück zu Normal? Nie wieder.
Machen wir uns nichts vor: Die Pandemie hat uns einen Spiegel vorgehalten. Einige haben sie zu Aufopferung, Selbstquarantäne, Doppelbelastung geführt. Andere haben ihr wahres, demokratie- und wissenschaftsfeindliches Gesicht gezeigt. Und wie geht es jetzt weiter?
Viele fordern ein Zurück zu Normal. Doch das wird es nicht geben. Die Pandemie hat nicht nur die ganze Menschheit in eine kollektive Krisenerfahrung gestürzt, sondern auch das Versagen einiger Gesellschaftsbereiche offenbart. Trotz der Warnungen diverser Kommissionen und Risikoberichte waren die wenigsten Staaten hinreichend vorbereitet - wir dürfen nur hoffen, dass wir daraus lernen. Denn diese Pandemie wird nicht die letzte gewesen sein. Zwar haben hochrangige Funktionäre der Weltgesundheitsorganisation WHO angedeutet, dass der Scheitelpunkt der Pandemie bereits erreicht sein könnte, doch darauf würde ich noch nicht wetten. Bleiben wir eher beim durchschnittlich wahrscheinlichen Szenario, dass sich das Virus und seine Mutanten noch für etwa ein Jahr erfolgreich reproduzieren können (ich hoffe, ich liege falsch).
In der naheliegenden Zukunft, also im Jahr 2021 heißt das folgendes:
- das Impfgeschehen wird zwar voranschreiten, doch halte ich es für äußerst unwahrscheinlich, dass das Versprechen der Kanzlerin eingehalten werden kann. Eine Woche vor der Bundestagswahl soll idealerweise Herdenimmunität erreicht sein; überambitioniert, wenn Sie mich fragen.
- die Verteilung des Impfstoffs, und das ist gute und schlechte Nachricht zugleich, muss weltweit vorangetrieben werden. Der Teil der Geschichte fehlt im Großteil der Medienberichterstattung: wir sind nicht nur, aber auch deshalb so langsam, weil die Bundesregierung zumindest ein bisschen solidarisch handelt. Insbesondere die Unterstützung von Covax, dem Bündnis des globalen Nordens für die Unterstützung des globalen Südens in der Bereitstellung der Impfstoffe, dürfte noch zu einigen Nominierungen für Friedensnobelpreise führen.
- der Klimawandel ist nicht verschwunden - zwar gingen die CO2-Emissionen 2020 leicht zurück, jedoch sinkt dadurch natürlich nicht die CO2-Konzentration in der Atmosphäre. Die Polkappen und Permafrost in Grönland oder Sibirien ziehen sich weiter zurück, dadurch wird weniger Sonnenlicht reflektiert, der Klimawandel beschleunigt sich weiterhin. Nicht zuletzt durch den Wiedereintritt der USA zum Pariser Klimaabkommen ist die globale Marschrichtung klar: es wird mehr getan werden, um Emissionen zu reduzieren und alternative, umweltfreundlichere Wege zu finden, um unseren Lebensstandard aufrecht zu erhalten und den des globalen Südens anzugleichen. Keine leichte Übung. Konkret bedeutet das für den Sommer 2021: freuen Sie sich nicht zu früh, wenn Buchungsportale und Schnäppchenangebote zu (Fern-)Reisen locken wollen. Lesen Sie genau die Stornobedingungen, denn die Reisebschränkungen können und werden sich über Nacht ändern. Nicht gerade zugunsten der Reiselust. Viele erwarten nach dem kalten Winter einen sehr warmen Sommer - Urlaub würde ich nur im eigenen Bundesland planen, wenn überhaupt. Die großen Tourismusanbieter planen derweil auf Sparflamme, erwarten kein Zurück zu Normal, sondern dauerhaft geringere Reiseaufkommen - wer den längsten Atem hat, wird in zwei bis drei Jahren noch Reisen anbieten.
- die Innenstädte darben nach Wiederöffnung der Geschäfte. Die Staatshilfen konnten viele auch kleinere Ladeninhaber:innen bisher über Wasser halten, doch sie brauchen den Zustrom der Massen; die erhöhten Versandquoten retten höchstens eine schwarze Null. Es nützt nichts. Ich erwarte einen großen Ansturm auf alles, was in den letzten harten Lockdown-Wochen und -Monaten verboten war. Daraufhin wird die Inzidenz besonders mit den neuen Covid-Varianten nach oben schnellen und noch bevor Dr. Drosten und das RKI "Inzidenzwert über 150!" aussprechen können, ist es zu spät: die exponentielle Steigerung ist dann für ein paar weitere Wochen vorgezeichnet, wir müssen wieder schließen, auch Grenzen. Ja, die lahmarschige Bürokratie im Gesundheitswesen trägt eine Teilschuld daran - vor allem aber die Sturheit der Menschen.
- es wird eine teilweise Belebung des Veranstaltungssektors geben. Soweit zur guten Nachricht, die schlechte folgt sogleich: Eintritt nur mit (EU-)Impfpass oder tagesaktuellem, negativem Testergebnis. Aus meiner Sicht ein fairer Deal im Sinne der Gemeinschaft, für viele eine Zumutung. Viele Event-Agenturen, Produktionsfirmen, Messen oder Festival-Veranstalter sind jedoch vorsichtig und möchten nicht das Planungschaos von letztem Jahr wiederholen (warten Sie auch noch auf Erstattungen einiger Konzerte?) - daher wird das Angebot extrem beschränkt sein, die Platzanzahl begrenzt, die Preise höher - denn die Künstler:innen, Dirigent:innen und Produktionsangestellten verlangen zu Recht denselben Lohn, der sich dann aber auf weniger zahlende Gäste aufteilen muss. Eine neue Form der solidarischen Kulturszene muss sich von unten entwickeln, das heißt: auch durch Sie. Dazu gehört auch die gezielte Unterstützung von Initiativen, die Kulturschaffenden durch die Krise helfen, aber auch neue Erlösmodelle für alle Seiten - denn das wird durch die staatlichen Hilfen leider besonders vernachlässigt.
- freuen Sie sich auch nicht zu früh über Schulöffnungen. Ich schätze, dass es spätestens im Herbst zu einer gewaltigen Eruption im Schul-, Universitäts- und Ausbildungsbereich kommen wird. Es ist eine Schande für dieses Land, dass etwa ein Jahr nach Beginn der Pandemie noch immer keine vernünftigen Konzepte für Remote / Home Schooling vorliegen, Gesetzgeber, Schulleitungen und Lehrkräfte bekleckern sich mit allem, nur nicht mit Ruhm. Die über Jahrzehnte sträflich vernachlässigte Unter-Förderung von Lehrkräften, die Konservierung alter Werte statt "neuer" Erkenntnisse der Bildungsforschung, die kategorische Ablehnung digitalisierter Lernmethoden und -inhalte (Stichwort Medienbildung, Informatik als Pflichtfach...) könnten zu dem größten Bildungsvakuum seit dem zweiten Weltkrieg beitragen.
- eine wesentliche Ursache des Aufkommens und der Verbreitung von Pandemien sind Bewegungsmuster und Klimarahmenbedingungen. Je mehr Kontakte zwischen den Wirten, desto besser fürs Virus. Je wärmer und feuchter, umso wohler fühlen sich Viren. Beide Bedingungen unterstützt die globalisierte und ökologische Faktoren ignorierende Gier der Menschheit. Die derzeitige Form des Kapitalismus, der Mobilität, der Energiewirtschaft hat uns geradewegs in die Pandemie geführt. Davor habe ich (und viele andere) gewarnt, doch letztlich ist business-as-usual einfacher als eine ernsthafte Reflexion oder gar die Absicht, grundlegende Dinge zu ändern.
Klingt ziemlich düster, ist es auch. Aber es lässt gerade noch ein bisschen Luft für Optimismus, denn genau jetzt ist noch Zeit, den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Es ist die Zeit, gescheiterte Konzepte gnadenlos an den Pranger zu stellen und die Zeit bis zu den Bundestagswahlen zu nutzen, die Programme aller Parteien zu prüfen. Fragen, die ich mir dabei stelle:
- Wer setzt sich für eine fundamentale Neuausrichtung des Bildungssektors ein?
- Wer hat den besten, realistischen Plan für die Erreichung der Klimaziele?
- Wer schaut über den Tellerrand der nächsten Legislatur und behandelt die Themen, die bis 2050 wichtig werden, und richtet darauf das Programm aus?
- Wer denkt auch in dieser Pandemie, die uns noch ein paar Jahre beschäftigen wird, nicht nur an die Lobby, die gerade am lautesten schreit, sondern bündelt Maßnahmen, die für alle funktionieren?
- Gibt es überhaupt eine etablierte Partei, die nicht in der traditionellen Machtallokation gefangen ist, sondern wirklich nach Werten und Zielen handelt?
- Wagt eine Partei mehr Demokratie an den Stellen, wo sie sinnvoll ist?
Noch eine Pandemie in diesem Ausmaß können wir uns alle nicht leisten. Nutzen Sie Ihre Stimme weise.
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* das gilt vor allem für die Unionsparteien CDU und CSU. Bei der AfD knickt das Wähleralter ab 70 wieder ein - denn die können sich noch daran erinnern, was die Vorgängerpartei (NSDAP) durch ihr Programm mit ihnen oder ihren engsten Angehörigen angerichtet haben.
** Die Formel dafür lautet: 82.000.000/68.000/150. 82.000.000 Menschen leben gerundet in Deutschland, 68.000 sind (abgerundet) bis zum heutigen Tag laut Statista an Covid-19 gestorben, 150 ist die ungefähre Größe eines sozialen Umfelds, also die Anzahl der Menschen, die Sie persönlich gut kennen. Das ist an vielen Ecken sehr unsauber gerechnet, aber ich bin Sozialwissenschaftler, kein Mathematiker, Virologe oder ähnliches. Was die Modellrechnung verdeutlicht: Menschen müssen (wie kleine Kinder) erst merken, dass es wehtut, bevor sie etwas verstehen. Querdenker sind die Kinder der Nation, könnte man sagen.
- Die Grafik ("I want to believe") liegt unter der Creative Commons Lizenz vor: Splendora93, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons
- Beitragsbild: Photo by Hannah Morgan on Unsplash
Weltwirtschaftsforum WEF Davos 2021: Xi & Merkel und die Tianxia
Diese Woche findet / fand das Weltwirtschaftsforum von Davos (World Economic Forum, WEF) statt - natürlich digital. Ich habe mir die wichtigsten Botschaften angeschaut.
Wer es nicht kennt: beim Weltwirtschaftsforum treffen sich seit 1971 Staats- und Regierungschefs, Unternehmensvorstände und führende zivilgesellschaftliche Akteure. Der Gründer, Prof. Dr. Klaus Schwab, hatte es ursprünglich als Europäisches Management Forum ins Leben gerufen und seit 1987 - zufälligerweise mein Geburtsjahr - auf die globale Bühne gebracht. Ich möchte allen die hervorragenden Studien des Weltwirtschaftsforums ans Herz legen, beispielsweise zu den Themen "Future of Jobs" oder "Global Risks". Aber nun erstmal zur aktuellen Lage.
Xi Jinping trump(f)t beim Weltwirtschaftsforum mit großen Worten
Der chinesische Staatschef Xi Jinping hat es sichtlich genossen, nach der vierjährigen Isolation der Weltmacht USA mit großen Worten und Versprechen sein Land zu positionieren. Was steckt dahinter?
Führende politische und ökonomische Analyst*innen weltweit rechnen fest damit, dass China schon sehr bald die USA als Hegemonialmacht ablösen wird. Die Frage, die uns in Europa umtreibt, ist nicht, ob dieser bevorstehende Machtwechsel eintreten wird, sondern wie er aussehen wird. Und Xis Rede beim wichtigsten geopolitischen Format lässt hoffen - stimmt aber auch skeptisch.
China hat in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten eine atemberaubende Wende vom Entwicklungsland zum Global Player vollzogen. Die strikte Führung der Kommunistischen Partei hat mit ambitionierten Fünfjahresplänen immer wieder Wachstumsrekorde aufgestellt, geht dabei auch im wahrsten Sinne über Leichen. Die kürzlichen Eingriffe in einige der größten Unternehmen des Landes (und der Welt) wie Alibaba, dessen Gründer Jack Ma zeitweise unerklärlich von der Bildfläche verschwand, sind da nur die Spitze des Eisbergs - oder wenigstens eine maximal konsequente Kartellpolitik mit fragwürdigen Mitteln. Die Diskriminierung und Verfolgung einiger Volksgruppen wie der Uiguren passt weder zum "westlichen" Humanismus noch zu der Rhetorik in öffentlichen Auftritten des Staatspräsidenten.
Haben Xis Redenschreiber von Obama abgeschrieben?
Die Rede von Xi könnte mit einigen Ausnahmen auch von einer europäischen oder der neuen US-amerikanischen Regierung stammen. Weniger pathetisch vorgetragen, da wird nichts dem Zufall überlassen. Er spricht darin natürlich über die Corona-Pandemie und den "Global Reset". Vor allem mahnt er die Staatengemeinschaft zu Frieden, Gleichheit, Gerechtigkeit, Demokratie und Freiheit. Er prangert exklusive Politik an und wirkt erleichtert über den US-Regierungswechsel, um vor allem ökonomische Lieferketten wiederherzustellen.
Tatsächlich erwähnt Xi indirekt die Tianxia, über die ich einen kurzen Beitrag verfasst habe. Das, was in den Politikwissenschaften und auch der Zukunftsforschung "Global Governance" genannt wird, benennt Xi unmissverständlich als globale, multilaterale Kooperation - basierend auf unseren geteilten Werten und international verbindlichen Regeln, anstatt auf Machtstrukturen, die von einem oder wenigen Akteuren ausgenutzt werden, um singuläre Interessen durchzusetzen. Welche geteilten Werte das abgesehen von Floskeln sind, bleibt vage.
Internationale Gemeinschaften wie die Vereinten Nationen und sogar der Internationale Gerichtshof lobt der chinesische Staatschef ausdrücklich. Allerdings fordert er von anderen Staaten, Unterschiede zu respektieren und staat Wirtschaftskriegen den Dialog bei Meinungsverschiedenheiten zu suchen. Einen neuen Kalten Krieg gilt es ebenso wie die gängige Nullsummen-Mentalität zu verhindern. Besonders gefällt mir als Zukunftsforscher natürlich die Phrase "take on new perspectives and look to the future".
Da Xi direkt die WHO oder WTO adressiert und eine Stärkung dieser globalen Institutionen fordert, klingen seine Worte tatsächlich global kompatibel, zumal er explizit die Unterstützung von Entwicklungsländern, globale digitale Governance und grünen Fortschritt als Leitlinien der Politik fordert. China will seinen CO2-Peak noch vor 2030 erreichen, CO2-Neutralität vor 2060 - und das bei einer weiterhin wachsenden Volkswirtschaft. Wir dürfen gespannt sein.
"Nullsummenspiel oder winner-takes-all ist nicht die Leitphilosophie des chinesischen Volkes."*
Xi Jinping beim Weltwirtschaftsforum 2021
Klar, ein bisschen Eigenlob muss auch sein. Die moderne sozialistische chinesische Gesellschaft hat als erster Staat der Welt das Covid19-Virus eingedämmt und bietet großzügig seine Kooperation in der Pandemie an. Denn: die Leben der Menschen sind das wichtigste Gut. Wow.
Mein Fazit zu Xi Jinpings Rede
Diese Ansagen stehen zum Teil im derben Kontrast zu den faktischen Entscheidungen und Handlungen des Landes. Die Welt schaut gebannt nach China - wird der neue Fünfjahresplan, vergleichbar mit dem Marshall-Plan der Nachkriegszeit, als Xi-Plan in die Geschichtsbücher eingehen? Das hängt vielleicht auch ein bisschen davon ab, wer diese verfassen wird.
"Ladies and gentlemen, friends. There is only one earth and one shared future for humanity. ... We need to stand united and work together. ... Let us all join our hands and let multilateralism light our way toward a community with a shared future for mankind."
Xi Jinping beim Weltwirtschaftsforum 2021
Merkel stellt beim Weltwirtschaftsforum 2021 "Great Reset" infrage
Exakt ein Jahr nach der ersten Covid19-Infektion in Deutschland war am 26.01.2021 dann Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel dran. Zu Beginn ihrer Rede stellt sie zunächst den Begriff des "Global Reset" infrage, befasst aber sich lieber mit drei Fragen:
1. Konnte sich die globale Kooperation beweisen?
Das Virus habe uns nun endlich Globalisierung erklärt - Abschottung klappt nicht, wir brauchen mehr Zusammenarbeit. Die Pandemie hat indes die Souveränität einiger Länder infrage gestellt, die von globalen Lieferketten abhängig sind. Also fast alle. Dabei spricht sich Frau Merkel aber klar gegen Protektionismus aus. Auch sie betont immer wieder, wie entscheidend heutzutage ein multilateraler Ansatz ist - z.B. bei Impfungen (Covax als solidarisches Prinzip). Diese gegenseitige Unterstützung innerhalb der Staatengemeinschaft darf aber nicht im Nachhinein ausgenutzt werden für machtpolitische Spielchen, denn:
"Es ist die Stunde des Multilateralismus ... nicht nur irgendwie zusammenarbeiten, sondern auch transparent zusammenarbeiten."
Dr. Angela Merkel beim Weltwirtschaftsforum 2021
Immerhin sei Entwicklungshilfe auch im nationalen Interesse und dazu gehört auch, die Verbindungen nach Afrika weiter zu stärken. Mehr fairer, weltweiter Handel, stärkere WTO-Strukturen und den asiatischen Aufschwung mitbegleiten. Andererseits müssen Subventionen und Investitionen immer beiden Seiten dienen und transparent sein, damit alle Menschen von Hightech-Kooperationen und Arbeitsnormen (ILO) gleichermaßen profitieren können.
Ganz kurz fällt auch die Forderung nach einer Mindestbesteuerung digitaler Unternehmen und Wettbewerbsrecht vs. Monopole - da hat sie in Xi Jinping sicher einen guten Fürsprecher. Wir wissen alle, dass diese Lippenbekenntnisse unverbindlich sind. Schließlich sieht Merkel verhaltene Wachstumsaussichten in Europa und anderen Teilen der Welt, weshalb sie in Summe zuversichtlich, wenn auch sichtlich gestresst ist.
Kurz: Tianxia.
2. Sind unsere Gesellschaften verwundbar?
Unsere Abhängigkeit von der Natur und globalen Lieferketten wurde uns ziemlich rabiat durch ein winzig kleines Virus vorgeführt. Versäumnisse in der Nachhaltigkeit, dem Schutz der Biodiversität und dem Abwenden des Klimawandels - kurz, die Inhalte des Pariser Abkommens - haben die Entstehung und Entwicklung der Pandemie begünstigt. Der EU-Green Deal muss entsprechend konsequenter und ambitionierter umgesetzt werden. Und schneller. Dabei werden teilweise auch unliebsame Entscheidungen durchgesetzt werden müssen, aber es müssen alle Menschen mitgenommen werden. Da ist sie wieder, die "Alternativlosigkeit".
Das Konjunkturpaket des Bundes wiederum sei konsequent an "Zukunfsinvestitionen" gekoppelt: 20% müssen für Digitalisierung aufgewendet werden, 50% für Nachhaltigkeit. Doch bei allen Anstrengungen, die Pandemie zu überstehen, dürfen die Industrieländer sich nicht zu sehr auf sich selbst konzentrieren, sondern die Entwicklungszusammenarbeit eher noch verstärken. Denn wie immer trifft es die Ärmsten am härtesten.
Kurz: Wir sitzen alle im selben Schlauchboot auf einem rauen Ozearn. Wir müssen zwar den aktuellen Sturm überleben, dabei aber auch darauf achten, beim aktuellen Manöver kein Loch in die Rückseite des Boots zu reißen.
3. Sind wir widerstandsfähig genug?
Die "Jahrhundertkatastrophe" hat Schwachstellen in unseren Gesellschaften offengelegt. Der grundlegende Zusammenhalt der Bürger*innen hat dennoch - trotz der föderalen Strukturen - in Summe funktioniert. Sie gesteht Fehler ein, die oft auch infolge der langwierigen bürokratischen Prozesse entstehen. Dennoch hat die Entschlossenheit und ein vergleichsweise gut aufgestellter Fiskus dazu beigetragen, die Konjunktur zu stützen.
Der "Mangel an Digitalisierung" wurde ebenso offenkundig und bremst uns aus - Merkel mahnt sehr klar die Missstände im Gesundheits- und Bildungssystem an. Die Selbstkritik ist zwar nett gemeint, aber kommt dann doch etwas zu kurz. Andere Analysten sehen die Gesellschaft gespalten - dazu kein Wort.
Kurz: Wir müssen resilienter werden!
4. Eigenlob
Eigenlob widerstrebt der herkömmlichen deuschen Seele, daher gleitet Merkel erwartungsgemäß schnell ab. Die Forschung sei zwar in ihrer Amtszeit deutlich vorangegangen, auch protenzual am BIP, und das hat uns auch in dieser Krise geholfen. Dieser Punkt bringt sie gedanklich direkt zur kritischen Fragestellung hinaus in die Welt, wie das Verhältnis von Worten und Taten ist. Damit verbindet sie die klare Kritik an Chinas Kommunikation zu Beginn der Pandemie; will jedoch nicht nur schimpfen, sondern vor allem daraus lernen.
Einen kleinen Sidekick über den großen Teich kann sie sich nicht verkneifen und lobt den Wiedereintritt der USA in die WHO, nachdem Bidens Vorgänger vier Jahre lang einen Stillstand der gedeihlichen globalen Zusammenarbeit provozierte.
Merkels Fazit
"Pandemie kann als Bestätigung all dessen gelten, was in den letzten Jahren den Geist von Davos ausgemacht hat. Die Fragen, die diskutiert wurden, waren richtig, aber entsprechend dem deutschen Schriftsteller Erich Kästner haben wir ein Sprichwort: 'Es gibt nichts Gutes, außer man tut es'"
Dr. Angela Merkel beim Weltwirtschaftsforum 2021
Nach Frau Merkel ist das Reden und Diskutieren natürlich wichtig, aber jetzt kommt ein "Zeitraum des Handelns" möglichst nach gemeinsamen Prinzipien. Nehmen wir sie beim Wort!
Mein Fazit zu Dr. Angela Merkels Rede
Frau Merkel stellt den "Great Reset" infrage, begründet aber nicht genau, was sie meint. Was sie meiner Meinung nach sagen möchte, ist: es wird kein Zurück zum alten Normal geben. Doch bleibt sie uns - wie immer - eine Vision schuldig. Oder ist das in didaktisch kluger Schachzug, um die Zivilgesellschaft zum Erarbeiten einer Vision aufzurufen?
Ihre drei Kernthemen sprechen zwar wichtige Herausforderungen an, doch Merkel wirkt wenig souverän bei der Ausführung; sie stockt öfter als üblich, wirkt überarbeitet, räuspert sich oft und "ähmt" oft. So richtig will mich die Rede einfach nicht inspirieren. Wir wissen alle, dass es gewisse Pfadabhängigkeiten gibt. Diese dürften auch dazu führen, dass große Unternehmen schneller gerettet werden als Branchenzweige im Mittelstand - ein großer Fehler. Auch die bestehenden Subventionen bspw. für konventionelle Landwirtschaft, Importe nicht nachhaltiger Waren oder Rüstungsexporte in Kriegsgebiete unterliegen diesen Abhängigkeiten.
Auf der anderen Seite verdienen Beschäftigte in den Epizentren der Pandemie heute nicht mehr als zu Beginn der Pandemie, also primär in Kliniken, Heimen und dem Rest des Gesundheitssektor - trotz Doppelbelastung, leeren Versprechungen und der oft als höhnisch wahrgenommenen Geste applaudierender Mitbürger*innen. Es ist ein Wunder, dass das System noch nicht kollabiert ist und ist wohl der intrinsischen Motivation der Health Worker zuzuschreiben.
Gesamtfazit zum Weltwirtschaftsforum 2021
Hätte Joe Biden einen Beitrag geleistet, hätte ich auch diesen kommentiert. So taucht der neue US-Präsident nur passiv auf, aber wie in meiner Szenarioanalyse zur US-Präsidentschaftswahl beschrieben, wird er sich wohl beim "echten" Weltwirtschaftsforum in Singapur im Mai äußern. So bekommt er lediglich sein Fett weg, da die neue Administration weiterhin an der Politik des "buy at home", also "America first light" festhält. Abgesehen von vielen wichtigen Kehrwenden zum Trump-Trauma ereilt Biden und seine Gefolgschaft das Los der Abwesenden.
Xi Jinping und Angela Merkel füllen entsprechend das fortdauernde geopolitische Machtvakuum liebend gern aus. Sie trumpfen mit großen Ansagen für globale Kooperation, freien Handel, Menschenrechte und, das werden beide nicht müde zu betonen, den ambitionierten Kampf gegen den Klimawandel noch entschiedener zu führen.
- Xi verspricht viel, konnte in seiner aktuell knapp achtjährigen Amtszeit auch vieles halten - ist aber natürlich nicht der Heilige, als der er sich inszeniert. Staatliche und kollektive Ziele stehen in China traditionell über der Würde des Menschen und es bleibt abzuwarten, ob die Ambitionen des Reichs der Mitte an der Spitze der geopolitischen Nahrungskette den Versprechen der Führung gerecht werden können. Walk the walk!
- Merkel hatte nun 16 Jahre, um wirksame, ökologisch nachhaltige Maßnahmen auf den Weg zu bringen. Sie und ihre wechselnden Kabinettsmitglieder konnten vielleicht Schlimmeres verhindern - doch wie so vieles aus ihrer Legislatur, bleiben die Fortschritte infolge des moderaten Mittelweges und dem "Primat der Raute" leider genau das: mittelmäßig.
- Wladimir Putin sprach übrigens auch: Viele Worte, wenige Inhalte. Er liefert exakt das, was zu erwarten war: Weltfremdes Eigenlob ohne ein Wort zu den eigenen Völkerrechtsverletzungen (Georgien, Ukraine, Bergkarabach). Es lässt sich kaum ein Unterschied zu einer Stalin-Rede finden und genau das könnte es sein, was der Kreml damit bezwecken will. Das einzige Machtinstrument Russlands bleibt nach dem Abschied von der geopolitischen Realität das Atomwaffen-Arsenal - immerhin das ist durch den New START Vertrag begrenzt. Putins Freiheitsbegriff war nie weiter entfernt vom globalen Konsens - das könnte noch knallen. Hoffen wir das Beste.
Das verbale Anmahnen von "Taten statt Worten" könnte genau das bleiben, was es ist: leere Worte. Es müssen stattdessen klare und unbequeme Einschnitte verabschiedet werden, um die skizzierten Ziele ernsthaft anzugehen. Gemäß der klassischen Verhandlungstheorie sollten dies klar formulierte Forderungen gegenüber WHO, WTO und UN sein, inklusive Nachkommastelle.
* im Original: "Zero-sum-game or winner-takes-all is not the guiding philosophy of the Chinese People", Xi Jinping, 25. Januar 2021 beim Weltwirtschaftsforum Davos, "Full Video: Xi Jinping delivers speech at WEF Davos Agenda 2021 via video link", at 22:10. Online.
Fun Fact: Indiens Premierminister Narendra Modi, dessen Land immerhin 18% der Weltbevölkerung beheimatet, war der einzige, der ohne Skript sprach. Und der darauf hinwies, dass man vielleicht den generellen Gesundheitszustand der Menschen infragestellen muss. Ansonsten eher ein Werbeclip für Investoren.
Interview mit Netzpalaver über New Work und agile Unternehmensführung
Im Juli habe ich mich mit Ralf Ladner, Gründer von Netzpalaver unterhalten, einem der größten Influencer in diversen Tech-Themen. Es ging natürlich nebenbei auch um die Corona-Pandemie und deren Auswirkungen auf Gesellschaft und Wirtschaft. Primär haben wir uns aber über New Work und agile Unternehmensführung unterhalten. Die Kernfrage lautete: Was bleibt von den schlagartigen Management-Entscheidungen infolge der Pandemie, Lockdown und Co.? Ist das Digitalisierung und New Work, wenn konservative unternehmen ihre Mitarbeiter in Heimarbeit schicken? (Spoiler: nein)
Hier geht's zum Interview, das am 21. Juli 2020 über Zoom aufgezeichnet wurde:
https://netzpalaver.de/2020/08/10/interview-mit-zukunftsforscher-kai-gondlach-zu-new-work-und-agiler-unternehmensfuehrung/
Corona (Fehl-)Prognosen und Verantwortung
Zu Beginn der Pandemie wurden allerlei Zukunftsforscher*innen, darunter auch ich, um Einschätzungen zur Zukunft des neuartigen Coronavirus (Covid19) gebeten; wie lange dauert es, bis wir einen Impfstoff gefunden haben? Wie sieht das "neue Normal" aus? Wann wird endlich alles wieder gut? Ein gutes halbes Jahr nach den ersten Anzeichen für eine Pandemie (laut WHO offiziell seit 12. März) ist es Zeit für eine Reflexion.
Es ist nicht meine Art, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Einige "andere" und vor allem deren Aussagen in Massenmedien haben mich nun aber doch dazu bewegt, erneut Stellung zu nehmen. Nach meinem ersten Corona-Artikel am 24. März erhielt ich viele Anfragen von der Presse, unter anderem kam ein Kamerateam von ARD Brisant zu mir nach Hause und löcherte mich mit Fragen. Ich gehöre zu denjenigen, die ihre Annahmen und die Herkunft dieser Einschätzungen gern begründen - und vor allem auch deutlich machen, dass sie auch nicht alles wissen. Schließlich bin ich weder Virologe oder Immunologe noch Pharmakologe oder ein Orakel. Hinzu kommt, dass "die Medien" natürlich reißende Schlagzeilen suchen, weil sie davon ausgehen, dass ihre Leser*innen und Zuschauer*innen nur eine kurze Aufmerksamkeitsspanne und keine Zeit oder Lust auf Hintergründe haben. Also ebbten die Anfragen ab.
Natürlich lese ich viele Interviews und Artikel meiner Kolleg*innen. Natürlich muss auch ich mir Gedanken über meine Positionierung und Wirtschaftlichkeit machen. Einige mutmaßliche Zukunftsforscher haben dabei den Bogen normativer Prognosen jedoch deutlich überspannt und bringen damit die junge Disziplin der Zukunftsforschung durch unseriöse, spekulative und unwissenschaftliche Prognosen in Verruf. Ich bin mir meiner Verantwortung bewusst, die damit einhergeht, als Person des öffentlichen Lebens Aussagen über die Zukunft zu formulieren und teilweise Empfehlungen zum Umgang mit Veränderungs- und Krisensituationen zu geben. In diesem Sinne gehört es für mich zum guten Ton, gewisse Spielregeln einzuhalten, die mitunter weniger populär oder eindeutig einer Politik oder Gesinnung zuordenbar sind. Gut für die Moral, schlecht für die Einschaltquote.
Ich habe auf der Seite Mission & Wissenschaft (+ Unterseiten) beschrieben, worum es der wissenschaftlichen Zukunftsforschung geht. Dazu gehört die Einhaltung der Gütekriterien der Forschung wie Eindeutigkeit, Transparenz, Offenheit und Redlichkeit (s. "Warum Zukunftsforschung?"), welche ich bei erwähnten Covid19-Äußerungen serienweise verletzt sehe. Wir sind hier nicht bei "wünsch dir was"! In diversen Interviews sprachen Trendforscher darüber, dass (Fraktion A) Corona die Gesellschaft erwachen lassen wird, es zu einer lang ersehnten Entschleunigung kommen und das System des "Raubtierkapitalismus" auf den Prüfstand gestellt werden wird. Fraktion B sah den Untergang unserer Gesellschaft und den Tag des Jüngsten Gerichts gekommen. Hauptsache, man schafft es auf die Titelseite mitunter dubioser Medien, um Reichweite zu erlangen. Bezüglich eines Impfstoffs, der Dauer der Pandemie oder spezifischer Auswirkungen wurde dann aber ausweichend geantwortet, nachdem die subjektive Sicht möglichst verklausuliert und rhetorisch astrein dargelegt wurde. Man darf ja um Himmels Willen nicht zugeben, dass es Fragen gibt, deren Antworten wohl niemand kennt. Doch das gehört dazu! Niemand kennt die Zukunft, auch Zukunftsforscher nicht. Paradoxerweise scheint es gerade die Aufgabe der wissenschaftlichen Zukunftsforscher*innen zu sein, genau dies immer wieder zu betonen - darauf achte ich penibel in meinen Keynotes, in Interviews, Podcasts und Blogartikeln. Natürlich wird das nicht immer gedruckt oder gestreamt, es gehört jedoch zu meinem Berufsethos, wenigstens darauf hinzuweisen.
Prognosen zu Corona und "danach"
Wer hat die Corona-Pandemie kommen sehen?
Ich. Natürlich nicht ich alleine, sondern eher eine große Menge Forscher*innen, die sich begründete Gedanken über mögliche und wahrscheinliche Zukünfte machen. Dazu gehört im Übrigen auch das Robert-Koch-Institut, welches im Auftrag des Deutschen Bundestags bereits 2012 über die Risiken einer modifizierten Sars-Variante aufklärte (nachzulesen in der Drucksache 17/12051 vom 03.01.2013). Diesen Einschätzungen habe ich mich angeschlossen und folglich bei passenden Themen auch in Keynotes darauf hingewiesen; letztes Jahr war ich unter anderem im Sommer bei einem großen Pharmaunternehmen für zwei Termine zum Thema "wie leben wir in der Zukunft?" gebucht, in denen ich schwerpunktmäßig die Zukunft des Gesundheitssystems skizzieren sollte. Das habe ich getan und auch auf die Möglichkeit einer zeitnahen Pandemie hingewiesen. Ob es Zufall ist, dass eben dieses Pharmaunternehmen zu den führenden Institutionen für Coronatests und bei der Erforschung eines Impfstoffs gehört?
Wann werden wir einen Impfstoff haben?
Aus aktueller Sicht (Anfang August 2020) ist das laut führenden Virologen immer noch nicht klar. Das Virus stammt schließlich aus der Familie der Coronaviren, die, wie wir wissen, sich gern weiterentwickeln. Die Fortschritte sind global rasend schnell, immerhin ist die Wirtschaft weltweit infolge der Sars-Cov-2-Pandemie deutlich geschrumpft - anders als bei bspw. HIV bröckelt also das Fundament der globalisierten Menschheit. In Russland wird bereits ein Impfstoff getestet, doch selbst wenn es der Menschheit gelingen sollte, so rasant eine wirksame Impfung zu finden, ist immer noch fraglich, wie schnell dieser massenhaft produziert und verteilt werden kann, welche Kosten damit verbunden sind, wer sich gegen die Impfung weigert (Stichwort Impfgegner) und ob damit das Virus tatsächlich verbannt ist.
Wichtiger ist meiner Ansicht nach, dass wir den Umgang mit der Situation meistern und auch die unbequemen Aspekte diskutieren. Ich sehe an dieser Stelle viele Parallelen zur Kommunikation mit Kindern. Es nützt nichts, das Virus zu ignorieren oder zu leugnen; wer sich beim Versteckspiel die Augen zuhält, ist noch lange nicht verschwunden. Ebenso wenig hilft es uns weiter, übertrieben optimistische Prognosen zu verbreiten; auf langen Autofahrten hat es schließlich auch noch nie geholfen, die Frage der Kinder "wann wir endlich da?" mit "wir sind gleich da" zu beantworten, wenn man in Wahrheit gerade aufgrund einer Vollsperrung im Stau steht.
Kurz: Wie lange das "neue Normal" noch andauert, kann niemand mit Gewissheit sagen. Wir können und sollten uns nur bemühen, achtsam miteinander umzugehen und die für Krisen typischen Spannungen menschlich zu meistern.
Wie gehen wir mit der angespannten "Lage der Nation" um?
Wenn die Corona-Ausnahmesituation eins zutage gefördert hat, ist es die unbequeme Wahrheit, dass ein ernstzunehmender Teil der Bevölkerung(en) das Vertrauen in das System verloren hat. Demagogen in politischen Ämtern und zivilgesellschaftliche Influencer gießen zu allem Überfluss noch Öl ins Feuer. Das Virus sei eine Entwicklung des Militärs, Superreiche planen die Übernahme einer Weltregierung, die (Bundes-)Regierung wolle sich mit diktatorischen Methoden die totale Macht sichern - bis hin zu obskuren Thesen, die Machtelite würde mithilfe der UNICEF Kinder entführen und deren Blut trinken. Kaum eine Verschwörungstheorie ist zu bizarr, um viele Anhänger zu finden, die sich dann in einer irrwitzigen Melange von Reichsbürgern, Rechts- und Linksradikalen, Neo-Hippies und besorgten Rentner*innen zu oft grenzwertig legalen Demonstrationen oder Coronaparties treffen. Unglücklicherweise schaffen es weder Politik noch die vernünftige Zivilgesellschaft, diese Sorgenträger*innen ernstzunehmen, sondern kippen ihrerseits eimerweise Wasser auf die Mühlen der "Skeptiker", indem sie die Initiativen kleinreden, sich darüber lustig machen und darüber hinaus politische Agenden der AfD und Co. fehlinterpretieren.
Fakt ist: Die Situation eskaliert. Über die durchaus weitgreifenden Maßnahmen der Regierungen zur Eindämmung der Pandemie kann man streiten, auch über mehr oder weniger demokratische Aspekte der Entscheidungsfindung und Eingriffe in die Autonomie der Bürger*innen. Was bis dato in einer Demonstration mit rund 20.000 bestätigten Teilnehmer*innen am ersten Augustwochenende in Berlin gipfelte, ist im Grunde der Ausdruck von Unzufriedenheit mit unterschiedlichen Aspekten unseres gesellschaftlichen und politischen Systems. Politikverdrossenheit ist keine Neuheit, ontologische Herausforderungen einer repräsentativen Demokratie auch nicht. Dazu dann noch eine Prise Globalisierung und Digitalisierung, sodass die "zur Mündigkeit fähige" Gesellschaft sich in einem fast rechtsfreien Raum (dem Internet) austauschen kann, und wir haben den Salat. Leider tragen die Algorithmen der großen Unternehmen des Social Web (Facebook, Twitter, Snapchat und Co.) nicht gerade zu einer ausgeglichenen Diskurskultur bei; stattdessen bestärken sie sie das Zusammenrotten in inhaltlich eher homogenen Blasen. "Wer meiner Meinung ist, darf mitdiskutieren, wer dagegen ist, gehört der Verschwörung an", lautet die Logik dieser Social Bubbles. Jede Rückfrage, die das Fundament einer "Theorie" infrage stellt, wird als Einschränkung der Meinungsfreiheit deklariert. Pessimisten sehen bereits Anzeichen für den Untergang unserer Spezies herannahen und prophezeien weltweit bewaffnete Ausschreitungen, das Ende der zivilisierten Welt oder Trumps Machtergreifung auch ohne demokratische Grundlage.
Kann der Untergang der Menschheit noch gestoppt werden - und wenn ja, wie?
Einer der wichtigsten psychopathologischen Risikofaktoren für Suizidalität sind fehlende Zukunftsperspektiven (Quelle). Ähnliches beobachte ich seit ein paar Jahren in gesättigten Gesellschaften des Westens; aus diesem Grund ist mein Motto "Zukunft ist eine Frage der Perspektive". Mir war bei der Analyse der größten Herausforderungen unserer Gesellschaft (Veränderungsangst, Wertevakuum und -konflikte, Anstieg psychischer Krankheiten und Burnout etc.) aufgefallen, dass es vor allem an diversen Perspektiven mangelt. Die Uhr der Globalisierung lässt sich nicht mehr zurückdrehen, wir müssen mit dem Erbe der (historisch betrachtet) schlagartigen Bevölkerungsexplosion (von 1 Mrd. auf 8 Mrd. in knapp 200 Jahren) fertig werden, müssen mit wirtschaftlichen, kulturellen, ethnischen, ethischen und demografischen Unterschieden leben und gleichzeitig die Auswirkungen des Klimawandels (darunter Artensterben, Flächenversiegelung, Anstieg des Meeresspiegels, Verdörrung, Häufung extremer Wetterereignisse etc.) moderieren.
Grundzüge einer Lösung
- Dazu fehlt meiner Ansicht nach erstens eine weltumspannende, inklusive und kooperative Weltpolitik, die diesen Namen auch verdient (Literaturtipp: "Alles unter dem Himmel" von Zhao Tingyang). Ein Teil dieser dringend benötigten obersten Ebene ist es, die Komplexität der Welt anzuerkennen und Abstand zu nehmen von pauschalisierenden Aussagen und politischen Lösungen, die (im Falle von Pandemiemaßnahmen) landesweite Verordnungen mit sich bringen, statt auf Faktoren wie Risikopatienten, soziale Mobilität, demografische Merkmale etc. einzugehen. Auf der anderen Seite gibt es Themen, die nur aus der Vogelperspektive rational beurteilt und behandelt werden können: kaum jemand möchte zum Klimawandel beitragen und doch sind individuelle Zugeständnisse schwer freiwillig zu erreichen, die jede*r einzelne im Alltag eher andere Prioritäten setzt als die unmittelbaren Folgen alltäglicher Handlungen für das Gesamtsystem in Zukunft.
- Ebenso dringend benötigen wir ein neues Verständnis bzw. neue Regeln für den Kapitalismus, der sowohl Wohlstandsunterschiede als auch Umweltfolgen der Produkte und individuellen Handelns einpreist (Literaturtipp: "Postkapitalismus" von Paul Mason). Das Grundprinzip der Marktwirtschaft bringt viele Vorteile mit sich - holistische Verantwortungsübernahme einzelner Akteure gehört nicht dazu. Währungen dienen dazu, Tauschhandel effizienter zu gestalten und Preisstabilität zu gewährleisten; sie greifen aber zu kurz, wenn es um die Berücksichtigung sozialer und ökologischer Faktoren geht.
- Schließlich mangelt es an neohumanistischen und postmodernen Grundwerten. Allen voran stehen Toleranz und die Einsicht, dass das Primat des Egos durch Belohnungssysteme altruistischer Verhaltensweisen ausgetauscht werden muss. Applaus auf dem Balkon ist zwar nett, zahlt aber nicht die Mieten des Pflege-, Krankenhaus oder Supermarktpersonals. Vor der Moderne waren es in erster Linie die Religionen und deren Priester und Propheten, die allgemeingültige Werte des Zusammenlebens definierten; in der globalisierten, vernetzten und postmodernen Gesellschaft, die ungleich komplexer ist, helfen keine Ansätze mehr, die Ungleichheiten zementieren, Grenzen betonen und Konflikte hinnehmen. Andererseits ist auch die Deutungshoheit der Vereinten Nationen auf "universelle" Menschenrechte aus der Mode gekommen.
Fazit
Wenn es unser Ziel ist, dass unsere und andere Spezies auf diesem Planeten noch viele weitere Generationen in Frieden zusammenzuleben, sollten wir über teils radikale Anpassungen der gesetzlichen und gemeinschaftlichen Grundlagen nachdenken. Und wenn Corona zu einer Sache gut ist, dann vielleicht dazu: die Krise als Chance zu verstehen & das Momentum der Unzufriedenheit auf- und ernstzunehmen und in eine für alle Beteiligten lohnenswerte, lebenswerte Zukunft zu investieren. Wenn wir wollen, können wir die Werkzeuge unserer Zeit nutzen, um einen globalen Dialog anzustoßen und grundlegend neue Modelle zu entwickeln. Wir müssen es nur tun.
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Procontra TV: Wie sieht die Beraterwelt nach Corona aus?
Im Mai habe ich mich mit Matthias Hundt, dem Chefredakteur von procontra TV, über den Einfluss von Corona über die Berater- und Maklerszene unterhalten. Hier geht's direkt zum Video:
Corona-Chance statt Corona-Krise
Die aktuelle Pandemie durch das neuartige Corona-Virus (CoViD-19 bzw. SARS-COV-2) trifft - anders als Krisen der jüngeren Vergangenheit - alle/s und jede/n. Eine Katastrophe globalen Ausmaßes? Als Andersdenker und Quermacher denke ich schon an die Zeit danach: Corona ist eine Chance für die Menschheit!
Free Talent: Sonderfolge "Was bedeutet die COVID-19-Krise für Freelancer?"
Daniel Barke hat vier ehemalige Gäste seines Podcasts "Free Talent" zum Checkup eingeladen: Katharina Kieck, Emily Roberts, Linda Brack und mich. Wie geht es Freiberufler*innen und Selbstständigen in der Corona-Krise? Vier ganz unterschiedliche Perspektiven auf die Pandemie.
Hier geht's zur Episode:
https://www.free-talent.de/portfolio/15-sonderfolge-was-bedeutet-die-covid-19-krise-fur-freelancer/