Letztes Corona-Update: Resilienz 2022+
Wer hat noch Lust auf mehr oder weniger kluge Beiträge über Corona / Covid19? Ich auch nicht. Fast ein Jahr ist es nun her, dass ich mit meinem Pandemie-Beitrag einige Gemüter erhitzt habe. Am 28. Feburar 2021 veröffentlichte ich meine Gedanken darüber, wie wohl der Corona-Sommer 2021 verlaufen könnte und schrieb unter anderem in eine Zwischenüberschrift "Querdenker töten":
Und wo stehen wir jetzt?
Inzwischen ist der Plan der Durchseuchung der Gesellschaft mit Corona (v. a. Delta und Omikron) längst Realität, auch die neue Bundesregierung setzt der kollektiven Verwirrung wenig entgegen und meine Wünsche für beherzte Maßnahmen für mehr Bildung, Gerechtigkeit und Demokratie wirken inzwischen utopisch. Sind wir hier etwa nicht bei "wünsch dir was"? Natürlich nicht.
Dazu fällt mir ein Zitat des Schweizer Schriftstellers Kurt Marti ein:
Wo kämen wir hin, wenn jeder sagte, wo kämen wir hin und keiner ginge, um zu sehen, wohin wir kämen, wenn wir gingen?
Kurt Marti, 1921-2017
Gerade erleben wir eindrucksvoll die Antwort auf diese geniale rhetorische Frage.
Resilienz nach Corona
Die kollektive Krisenerfahrung, die die Menschheit hätte zusammenschweißen können, hat eher zu einer Vertiefung der Gräben geführt. Auch global. Denn schaut man sich den Impfstatus der Staaten bei Statista an, bildet dieser natürlich die Verteilung des globalen Bruttoinlandsprodukts ab. Einerseits konsequent, andererseits weit entfernt von den ach so humanistischen Idealen der Weltgemeinschaft. Andererseits weisen nicht immer demokratische Staaten die höchste Impfquote auf, so führen die Vereinigten Arabischen Emirate die Tabelle an, auch in den Top 10: China und Kambodscha (Quelle: NZZ).
Derweil prallen Meinungen, Gruppen und sogar Staaten aufeinander wie lange nicht mehr. Inzwischen erleben wir die Neuauflage des Kalten Kriegs, der umso heißer wird, je leidenschaftlicher einzelne Menschen oder ganze Staatsregierungen auf ihrem Ego bestehen, anstatt die Argumente der Gegenseite anzuhören. Ob es um die Herkunft des Virus oder die Blockkonfrontation im europäischen Osten geht, die so hoch gelobte Individualisierung hat uns in einen Hobbes'schen Krisenzustand geführt, in dem wieder jeder Mensch des anderen Menschen Wolf ist. Wer nicht meine Ziele unterstützt, ist ganz klar mein Feind - so scheint das Credo vieler (insb. Social Media) Aktivisten.
Leider hat sich parallel der Zustand der Demokratie weltweit verschlechtert, wie die letzte Aktualisierung der berühmten Economist-Studie zeigte; nur noch etwa 45,7 Prozent der Weltbevölkerung lebt in einer Demokratie ggü. 49,4 Prozent im Jahr 2020. Anders als einige Trendforscher und andere Propheten hat sich also leider keine sprunghafte Verbesserung von praktisch allem durch die Pandemie ergeben. Schade.
Corona im Sommer 2022+
Wagen wir also eine (hoffentlich) letzte Prognose, wie es mit der Corona-Pandemie weitergeht. Die Grundbedingungen sind wenig rosig, doch es gibt natürlich auch Hoffnung. Zunächst die Sorgen.
Wir spazieren barfuß auf dem Scherbenhaufen, vielleicht unterlassen Verantwortliche deshalb ruckhafte oder große Schritte. Das Vertrauen in Politik und Medien hat seinen Tiefpunkt erreicht, was eigentlich ein Indiz dafür ist, dass sich "die Medien" oder "die Politik" eben nicht besonders gut absprechen (konträr zur Meinung eines großen Teils der "Systemkritiker"). Wer schon während der Bundestagswahl und den Koalitionsverhandlungen insbesondere gegen den rot-grünen Part der Ampel war, wird nun wenig Verständnis für jede Form der Politik haben. Es ist ja viel einfacher, sich weiterhin auf der eigenen Meinung auszuruhen und die eigene Dagegenheit zur Schau zu tragen, gern bei den grenzwertigen Spaziergängen.
Hoffnung habe ich in folgenden Dimensionen:
- Dank moderner Technologie, öffentlichem Interesse und großen Anstrengungen auf politischer und gesellschaftlicher Ebene ist es sehr schnell gelungen, wirksame Impfstoffe in Rekordzeit zu entwickeln. Ich bin kein bedingungsloser Fan sämtlicher Maßnahmen zur Eindämmung und Bekämpfung der Virusausbreitung. Im Großen und Ganzen jedoch geht aktuell leider auch schnell wieder unter, wie privilegiert wir im globalen Norden sind, überhaupt Zugang zu Hygiene und Gesundheitsversorgung im Allgemeinen, zu einer breiten Auswahl von Impfstoffen im Speziellen zu haben.
- Inzwischen ist empirisch recht gut belegt, dass die Mehrheit der Gesellschaft wenig mit Systemrevolte anfangen kann. Die offiziellen Querdenker-Kanäle sind inzwischen an sich selbst und der Realität zerbröselt, teilweise wurden sie aufgrund der klar systemfeindlichen und nicht selten rassistischen oder antisemitischen Kultur zensiert oder gar verboten. Wer jetzt auch noch den Mut hat, seinen Egotrip zu beenden und Fehler einzugestehen, sollte dafür Anerkennung erhalten. Amnestie für Querdenker!? Das Paradoxe: Inzwischen zieht es einen ordentlichen Teil der Systemopposition aus demselben Grund in die Normalität wie die demokratische Mehrheit - die Schlacht wurde verloren, einige zentrale Köpfe der Bewegung sind gefallen, also zurück zur scheinbaren Konformität.
- Apropos Köpfe: Die Pandemie hat viele kreative und innovative Köpfe zusammengebracht. Einige davon habe ich in meinem Podcast befragt. Ob Nachhaltigkeit, Bildung oder Digitalisierung - nicht alles stand in den letzten zwei Jahren still. Vieles ging in die richtige Richtung, wenn man etwas Mut zur Lücke hat, wird man als Optimist ein Leuchten am Ende des Tunnels sehen.
- Apropos Ende des Tunnels: Mit der Corona-Variante Omikron ist nicht zu spaßen. Nein, auch sie kann tödlich verlaufen, gestern (13.02.2021) sind 42 Menschen in Deutschland am Virus gestorben, aktuell heute wird voraussichtlich die Marke von 120.000 Corona-Toten überschritten (Quelle: RKI). Dennoch ist die Hospitalisierung und auch die Sterberate mit dem Rückgang von Delta ebenfalls gesunken. Aus Perspektive des Virus macht das sogar Sinn: möglichst viele Wirte infizieren, sie aber nicht töten, um anschließend weiterleben zu können. Das heißt für unsere Pandemie-Prognose folgendes: Die Zeichen stehen auf ein baldiges Ende der Corona-Pandemie. Juhu! Dass das nicht bedeutet, dass wir komplett durchatmen können, versteht sich von selbst. Endemie ist nicht gleich: ungefährlich.
Was ist jetzt zu tun für mehr Resilienz?
Aber was wäre dieses Zlog ohne ein paar Denkzettel für die nächsten Monate? Also los:
- Wie ich in meinen letzten Vorträgen zum Thema "Resilienz" gebetsmühlenartig wiederholt habe, ist es nicht damit getan, eine Krise durchzustehen. Klar, als erstes gehört zur Verarbeitung einer schlimmen, traumatischen Erfahrung das Zurechtfinden in der neuen Normalität. Also: Euphorie, Party, Freedom Day! Danach geht's aber an die Aufarbeitung. Nicht zurück zum alten Normal, das ist völliger Unsinn. Es gehört zu jeder vernünftigen Krise, dass das alte Normal mit ihr stirbt. Wer versucht, daran festzuhalten oder dahin zurückzukehren, wird wahnsinning. Ich kenne das unter der Erfahrung einer PTBS. Insofern wünsche ich mir von einer mündigen Zivilgesellschaft, dass sie sich spätestens 2023 an eine umfangreiche Aufarbeitung der Krise, ihrer Ursachen und einer Neugestaltung auf Systemebene setzt.
- Systemebene heißt nicht einfach nur "die Politik", die dank unklarer Kommunikation zu viele Flanken geboten hat, um sogar im Zentrum der Demokratie immer wieder Angriffe hinzunehmen. Die Liste ist zu lang für einen kurzen Beitrag. Systemebene heißt aber eben auch ein neues Selbstverständnis "der Wirtschaft", in dem es nicht mehr sanktioniert werden darf, wenn man sozial und/oder ökologisch wirtschaftet. Der Wandel hat begonnen, doch mit ausschließlich Selbstverpflichtungen wird er zu lange dauern. Wir müssen uns auch wagen, Kapitalismus neu zu denken und wer jetzt automatisch "Sozialist!" rufen möchte, sollte nochmal nachdenken. Das ist keineswegs gemeint, sondern eine verbesserte Neuauflage der sozialen Marktwirtschaft. Und ja, das lohnt sich auch oder insbesondere, wenn anderswo die Demokratie abnimmt.
- Nach der Pandemie ist vor der Pandemie. Wie ich schon am 03.07.2021 in meinem Mini-Podcast "Kai for Future" berichtet hatte, warnte der Weltbiodiversitätsrat (Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services, kurz IPBES) Mitte 2020 davor, andere Viren zu unterschätzen, während die globale Aufmerksamkeit auf Sars-Cov-2 ruht. Wörtlich sagte ich dann:
Es wird geschätzt, dass 1,7 Millionen Viren mit Säugetier- oder Vogel-Wirten aktuell noch unentdeckt sind, von denen wiederum 631-827 Tausend das Potenzial haben, Menschen zu infizieren. Nochmal die Zahl: durchschnittlich 730.000 Erreger warten nur darauf, Menschen zu infizieren. Dazu gehören u.a. einige weitere Coronaviren, aber auch der alte Bekannte H5N1 - Vogelgrippe - und dessen Mutationen.
Kai Gondlach in "Kai for Future" am 3.7.2021
Auf der Website des IPBES findet man alle Daten dazu. Kurz: Wir kommen nicht umhin, die Ursachen der Pandemie gründlich aufzuarbeiten und strukturelle Faktoren zum Teil großzügig anzupassen. Wie früher beschrieben, gehören dazu teils drastische Maßnahmen, die weniger drastisch wären, wenn man früher agiert hätte. Stichwort: Zukunftsforschung.
Und dann? Aufbereitung letzte Pandemie, Vorbereitung auf die nächste
Um die Einstiegsfrage aufzugreifen: Wer hat Lust auf noch eine Pandemie?
Ich denke, niemand. Insofern bereiten Sie sich gern innerlich schon mal darauf vor, auch in den nächsten Jahren zum Teil erhebliche Veränderungen im Alltag wahrzunehmen. Die steigenden Energiepreise der letzten Wochen sind ein erstes Indiz dafür, ähnlich wird es mit einigen Lebensmitteln - vor allem weit gereisten und ökologisch wenig nachhaltigen, wie insbesondere Fleischwaren - ablaufen. Hinzu kommen immer weitere Varianten bzw. Mutationen des vorhandenen Virus. Komplexe Lieferketten werden sich umstellen, Produktion weiterhin regionaler stattfinden. Und da haben wir noch nicht über politische Ungewissheiten wie den "neuen" Block Russland-China gesprochen, der sicherlich einige Auswirkungen auf den "Westen" im Gepäck hat. Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.
Ich bleibe dabei: Zukunft ist eine Frage der Perspektive. Wenn wir uns eine gute Zukunft wünschen, müssen wir auch etwas dafür tun.
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Rück- und Ausblick 2021-2022 - von Corona bis Bitcoin Im Hier und Morgen #IHUM
Das Jahr 2021 ist (endlich!) zuende - und hier kommt mein persönlicher Rück- und Ausblick! Privater denn je, doch keine Angst, natürlich gibt es auch einen umfangreichen Ausblick auf die wichtigsten Themen in 2022. Dabei geht's unter anderem um Resilienz, Wahnsinn und Weltmachtpolitik; außerdem die Ampel-Koalition, Privatisierung des Weltalls und Klimakrise. Und noch vieles mehr.
Guten Rutsch (nachträglich)!
Neujahrsempfang 3. Januar 2022 (Wirtschaftsdienst Niedersachsen): https://www.wirtschaftsdienst-exklusiv.de/2022/01/03/wirtschaftsdienst-neujahrsempfang/
Der Band "Arbeitswelt und KI 2030" bei Springer: https://link.springer.com/book/9783658357788
Der Band bei Amazon: https://amzn.to/3BzhvNi
Der Band bei Buch7 (sozialer Buchhandel): https://www.buch7.de/produkt/arbeitswelt-und-ki-2030-inka-knappertsbusch/1042544070?ean=9783658357788&partner=kai-gondlach
Der Themenüberblick:
00:00:00 Intro: (persönlicher) Rückblick und Ausblick auf 2022
00:00:49 Persönlicher Rückblick
00:07:39 Schweigeminute
00:08:44 Rückblick 2021: Spaltung, aber auch Corona in einem positiven Licht
00:13:22 Lichtblicke: Neue Initiativen, Startups und tolle Menschen
00:19:55 Neuer Schwestern-Podcast: Kai for Future seit Juni on air & DANKE
00:21:02 Ausblick: von Resilienz, Wahnsinn und Weltmachtpolitik
00:24:29 Ampel-Koalition als Lichtblick? Und doch wieder Machtpolitik. Und irre Despoten. Und Polexit. Und Brexit. Und mehr.
00:28:01 Weltall: Privatisierung, Starlink, Uckermark, James Webb, All-Fabriken, Marswasser, Asteroiden-Mining
00:30:22 Klimawandel: Flutkatastrophe, langsame Behörden und mehr Klimaschutz und dessen Folgen
00:32:40 Künstliche Intelligenz und die Arbeitswelt: Massensterben der Unternehmen
00:33:56 Corona 2022
00:36:06 Technologie im Schnelldurchlauf: Bitcoin, Krypto, NFTs, Web 3.0, Metaversum, dezentrales Internet
00:37:17 Turbulenzen - doch die Chancen im Fokus
00:39:06 Abschluss, Reflexion und Dankbarkeit
Teaser
Abspann
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Diese Episode wird bei Spotify und Co. erstveröffentlicht am 30.12.2021. Hier im Zlog schon seit dem 29.12. um 09:38 Uhr.
Ausblick 2022: Corona, Ampel und High-Tech
2021 ist vorbei. Endlich, denken jetzt bestimmt viele. Was erwartet uns im neuen Jahr 2022? Eins ist sicher: Es wird nie wieder so wenige Veränderungen und Überraschungen geben wie im zurückliegenden Jahr. Mit diesem Beitrag möchte ich ein paar Rückblicke geben, vor allem soll es aber um den Ausblick auf 2022 gehen. Anschließend gibt's noch einen sehr persönlichen Rückblick auf ein außerordentlich turbulentes Jahr in meinem Leben.
Allgemeiner Rück- und Ausblick 2021/2022
Zu jedem Ausblick gehört auch ein kurzer Rückblick. Ich bemühe mich um Reduktion aufs Wesentliche, versprochen!
Die wichtigsten Themen im Schnelldurchlauf:
Pandemie: Wie geht's 2022 weiter?
Corona spaltet die Gesellschaft nicht, stattdessen sind die bestehenden Spaltungen offensichtlicher zutage getreten. Noch immer ziehen ungeimpfte Mobs teils mit Fackeln, teils mit Kindern als Schutzschilde [wie in Schweinfurt, siehe 1, 2, 3, 4, 5] durch die Dörfer und wollen gehört werden. Sie sind entweder esoterisch oder aus anderen Gründen kategorisch gegen Impfungen und glauben, ihr Immunsystem komme mit dem Virus klar; sie sind Neonazis oder andere politische Extreme bzw. Radikale und haben nur auf eine Gelegenheit gewartet, die Demokratie anzugreifen und Ungebildete hinter sich zu versammeln; sie sind Ungebildete und/oder digital Abgehängte, die nicht wissen, wie man eine wahre von einer gefälschten Information unterscheidet; schließlich die Ängstlichen, die entweder Angst vor Spritzen haben, Angst vor einem Genozid durch Bill Gates oder Angst vor einem Impfstoff, der schneller denn je entwickelt wurde.
Gegen die Spekulationen hilft Information. Das Paul-Ehrlich-Institut sammelt beispielsweise Nebenwirkungen und Impfschäden und "gibt die durchschnittliche Häufigkeit von anaphylaktischen Reaktionen nach der Verabreichung von derzeit in Deutschland zugelassenen Impfstoffen mit 0,4 bis 11,8 pro 1 Million Impfstoffdosen an" [RKI]. Natürlich gibt es auch noch die Schwerkranken, die sich nicht impfen lassen können, doch das sind verschwindend wenige - die meisten Bedenken hinsichtlich der eigenen Untauglichkeit für eine Impfung werden sehr transparent aufgeklärt und treffen nicht zu. Und selbst bei einer Allergie gegen einzelne Bestandteile eines Vakzins gibt es ja zum Glück inzwischen eine breite Auswahl, bald auch sogenannte Totimpfstoffe. Für eine Übersicht zur Impfung empfiehlt sich die Übersicht des RKI sowie das Impf-Dashboard der Bundesregierung.
Meine Beobachtung nach bald zwei Jahren Pandemie: Es wird noch immer zu viel auf eine laute Minderheit gehört, was eigentlich ein Anzeichen einer guten Demokratie in einer pluralistischen Gesellschaft ist, dennoch bleibt diese Minderheit bei Anklagen, wir lebten in einer Corona-Diktatur; es gibt übrigens eine gruselige Überschneidung in den Splittergruppen, die sich ebenso vor einer Öko-Diktatur fürchten oder seit Jahren eine linksgrünversiffte Verschwörung wittern. Oft werden die hinreichend begründeten Eingriffe ins öffentliche Leben durch die Pandemiemaßnahmen als unrechtmäßige Grundgesetzeinschränkungen überspitzt; dies wurde nun mehrfach von unterschiedlichen Gerichten widerlegt. Umgekehrt rechtfertigen viele Gegner:innen ihre "Meinungsfreiheit", wenn sie die Wirksamkeit der Impfungen, die Wahrhaftigkeit medialer Berichterstattung oder den Hergang der Pandemie anzweifeln; doch auch Meinungsfreiheit hat ihre Grenzen. Um genau zu sein genau dort, wo sie bewusst Lügen oder Fake News verbreitet - in einem Artikel von Mitte 2020 sehr verständlich erläutert von der Bundeszentrale für politische Bildung. Die einzige Logik, die das Handeln und Kommunizieren in den Kommentarspalten in "Social Media" eint, ist die durch den kognitiven Bestätigungsfehler (confirmation bias) befeuerte rekursive Beweisführung - wer oder was anderer Meinung ist, ist offensichtlich ein:e Gegner:in. Das ist keine Polemik, sondern sorgsam beobachtete Alltagspraxis.
Wechseln wir mal die Perspektive.
Infolge der Shutdowns wurden einerseits viele Existenzen bedroht oder mussten aufgeben. Auf der anderen Seite hat die Bundesregierung 57 Milliarden Euro an Zuschüssen ausgezahlt, um genau dies zu verhindern, Kredite wurden in Höhe von 109 Milliarden Euro vergeben (Stand November 2021). Vor allem kleine und mittlere Unternehmen wurden in der "Überbrückungshilfe III" berücksichtigt und gerettet, wovon auch ich profitiert habe. Wer hier noch von einer Diktatur spricht, ist ein Fall für die geschlossene Abteilung oder sollte vielleicht mal ein längeres Praktikum in Belarus machen.
Wir leben im Schlaraffenland und keiner merkt's.
Doch Empörung über diejenigen, die leider durch das Raster fallen oder tragischerweise mit den Antragsformularen überfordert sind, verbreitet sich erheblich effizienter als Erfolgsmeldungen über gerettete Existenzen und Rekordkurzarbeitergeldsummen. Wenn ich mir die Diskussionen bei Facebook, Instagram, Tiktok und Linkedin ansehe, wird mir immer übler. Mein Ansatz ist es immer, die Beweggründe von Skeptiker:innen und Gegner:innen besser zu verstehen; manchmal muss ich mich sehr beherrschen, nicht zynisch zu werden. Oft klappt es aber ganz gut und auf respektvolles Zuhören folgen ehrliche Auseinandersetzungen. Es wäre ja auch zu einfach davon auszugehen, dass eine scheinbar einfache Lösung einfach so von 100% der Bevölkerung angenommen wird. Was oft fehlt, ist gewaltfreie, respektvolle und offene Kommunikation über die Bedürfnisse der Menschen. Vielleicht klappt's ja mit dem neuen Gesundheitsminister, der sich allerdings gerade bei skeptischen Menschen nicht gerade hoher Beliebtheit erfreut.
Wie geht's weiter?
Die Wahrscheinlichkeit für weitere Covid-Varianten ist relativ hoch. Auf Delta und Omikron werden global sicherlich noch einige weitere folgen, viele davon werden es nicht um die Welt schaffen und milder sein als die bisherigen. Im globalen Norden ist inzwischen ein großer Teil der Bevölkerung besser dagegen geschützt, vor allem dank der Impfungen inklusive Booster. Mein Mix besteht übrigens aus AstraZeneca, BionTech und Moderna, da ich von Beginn an auf Kreuzimpfungen gesetzt habe. Der globale Süden wiederum wartet noch auf Impfungen, wodurch das Virus weiter mutieren kann. Bedeutet: Die Fortschreibung des wirtschaftlichen Kolonialismus ist eine medizinische Notlage in zahlreichen Staaten in Afrika, Südamerika und Teilen Asiens. Während viele Menschen keinen Zugang zu vernünftiger Medizin haben, lehnen viele Deutsche die Impfung ab - diese Wohlstandsverwahrlosung widert mich an. Entsprechend unterstütze ich harte Maßnahmen gegen Menschen, die andere Menschen und damit die Gesellschaft auf egoistische Weise immer wieder bei Versammlungen in Gefahr bringen, die Falschmeldungen verbreiten und respektlos (besonders in "Social" Media) gegen alles hetzen, was nicht ihrer Meinung ist. Solidarität war nie wichtiger, doch die haben viele leider verlernt. Dank der Unentschlossenheit oder auch bewussten Opposition gegen Wissenschaft stecken wir noch viele Monate in der Pandemie, die auch im nächsten Winter Maßnahmen notwendig machen dürfte mit der Folge, dass die sich weiter radikalisierenden Covidioten auch mal zu schwererem Geschütz greifen werden. Der große Knall kommt noch und wie es sich für einen Rechtsstaat gehört, warten wir selbstverständlich ab, bis es eine Katastrophe gibt.
Das bringt mich zum nächsten Punkt.
Ampel-Regierung 2022
Die Deutschen haben gewählt und dabei kam erstmals eine Dreier-Koalition als Bundesregierung heraus (wenn man die CSU nicht als eigenständige Partei begreift, was sie ja auch nicht ist). Die sogenannte Ampel-Regierung aus Sozialdemokraten (SPD), Grünen und Freidemokraten (FDP) hat sich relativ schnell nach der Bundestagswahl gefunden und nach kurzen Sondierungsgesprächen und gar nicht mal übermäßig zähen Koalitionsverhandlungen auf einen Koalitionsvertrag geeinigt. Anfang Dezember wurde Olaf Scholz als neuer Bundeskanzler gewählt und der Rest des Kabinetts kann anderswo besser nachgelesen werden. Natürlich habe ich darüber auch in meinem Podcast "Im Hier und Morgen" berichtet. Was wichtig ist: Nach 16 Jahren konservativ geführter Politik freue ich mich unabhängig von der politischen Färbung auf eine progressive Regierung - wir brauchen mehr Veränderung. Denn was die Merkel-Ära auszeichnet, ist einerseits eine herzlichere und gar nicht mal so CDU-typische Kanzlerschaft des "wir schaffen das". Andererseits hat die Politik der kleinen Schritte ehrlicherweise vor allem verwaltet, statt zu gestalten; am Vergangenen festgehalten, statt sich Neuem zu öffnen; die Wogen im Äußeren geglättet, statt eigene Werte zu vertreten. Besonders in der Energie-, Sozial- und Wirtschaftspolitik hat sie bestehende Ungerechtigkeiten und Anachronismen verhärtet, statt sie aufzulösen.
Die Ampel-Regierung versteht sich im Kontrast zur CDU-Ära als Koalition des Aufbruchs. Viele auch strittige Punkte zwischen den einzelnen Parteien wurden erstaunlich schnell und konstruktiv gelöst; das könnte daran liegen, dass die FDP einfach mal wieder mitregieren wollte und somit viele Aspekte abgenickt hat. Was viele erstaunt hat, ist der scheinbare Triumpf der Freidemokraten, die Leitung des Verkehrsministeriums erlangt zu haben; für mich ein kluger Schachzug der Grünen, die ja wissen, dass Verkehr zwar in der Außenwahrnehmung ein wichtiges Ökothema ist, in Wirklichkeit aber Industrie und Ernährung die Hauptemissionsursachen sind. Meine Highlights sind der deutliche Anstieg des Mindestlohns, Bürokratieabbau in der Verwaltung, Neuordnung der Subventionspolitik insbesondere im Landwirtschaftssektor, Kohleausstieg bis 2030 und verpflichtende energetische Gebäudesanierung zum selben Datum. Selbstständigkeit soll stärker gefördert werden, Bildung stärker unabhängig vom sozialen Hintergrund und vor allem digitaler, Renten steigen und vieles mehr. Wenn die kommenden vier Jahre vernünftig genutzt werden sollen, dürfte schon in 2022 vieles auf den Weg gebracht werden. Ich bin gespannt, wie sich die Union positionieren wird, wie häufig Abstimmungen gemeinsam mit der AfD oder der Linken geschehen müssen!
Die politische Landschaft muss sich auf neue Gegebenheiten einstellen. Manche erwarten sogar das Aufbrechen der klassischen links-rechts-grün-Dimension, zumal über 40 zugelassene Parteien andere und teils nur partikulare Interessen vertreten - aber nicht im Parlament vertreten sind. Das Wahlrecht könnte eine Reform vertragen. Vielleicht schiebt die Ampel ja auch ein solches Vorhaben an? Wir werden sehen. Klar ist, dass die Welt komplexer und schneller geworden ist, seit die Bundesrepublik gegründet wurde. Das ist erstmal weder gut noch schlecht, jedoch muss man darauf reagieren, wahre Resilienz üben, Zukünftebildung (Futures Literacy) vorantreiben und Reibungen aushalten.
High-Tech-Trends in 2022
Kryptowährungen wie der Bitcoin , Ethereum und andere "Altcoins" werden weiter im Wert zunehmen. Das war seit deren Erfindung Ende der 2000er Jahre bislang konstant so und doch beäugen viele diese Entwicklung eher skeptisch. Gegen Ende des Jahres 2022 werden sich dann wieder alle, die immer noch keine haben, ärgern. Aber dann ist ja wieder ein Jahr rum und man weiß ja nicht, ob es sich jetzt denn nun noch lohnt. Ich wäre da skeptisch, die größten Kursgewinne dürften im Laufe des Jahres 2022 zu verbuchen sein, doch wenn eine kritische Masse "in krypto macht", ist es vorbei und langweilig. Alle Jahre wieder halt. Ein benachbartes Thema sind die Non-Fungible Tokens (NFT), die weiterhin die Digitalwelt erobern. Wer mit dem Begriff NFTs noch nichts anfangen kann und trotzdem etwas digital unterwegs ist, sollte sich damit mal beschäftigen. Bei Medium gibt’s einen netten Artikel, wie NFTs Netflix und Amazon Prime angreifen könnten.
Das Web 3.0 und das Metaversum sind im Anmarsch, werden aber zurecht von einigen Tech-Pionieren als vollkommen überschätzt dargestellt. Ich denke aber schon, dass in den nächsten Monaten und Jahren immer mehr Menschen immer mehr Zeit in der virtuellen Zweitwelt verbringen könnten, dort Geschäfte treiben, Geld verdienen und ausgeben. Einige werden vielleicht ihre Wohnung überhaupt nicht mehr verlassen, soblad die VR-Headsets und Matrixsuits ihnen eine virtuelle Welt so gut vorkaugeln, dass sich das Aufstehen nicht mehr lohnt. Sie ernähren sich von Pulver oder direkt intravenös, sind im Prinzip wie Palliativpatienten gut umsorgt und doch abwesend. Auf der anderen Seite der Skala dezentralisiert sich die Plattformökonomie der letzten Jahre zunehmend. Direkterer Tauschhandel, freiere Informationsströme, demokratischere Strukturen schaffen so den Sprung aus der Schmuddelecke im Deep und Dark Web. Wäre es nicht schön, wenn die Strafverfolgungsbehörden auch den Sprung ins 21. Jahrhundert schaffen und Cyber-Kriminalität endlich wirksam bekämpfen würden? Aber das bleibt 2022 unter Garantie noch ein Wunschtraum. Allerdings wäre es eine relevante Erwartung eines FDP-geführten Justizministeriums, die sich ja so digital und modern gibt?
Klar, künstliche Intelligenz ist weiter auf dem Vormarsch. Das ist nichts Neues, durchdringt aber endlich stärker auch die deutschsprachige Wirtschaft und Gesellschaft. Öffentliche Verwaltung natürlich noch nicht so sehr. Der oben erwähnte Band "Arbeitswelt und KI 2030" möchte genau das ändern und es gibt zahlreiche andere Aktivitäten (ja, auch staatliche), die den zögernden Organisationen helfen möchten. Dass man vor der Technologie, die ihren Namen völlig zu Unrecht trägt, keine Angst haben braucht, beschreibe ich zum Beispiel in dem Beitrag über "German Angst" gemeinsam mit Dr. Michaela Regneri, den wir auch in einer Podcast-Episode kommentiert haben. Die Transformation geschieht aus Vogelperspektive natürlich auch von selbst, doch ohne Starthilfe wird es zum größten Massensterben von Unternehmen führen. Es scheint unausweichlich, dass aufgrund fehlender Digitalisierung, antiquierter Unternehmensorganisation und schlechter Vorbereitung auf Demografie und Klimawandel ein nennenswerter Teil der Unternehmen die 2020er Jahre nicht überleben wird.
Da haben wir noch nicht von Quantencomputern und deren Anwendungen gesprochen, immerhin hat die Fraunhofer-Gesellschaft ja nun Zugriff auf einen IBM-QC und die Bundesregierung fördert den Aufbau eines eigenen Geräts. Davon hat der Mittelstand in diesem Jahrzehnt zwar nichts mehr, doch einige Produkte und Lösungen werden zeitnah, vielleicht schon 2022, auf den Markt kommen, die nur noch auf Basis eines Quantencomputers errechnet, ver- oder entschlüsselt werden können. Noch weniger anwendungsnah klingt die Entwicklung der Xenobots, also Roboter mit lebendigen Zellen, die beispielsweise auf die Reinigung der Ozeane oder Entschlackung der menschlichen Blutbahnen programmiert werden können und dann "sterben".
Die aktuelle medizinische Revolution ist im Labor weitgehend abgeschlossen und wir profitieren ja schon in hohem Maße von den Vorzügen künstlicher Intelligenz und neuartiger Gentechnologie. So schnell hat es eine Innovation noch nie von der Forschung in die Praxis geschafft, aber irgendetwas Gutes muss Covid19 ja auch haben. Nächstes Jahr werden wir immer mehr Anwendungen auch in der Breite sehen, darunter vielleicht neue Individualtherapien für schwere Krebsfälle oder Diabetes; bessere Früherkennung von schweren Krankheiten in besonderen Arztpraxen und Kliniken; personalisierte Arzneimittel aus neuen Apotheken. Das muss natürlich auch erlaubt sein, ich frage meine Krankenkassen ja regelmäßig, wann sie mir auf Grundlage meiner Genomsequenzierungen individuelle Angebote macht - dauert nocht...
Im Energiesektor bahnt sich seit Längerem eine Renaissance der Kernkraft an. Einerseits sollen die Kraftwerde sehr viel kleiner sein, andererseits nicht nur auf Kernspaltung, sondern Kernfusion basieren. Als ich in der siebten Klasse einen Vortrag darüber hielt, tadelte mich mein Physiklehrer Herr Kruse, dass die Idee zwar nett klinge, aber für immer eine Vision bleibe. Hoffentlich kann ich mich nächstes Jahr bei ihm melden und widerlegen, denn vieles deutet darauf hin, dass 2021 die wichtigsten Durchbrüche erzielt wurden, um ein Plasma zu stabilisieren und in wenigen Jahren tatsächlich ähnlich wie in der Sonne nahezu endlos viel Energie zu erzeugen. Seit Google sich mit Bill Gates zusammengetan hat und viele Milliarden US-Dollar in die Technologie investiert, sehe ich alle Anzeichen auf eine Revolution der Energiebranche. Politisch heikel, technologisch aber vielleicht derdie letzte Bedingung für eine neue Stufe der Zivilisation.
Diese Auflistung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Unter High-Tech oder Bleeding-Edge-Tech versteht jede:r etwas anderes. Vielleicht kommen hier fehlende Themen ja auch mal in meinem Podcast oder Newsletter; ich bin ja auch immer offen für Anfragen und Diskussionen.
Mein privater Rückblick auf 2021: Auf und Ab!
Für viele war 2021 ein Jahr der Turbulenzen, so auch für mich. Es begann mit einigen guten Vorsätzen, unter anderem wollte ich mich ernsthaft auf den großen Hamburg Triathlon - immerhin der größte seiner Art weltweit - vorbereiten. Also ging ich Anfang Januar noch häufiger als sonst joggen, was in einer recht winterlich-vermatschten Umgebung natürlich riskant ist. Und so dauerte es nicht lang, bis ich mir beim Training im Park beide Knie verletzte. Genauer gesagt, waren beide Menisken angerissen. Aua. Da aber zu der Zeit dank der Corona-Shutdowns ohnehin nicht viele Reisen angesetzt waren, konnte ich mich ganz gut zuhause kurieren.
Im Frühjahr entspannten sich die Covid-Inzidenzen wieder, was mir auch wieder mehr Reisetätigkeit bescherte. So war ich bei tollen Kunden unterwegs, sprach öfter als sonst über Resilienz und habe unter anderem der Filmindustrie vorgerechnet, wann schauspielerfreie Filmproduktionen machbar sein werden. Dabei kam mir auch eine eigene Idee für eine Science-Fiction-Produktion, welche seitdem verfolgt wird - ist aber noch nicht spruchreif.
Nach ein paar Wochen Schonung und neuen Einlagen in den Schuhen habe ich mich dann auf das Fahrrad- und bald auch Schwimmtraining konzentriert. Schwimmen lief in der Leipziger Seenlandschaft problemlos, doch der nächste große Rückschlag geschah im Juli beim Radeln. Ich war gerade im meinem RedBull-Rennrad (R.I.P.) rund um Leipzig unterwegs und fuhr wieder von Westen über Plagwitz in die Stadt, eine vertraute Strecke. Das dachte sich wohl auch eine Autofahrerin, die beim Abbiegen nicht so genau hinsah und mich beim Anfahren vom Sattel riss. Ich war einige Minuten bewusstlos und als ich wieder zu mir kam, war mein erster Reflex, meine Hände und Füße zu bewegen - erfolgreich! Erleichterung! Alles andere war erstmal sekundär. Alles andere war: Schlüsselbeinbruch, mehrere Rippenprellungen, Hämatome und Platzwunden, ein abgebrochener Zahn, ein eingerissenes Ohr und natürlich ein leichtes Schädel-Hirn-Trauma. Und natürlich die Tatsache, dass der Traum vom Triathlon aus war. Zwei Wochen später wurde ich dann entgegen einer Ersteinschätzung doch operiert und bekam eine Titanplatte in die Schulter implantiert, die dort nun für zwei Jahre wohnen wird. Ziemlich unangenehm alles, aber hey: es hätte schlimmer kommen können.
Am 31. Juli war dann noch eine ganz besondere Frist: Die Abgabe des Manuskripts für den Band "Arbeitswelt und KI 2030", den ich gemeinsam mit Inka Knappertsbusch bei Springer herausgebe. Inzwischen ist das Buch, das 41 Beiträge von 78 renommierten Expert:innen aus Forschung und Wirtschaft enthält, auch verfügbar und kann beispielsweise bei Amazon oder Buch7 oder Springer direkt bestellt werden. Aber zurück zum Thema: meinen eigenen Beitrag für den Band sowie die letzten Korrekturen habe ich in einem Krankenhausbett im Leipziger Uniklinikum unter recht starken Schmerzen finalisiert - wenn das mal kein Einsatz mit Herzblut ist! Aber so ist das Leben der Selbstständigen eben. Wenn es eine Frist gibt, wird die auch ernst genommen!
Zwei Wochen nach der Entlassung aus dem Krankenhaus stand dann wiederum ein lebensveränderndes Ereignis an: Am 13. August habe ich die Liebe meines Lebens geheiratet! Unser Standesamt kennen einige vielleicht aus dem Fernsehen, da dort die meisten Episoden von "Hochzeit auf den ersten Blick" ihr Finale erlebten. Wir kannten uns aber schon ein bisschen länger... Einen Tag danach konnten wir dann sogar mit all unseren Freunden und Verwandten in tollen Leipziger Locations feiern (>90% geimpft, alle getestet). Zwei Tage pure Glücksgefühle, auch wenn der Hochzeitstanz und die vielen Umarmungen der Wundheilung meiner Schulter nicht unbedingt zuträglich waren.
Schließlich endete das Jahr mit einer traurigen Wendung. Mein Vater ist Anfang September im Alter von 87 Jahren zum letzten Mal eingeschlafen. Wer mir schon länger folgt, weiß, dass ich ihn immer genannt habe, wenn es um die Frage ging, wie ich zur Zukunftsforschung gekommen bin. Wir hatten ein sehr gutes Vater-Sohn-Verhältnis und er hat mich auch in den letzten Jahren immer noch geprägt. In einem Buch namens "Papa, erzähl mal", das ich ihm zum 80. Geburtstag geschenkt und mir ausgefüllt zurückgewünscht hatte, schrieb er:
Sein Leben war für einen Jahrgang 1934 äußerst abwechslungsreich und in der ersten Hälfte auch reiseintensiv. In der zweiten kamen dann Selbstständigkeit und mein Bruder und ich dazu sowie schließlich eine ruhige Rentenzeit. Sein Abschied kam nicht vollkommen unerwartet, ging jedoch insgesamt relativ schnell; besonders dankbar bin ich dafür, dass er sich noch von seinem engsten Kreis verabschieden konnte, bevor wir seine Asche in einem Friedwald in der Nähe meiner Geburtsstadt Itzehoe beisetzen konnten.
Fazit: Alles anders, alles gleich
Auch das neue Jahr 2022 wird sich vor allem dadurch auszeichnen, dass vieles anders wird als erwartet. Als Zukunftsforscher kenne ich natürlich viele Entwicklungspfade, sonst bräuchte es ja keine Zukunftsforschung und Foresight. Als ursprünglicher Soziologe und Politik-/Verwaltungswissenschafler habe ich jedoch auch immer die Gesellschaft im Ganzen im Blick und stelle immer wieder fest, wie groß die Entfernung der Pioniere zu der stillen Masse ist. Es sollte nicht jede:r potenziell Raketenwissenschaftler:in werden können, doch ein Verständnis der wesentlichen Grundlagen der moderenen Gesellschaft wäre wichtig. Nur so begreifen Menschen Komplexität und Unplanbarkeit, nur so können sie echte von falschen Informationen unterscheiden, nur so ein zufriedenes und mündiges Leben führen. I have a dream...
Was sich ändert: Es stehen einige technologische Durchbrüche vor dem Beginn ihrer Kommerzialisierung; einige habe ich oben genannt. Worauf ich besonders gespannt bin, ist die Regionalisierung von Wertschöpfungsketten insbesondere in der Energiespeicher-/Batterieindustrie. Möglicherweise gelingt es Neuralink erstmals, Hirnimplantate für Menschen zum Einsatz zu bringen und einfache Gedanken an eine Maschine zu übertragen - der Startschuss für eine Wikipedia auf Gedankenabruf und damit die nächste Stufe des Transhumanismus. Es stehen fünf Landtagswahlen an: im (noch) Groko-Saarland, in (noch) Jamaika-Schleswig-Holstein, in (noch) schwarz-gelb-NRW und (noch) Groko-Niedersachsen. Wenn der Green New Deal ernsthaft umgesetzt wird, werden das Verbraucher:innen und Unternehmen deutlich zu spüren bekommen, nicht zuletzt durch die bereits begonnenen Umwälzungen an den internationalen Finanzmärkten in Richtung post-fossil. Dieser Drahtseilakt wird freilich nicht ohne Turbulenzen ablaufen, stellen Sie sich schon mal auf einen bunten Blumenstrauß von Wild Cards ein.
Was gleich bleibt: Wir leben in einer stabilen Demokratie, können uns auf die wesentlichen Pfeiler der Gesellschaft verlassen. Es droht weder der Zusammenbruch des Parlaments nach Weimarer Vorbild noch eine furchtbare Revolution der Querdenker. Die Preise steigen in fast allen Konsumbereichen und auf dem Weltmarkt, möglicherweise platzt die Immobilienblase nächstes Jahr, und klar, die Weltmächte sortieren sich gerade neu. Der Digitalisierungsschub durch die Pandemie wird anhalten und Automatisierung auch in akademische Berufe vordringen; es bleibt uns auch nichts anders übrig, da wir zu wenig Fachkräfte haben. Die Schwerkraft bleibt uns erhalten, die Klimakrise spitzt sich weiter zu und wir werden nicht müde, auf Risiken und Chancen hinzuweisen.
Doch was auf jeden Fall bleibt: Ich werde berichten, kommentieren und optimistisch nach vorn schauen. Irgendwer muss den Job ja erledigen.
Disclaimer
Dieser Beitrag ist eine gekürzte und alternative, aber verwandte Fassung des Linkedin-Artikels "2021/2022: Rück- und Ausblick vom Zukunftsforscher" und erscheint in ähnlicher Form als Episode am 30. Dezember 2021 in meinem Podcast "Im Hier und Morgen".
#03.06 Szenario: Der Wahlabend im Bundestagsspecial Im Hier und Morgen
Stell dir vor, es ist schon der 26.09.2021 - der Tag der Bundestagswahl - und die ersten Hochrechnungen liegen bereits vor. Wer hat die Wahl gewonnen, welche Koalitionen sind wahrscheinlich? Was haben meine Gäste der letzten vier Episoden dazu gesagt? Wenige Tage vor der Wahl ist das Rennen noch immer spannend. Daher ganz kurz und knackig eine Zusammenfassung der Erkenntnisse und ein kurzer Ausblick.
Fun Fact: Diese Episode habe ich am 10.09.2021 aufgezeichnet, da ich zum Sendestart im Urlaub bin. Hoffentlich hat sich in der Zwischenzeit nicht allzu viel geändert ;-)
Die DIW-Studie zur Klimaneutralität der Parteien.
Die Linkedin-Profile meiner vier Gäste der zurückliegenden Folgen:
Ingmar Mundt, Techniksoziologie in Episode #032
Thomas Kastell, Agile Coach in Episode #033
Heiko Kretschmer, Politikberater in Episode #034
Alu Kitzerow, Familienexpertin in Episode #035
Und die dazugehörigen Episoden hier im Podcast kann ich natürlich nur ans Herz legen!
Der Themenüberblick:
00:00:00 DIE Wahl der Multikrisen und Extremparteien: Corona, Afghanistan, Klimakrise, Digitalisierung - Unzufriedenheit.
00:04:03 Szenario am 26.09.2021, 18:30 Uhr - die ersten Hochrechnungen liegen vor!
00:06:05 Prognosen können auch daneben liegen!
00:07:51 Sonderierungs- und Koalitionsverhandlungen ab dem 27.09.2021 - unter Leitung von Olaf Scholz
00:09:31 R2G (SPD-Linke-GRÜNE)?
00:13:16 Ampel (SPD-FDP-GRÜNE)?
00:14:48 Jamaika / schwarze Ampel / Schwampel (Union-FDP-GRÜNE)?
00:15:56 Ganz andere Koalition?
00:17:07 Transparenzhinweis
00:17:45 Outro: Der Countdown läuft!
Teaser
Abspann
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Wir sprachen am 6. September, diese Episode wird erstveröffentlicht am 9. September.
Heikos Foto: (c) LotteOstermann
#03.05 Alu Kitzerow im Bundestagsspecial: "Das kleinere Übel" Im Hier und Morgen
Alu (Anne-Luise) Kitzerow ist Familien- und Eltern-Bloggerin, Autorin und dreifache Mutter. Wir unterhielten uns mit Blick auf die Bundestagswahl über die dringenden Probleme der Familien in Deutschland, warum nur wenige Parteien ernsthaft Lösungen anbieten und natürlich, wen man als Familie eigentlich wählen kann.
Alu ist gelernte Buchhändlerin, diplomierte Kulturwissenschaftlerin und hat - wie ich - den Masterstudiengang Zukunftsforschung absolviert. Außerdem arbeitete sie viele Jahre im Bundesministerium für Arbeit und Soziales und kennt die Tücken der Ministerialbürokratie wie keine andere.
Alu bei Twitter: https://twitter.com/aluberlin
Ihr Blog "Große Köpfe": https://www.grossekoepfe.de
Ihr Podcast "kinderbuchtheke": https://www.podcast.de/podcast/647535/kinderbuchtheke
"Blog Familia", das angesprochene Elternbloggernetzwerk: https://blogfamilia.de/
Zukunftsforscherin.de findest du auch ohne URL - oder hier im Podcast mit Katja
Wahltraut, der diverse Wahl-o-Mat: https://wahltraut.de/matowahl
Progresso-Maschine, das progressive Wahltool: https://www.progressomaschine.org/
Enkelkinderbriefe: https://www.enkelkinderbriefe.de/
Alu Kitzerow wurde 1982 in Berlin geboren. Nach einer Lehre zur Buchhändlerin und einem Studium der Kulturarbeit begann sie im Internet aktiv zu werden und schrieb unter anderem für ihr Blog www.grossekoepfe.de, Edition F, Brigitte MOM uvm. Sie gründete den Verein Blogfamilia e.V., der sich für politische Belange von Familien in Deutschland einsetzte und ist die Organisatorin der größten Elternbloggerkonferenz im DACH Raum. Seit ihrem Masterabschluss in Zukunftsforschung widmet sie sich verstärkt den Themen der Sichtbarkeit von Frauen und Familien und ist eine der Gründerinnen von www.zukunftsforscherin.de. Mit ihren drei Kindern und ihrem Mann lebt sie am Berliner Stadtrand und schreibt in ihrer Freizeit Bücher.
Foto: Katja Hentschel.
Der Themenüberblick:
00:00:00 Intro
00:01:11 Alu Kitzerow stellt sich und ihre Projekte vor
00:03:01 Wie geht es Familien und Eltern in der Coronapandemie?
00:05:13 Wie gehen die Parteien bei der Bundestagswahl mit den Familienproblemen um?
00:08:45 Wie gelingt intergenerationales Wählen - und die Erziehung zu mündigen Menschen?
00:15:56 UN-Kinderrechtskonvention: Warum?
00:18:28 Warum werden Kinderrechte nicht in der Politik vertreten?
00:20:08 Alternativen zum Wahl-O-Mat für Familien
00:22:52 Was ist "Care-Arbeit"? Zwei Stimmen für Frauen!
00:25:16 Die große Werte-Transformation - aber wen wählen Familen denn dann?
00:28:26 Mehr Eltern in die Politik! Oder Digitalisierung?
00:30:22 Was ist deine dringenste Bitte an die/den zukünftige Bundeskanzler:in?
Teaser
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Wir sprachen am 7. September, diese Episode wird erstveröffentlicht am 16. September.
Heikos Foto: (c) Katja Hentschel
#03.04 Renommierter Politikberater Heiko Kretschmer im Bundestagsspecial Im Hier und Morgen
Heiko Kretschmer ist Geschäftsführer der Berliner Beratungsfirma Johannsen + Kretschmer (J+K) und seit vielen Jahren erfolgreicher Politik- und CSR-Berater. Außerdem setzt er sich seit vielen Jahren für mehr Transparenz in der Politik sowie faire Kommunikation in der PR ein. Seine kürzliche Analyse zum künftigen Bundestag schlug Wellen in allen Medien, denn sie titelte: "Armin Laschet verpasst Einzug in den Bundestag". Meine berufliche Karriere begann übrigens als Praktikant und Werkstudent von Heiko!
Was Heiko außerdem von der Bundestagswahl erwartet, wer gute Chancen aufs Kanzleramt hat und vieles mehr diskutierten wir in dieser Episode "Im Hier und Morgen".
Heikos Linkedin-Profil: https://www.linkedin.com/in/heiko-kretschmer-7b30829/
Die Website von J+K: https://www.jk-kom.de/startseite/aktuelles/
Transparenzhinweis: J+K berät zwar unterschiedliche demokratische Parteien, Heiko selbst ist in Gegenwart und Vergangenheit in einigen SPD(-nahen) Positionen tätig (gewesen).
Der Themenüberblick:
00:00:00 Intro
00:02:00 Heiko Kretschmer stellt sich vor
00:02:33 Die jüngste Analyse von J+K über die wahrscheinlichen Bundestagsmandate - der größte Bundestag aller Zeiten!
00:06:55 Ist ein größerer Bundestag besser oder schlechter?
00:09:25 Kommen mehr Parteien neu ins Parlament? Was wird aus den "Volksparteien"?
00:19:45 Laschet schafft's nicht in den Bundestag! Warum?
00:23:22 Wie weiblich wird der neue Bundestag?
00:27:29 Wer gewinnt die Wahl - und welche Regierungskoalition folgt daraus?
00:31:16 Warum ist rot-rot-grün so unwahrscheinlich?
00:37:48 Angela Merkel könnte Helmut Kohl als amtslängster Kanzler:in ablösen!
00:41:56 Wählen gehen und am 26.09. abends weiterspekulieren - oder doch erst am Montag? [Briefwahl]
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Wir sprachen am 6. September, diese Episode wird erstveröffentlicht am 9. September.
Heikos Foto: (c) LotteOstermann
#03.03 Agile Coach über die Wahlen: Thomas Kastell im Bundestagsspecial Im Hier und Morgen
Thomas Kastell ist Agile Coach und berät Organisationen darin, sich effizienter und angemessen an die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu organisieren. In der ersten Hälfte geht's genau darum - und in der zweiten übertragen wir diese Erkenntnisse aufs politische System der Bundesrepublik Deutschland.
Thomas ist außerdem studierter Politikwissenschaftler, digitaler Nomade mit unterschiedlichen, internationalen Stationen und ehemaliger Kollege von mir aus der Zeit bei 2b AHEAD in Leipzig. Wir unterhielten uns in meinem Wohnzimmer bei einem Gläschen Wein.
Der Themenüberblick:
00:00:00 Intro: Thomas Kastell im Bundestagswahlspecial "Im Hier und Morgen"
00:01:21 Thomas Kastell: Agile Coach, der Unternehmen demokratisiert und die Systemebene berücksichtigt
00:12:23 Was unterscheidet dauerhaft von einmalig innovativen Unternehmen? VW vs. Apple - das Prinzip der Planung ist Vergangenheit
00:20:07 60-100% Gewinnsteigerung durch Agilität - trotzdem sind 99% der Unternehmen konventionell organisiert; 99% der Menschen kennen nichts anderes. Wie kann das sein!?
00:24:31 Call to action: Was müssen interessierte Unternehmer:innen jetzt tun, um agil zu werden? Spoiler: Menschen haben keinen Widerstand gegen Veränderung!
00:28:16 Was hält der Experte vom Buzzword "Purpose" (Sinn)? Das Menschenbild der Geschäftsleitung ist falsch!
00:35:04 In 5-6 Monaten zur agilen Organisation - wenn der Wille da ist. Und wie funktioniert das?
00:48:15 Das erste Glas Wein wird eingeschenkt.
00:53:19 Agilität übertragen auf das politische und administrative System der Bundesrepublik Deutschland
00:58:35 Repräsentativität vs. Basisdemokratie - Facebook killed the election star
01:01:51 Bildungssystem: Lehrpläne und Noten sind sinnlos
01:08:42 Das Rezept gegen Querdenker, Corona- oder Klimawandelleugner ist nicht: Fakten!
01:16:20 Corona, West- und Ostdeutschland - gibt es einen Zusammenhang zwischen deutscher Teilung und AfD- oder Coronaleugner-Sympathie?
01:23:06 Resilienz: Was können wir aus der Biologie lernen?!
01:31:34 Zielgerade! Wer gewinnt die Bundestagswahl?
01:35:17 … das zweite Glas Wein passend zu Joe Biden …
01:35:57 Der Tipp!
01:39:35 Es war noch nie so ungewiss! Oder war das in den 1950er Jahren schon mal ähnlich?
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Das Gespräch haben wir am 31. August 2021 geführt.
#03.02 Zukunft und Politik: Ingmar Mundt im Bundestagsspecial Im Hier und Morgen
Der erste Gast in der Sonderserie zur Bundestagswahl ist Ingmar Mundt. Wir unterhielten uns über die Positionen der Parteien, welche Themen den Wahlkampf besonders in der heißen Phase dominieren werden - und zum Schluss gibt Ingmar einen Tipp ab, wer Kanzler:in wird und welche Koalition daraus entstehen könnte. Wer hätte das gedacht?
Ingmar Mundt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Soziologie der Universität Passau mit dem Schwerpunkt auf Techniksoziologie und nachhaltige Entwicklung. Neben Volkswirtschaftslehre und Soziologie hat er auch den Masterstudiengang Zukunftsforschung studiert, weshalb sich unser Gespräch problemlos in den Geist dieses Podcasts einreiht. Ingmar twittert außerdem viel und spannende Dinge: https://twitter.com/zukunftsheld
Letzte Ankündigung: "Im Hier und Morgen" hat ein neues Logo! Ich freue mich wie immer über Feedback zur Episode, aber dieses Mal natürlich auch übers Logo ;-)
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Das Gespräch haben wir am 20. August 2021 geführt.
Wie wird der Corona-Sommer 2021?
Ausnahmezustand seit einem Jahr. Alle Welt hofft auf Lockerungen, Aufatmen, Impfungen, zurück zu Normal. Das System steht auf dem Prüfstand - wie geht es weiter?
Nach dem Corona-Winter ist vor dem Corona-Winter
Während ich diese Zeilen schreibe, ist noch Winter - Ende Februar 2021. Falls Sie das hier deutlich später lesen, zur Erinnerung: Klimawandel sei Dank hatten wir im Februar europaweit eine heftige Kältewelle, ausgelöst durch verirrte Polarwirbel - gefolgt von den wärmsten Februartagen seit Beginn der Wetteraufzeichnungen (dazu habe ich eine Podcast-Episode aufgenommen).
Nun, da der Frühling den Fuß in der Tür hat, hoffen viele auf Lockerungen der Pandemieauflagen. Doch sie werden leider weitere Enttäuschungen hinnehmen müssen; Virologen sind sich einig, dass insbesondere die neuen, mutierten Varianten des Sars-Cov-2-Virus (vor allem B.1.1.7 und B.1.351) noch ansteckender sind als die ursprüngliche Virusform. Da wir alle im letzten Jahr viel über exponentielle Entwicklungen gelernt haben, können wir uns mit einfachen Mitteln selbst ausrechnen, was das für die Verbreitung und Ansteckungsgefahr bedeutet: Die Infektionszahlen (und damit auch die Inzidenzwerte, also Infektionen pro 100.000 Einwohner:innen) steigen noch schneller, wodurch kritische Werte überschritten werden und Einschränkungen des öffentlichen Lebens bestehen bleiben oder sogar verschärft werden. Ob dadurch auch die Sterberate steigt oder sich das Virus abschwächt, wird derzeit diskutiert. Dennoch: wir müssen aktuell davon ausgehen, dass Corona uns noch eine Weile begleiten wird.
Nun stehen wir wieder mitten in der Zwickmühle. Außer Stillstand scheint es keine Option zu geben - und das ist auch der Punkt, an dem staatliche Maßnahmen zu Recht kritisiert werden. Inzwischen liegen jedoch auch ausreichend Erkenntnisse über verschiedene nationale Strategien vor; der "schwedische Weg" ist gescheitert, komplette Verleugnung (der weißrussische oder tansanische Weg) ebenso. Dann wäre da noch die Wahlkampfvariante aus den USA, wo bislang am meisten Menschen an den Folgen der Covid-19-Erkrankung gestorben sind - ein tragisches Armutszeugnis für die mächtigste Nation der Welt. Dann wäre schließlich ein letzter Hardliner-Weg zu erwähnen, dem viele nicht so Recht trauen: China hat mit der bekannten diktatorischen Härte und harten Quarantäne-Auflagen für sämtliche Einreisende angeblich das Virus ausgerottet. Aus irgendwelchen Gründen glauben wir diesen Meldungen weniger als denen aus Ozeanien, denn auch in Neuseeland und Australien (zusammen ca. 12 Millionen Einwohner) gibt es nahezu keine Fälle mehr.
Deutschland hat sich für eine der sozialsten und gleichzeitig teuersten Varianten entschieden. Und warum? Weil wir können. Und weil die Bundestagswahlen in diesem Jahr anstehen.
Corona und Bundestagswahlen
Was haben nun die Wahlen mit der deutschen Corona-Strategie zu tun? Das ist eigentlich ganz einfach.
Welche Menschen sind durch Corona am stärksten gefährdet? Faustregel: Je älter, desto schlimmer. Genauer gibt es einen signifikanten Anstieg der schweren Krankheitsverläufe ab einem Alter von 50 Jahren. Ein Blick auf die Bevölkerungspyramide verrät, warum diese Menschen nun besonders geschützt werden: Weil sie in der Überzahl sind. 45% der Bevölkerung in Deutschland sind 50+ Jahre alt, 16% unter 18 Jahren, bleiben noch 39% für die 18- bis 49-Jährigen. Und wer wählt wie? Laut Bundeswahlleiter bewahrheitet sich auch hier eine einfache Faustregel: Je älter, desto konservativer.* So ist es die offensichtlich alternativlose Option, insbesondere die ältere Bevölkerung zu schützen.
Verstehen Sie mich nicht falsch, aus (neo-)humanistischer Perspektive finde ich es richtig, Menschenleben zu schützen - unabhängig vom Alter, Herkunft, sexueller oder kultureller Identität etc. Die Wahl der Corona-Strategie in Deutschland folgt aber leider nur bedingt humanistischen Idealen, sondern einem klaren machtpolitischen Kalkül. Politikberatungen werden im Hinblick auf die bevorstehende Bundestagswahl im September sehr genau darauf geachtet haben, welche soziodemografischen Schnitte sich mit und ohne Corona ergeben. Das Alter (und damit das statistische Risiko einer schweren Erkrankung) ist nach wie vor eine sehr einfache Linie für den Wahlkampf.
Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir letzten Frühling einen harten Lockdown für vier Wochen durchgeführt. Doch das war natürlich nicht vermittelbar, da die Menschen mehr Angst vor einer Diktatur haben als dem Virus. Und damit sind wir beim nächsten Abschnitt.
Querdenker töten
Das Wortspiel habe ich von Die PARTEI kopiert. Natürlich soll die Überschrift keine Handlungsempfehlung sein, ich hoffe, Sie ergänzen sie im Kopf mit dem Akkusativobjekt: "Menschen". Warum, löse ich im letzten Absatz dieses Abschnitts auf.
Verschwörungsmythen gehören zu den Menschen wie die Gute-Nacht-Geschichte. Letztere hat einen pädagogischen Zweck und wird in fast allen Kulturen praktiziert. Erstere kann unterhaltsam sein, solange sie klar als Fiktion gilt oder tatsächliche Zusammenhänge aufdeckt - wenn nicht, ist sie mitunter gefährlich. Offensichtlich hat eine ganze Generation zu viel Akte X geschaut, während sie den Geschichtsunterricht geschwänzt hat. Über Jana aus Kassel wurde schon viel gesagt und geschrieben. Kurz: Sie ist als denkwürdiges Beispiel in die Mediengeschichte eingegangen, was alles falsch laufen kann und warum wir immer noch nicht genug für die Aufarbeitung unserer Geschichte tun (falls Sie das verpasst haben).
Ich habe mir viel Mühe gegeben, die "Querdenken-Bewegung" zu verstehen, deren Ängste und persönlichen Motive. Ich habe mich in Social Media auf lange Diskussionen eingelassen, viel Zeit und noch mehr Nerven investiert. Dabei habe ich immer wieder gefragt, woher die Rage kommt und vor allem, welche Quellen zu den teilweise haarsträubenden Behauptungen herangezogen wurden. Letztlich bin ich zu einer sehr einfachen und gleichsam traurigen Erkenntnis gelangt: Die gemeinsame Schnittmenge der Querdenker ist eine bedingungslose Ablehnung wissenschaftlicher Methode oder Rationalität. Die einzigen Argumente, die ich den Diskussionen und Aufnahmen von Demonstrationen entnehmen konnte, sind individueller und emotionaler Natur. Das macht sie nicht verboten, aber man muss sie als solche kennzeichnen.
Und damit wären wir wieder beim Thema Schwarmdummheit (auch dazu gibt's eine Podcast-Episode). Wenn Menschen sich gehört fühlen, folgen sie oft blind dem Anführer - so wie A. Hildmann oder A. Hitler (wobei der Vergleich zum Glück gewaltig hinkt). "I want to believe", so das Motto aus der Serie Akte X. Und tatsächlich sind wir so gut darin, dass der Glaube wirklich manchmal Berge versetzt - wenn wir nur konsequent genug an etwas glauben, finden wir plötzlich überall Belege dafür. Querdenker finden vielfach Belege für die wirren Behauptungen - in Blogs, auf einigen Youtube- oder Tiktok-Kanälen, von Nachbar Schneider. Das individuelle Weltbild wird damit verdichtet und alles ergibt einen gruseligen Sinn. Leider sind sie dann oft resistent gegen eine kritische Infragestellung ihrer Annahmen; also wirklich wissenschaftliches Vorgehen. Es ist nicht immer gut, der Masse zu glauben, aber wie wahrscheinlich ist es, dass >90% der unabhängigen Forschungsinstitute der Welt und daran angegliedert Millionen erfahrener Wissenschaftler:innen sich irren und eine globale Verschwörung der Superreichen unterstützen? Und wie wahrscheinlich ist es, dass Nachbar Schneider einfach nur seiner allgemeinen Unzufriedenheit Ausdruck verleihen will, in Wirklichkeit aber keine Ahnung von Viren und Politik hat?
Die pandemischen Auswirkungen der Querdenken-Bewegung sind inzwischen erforscht: wie Forscher:innen des Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung Mannheim (ZEW) und der Humboldt-Universität zu Berlin Anfang Februar veröffentlichten, hatten die Querdenker-Demos einen erheblichen Anstieg der Inzidenz zur Folge. Heißt im Klartext: Querdenken-Demonstrationen haben Menschen getötet. Die fahrlässige Dummheit der Demonstrierenden ist das eine, das andere die Ohnmacht der staatlichen Gewalt - so hatten einige Gerichte (Judikative) Versammlungsverbote aufgehoben, Ansagen aus den Innenministerien und der Polizei (Exekutive) führten zu unklaren Befehlsketten, sodass schließlich Tausende ungehindert und ohne hinreichenden Infektionsschutz durch die Städte laufen konnten.
"Die Forschenden schätzen, dass bis Weihnachten zwischen 16.000 und 21.000 Covid-19-Infektionen hätten verhindert werden können, wenn diese beiden großen 'Querdenken'-Kundgebungen abgesagt worden wären" (ebd.). Bei einer Sterberate von ca. 3% heißt das, dass in diesem Zeitraum 480-630 Menschen durch Corona gestorben sind, weil Querdenker auf den Straßen ihre Freiheit gefeiert und anschließend Menschen in Bussen, Bahnen, Supermärkten und zu Hause angesteckt haben. Ich hoffe, ihr hattet Spaß. Es ist ruhiger um euch geworden, vermutlich (und das wünsche ich niemandem!) haben inzwischen viele von euch Angehörige oder Bekannte durch Corona verloren. Statistisch gesehen ist heute in ungefähr jedem achten sozialen Kreis ein Mensch in Deutschland an Covid-19 gestorben**. Bevor sich das Kind nicht selbst die Finger verbrannt hat, erkennt es auch nicht die generelle Gefahr des Feuers.
Corona: Neue Konfliktlinie der Gesellschaft
Corona spaltet die Nation(en). Und teilweise sogar Familien. Ob ich für oder gegen die Corona-Politik bin, kann sogar über meine berufliche Perspektive entscheiden. Wer bei Querdenker-Demos mitlief, wurde teilweise kurz darauf fristlos entlassen; und ich würde sagen, aus gutem Grund. Dass Familienangehörige sich zerstreiten, weil der eine an die Verschwörung glaubt, die andere mit ihren recherchierten Fakten aber auf Granit beißt, ist tragisch. Was das für den Zustand unserer Diskussionskultur aussagt, ist auf gesellschaftlicher Ebene verheerend.
Denn plötzlich ist es egal, was man bei der letzten Wahl angekreuzt hat - Corona ist endlich mal wieder eine neue Konfliktlinie, wie es sonst nur Atomkraft oder Kriege geschafft haben: ein Querschnitt durch die Gesellschaft. Plötzlich ergeben die altbekannten Kategorien links vs. rechts keinen Sinn mehr. Wenn Hippies, Impfgegner und Neonazis gemeinsam marschieren, lecken sich Sozialwissenschaftler:innen die Finger. Andere machen sich Sorgen, dass das, wovor die selbsternannten Aufgewachten oder Erleuchteten warnen, Wirklichkeit werden kann: eine Diktatur. Die Angst davor wiederum wird nicht selten befeuert durch fiktive (!) Romane wie der von Dirk Rossmann beschworenen Öko-Diktatur (Rezension über "Der neunte Arm des Oktopus" hier). Doch mit Ängsten kann man natürlich gut spielen und Menschen damit manipulieren; das wissen die Drahtzieher hinter Querdenken genauso gut wie Goebbels und Himmler. Besonders perfide: Sie unterstellen ihren Gegnern (der Regierung, dem Robert-Koch-Institut, dem globalen Finanzkapital und Bill Gates...) exakt ihre eigene Startegie. Das ist praktisch, denn so muss man sich keine Verschwörung überlegen. Angela Merkel und Jens Spahn seien also durch und durch böse, verbreiteten Lügen, um ... ja, um was eigentlich genau? Jedenfalls ist das alles falsch, glaubt man den Querdenkern. Mit diesem Narrativ bringen sie auf bizarre Art und Weise Menschen dazu, hinter der Bundesregierung und dem Staat an sich eine totalitäre Elite zu vermuten, welche wiederum eigentlich Drahtzieher der Querdenken-Bewegung sind. Genial und furchtbar zugleich.
Wer sich die Mühe macht und dem Gesetzgeber wirklich auf die Finger schaut, weiß, dass sowohl die Bundes- und Landesregierungen als auch die Parlamente selbst die größten Schwierigkeiten hatten mit den weitreichenden, oft sehr kurzfristig und teilweise nicht durch Abgeordnete ratizifierten Maßnahmen. Aber das ist es, was der Souverän im Krisenfall tut: er entscheidet, weil die Gefahr für seine Bürger:innen größer ist als deren Ermessens- und Handlungsspielraum. Als in den 1962 Jahren die große Sturmflut vor allem die Menschen in Hamburg unmittelbar bedrohte, hat wohl niemand Demonstrationen gegen die Flut, gegen Fake News über eine erfundene Bedrohung durch Sturm und Wassermassen bis in die erste Etage organisiert. Helmut Schmidt hat damals weitgehend durchregiert. Und das hat vielen Menschen das Leben gerettet, wenn auch nicht allen. Ich habe die Sturmflut selbst nicht miterlebt, doch ich frage mich wirklich, ob es uns heute einfach zu gut geht?
Nun kann man eine Flut besser einschätzen als ein Virus. Wir Menschen sind da etwas beschränkt, immerhin können wir Viren sinnlich nicht wahrnehmen - sie sind einfach zu klein. Bevor es so etwas wie Zivilisation gab, hat sich darüber hinaus niemand geschert, wenn Viren die Runde machten: wir saßen weniger kompakt aufeinander als heute, konnten den Viren damit weniger attraktive Fläche zum Austoben geben und ob Onkel Otto nun an einem Urvater von Sars, Malaria, Hunger oder einem Säbelzahntigerangriff starb, was für die Statistik am Ende auch egal. Deutlich war, dass diejenigen in Ottos Stamm, die sich von den Gefahrenquellen ferngehalten haben, überlebt haben. Die natürliche Auslese haben wir durch moderne Gesellschaftsverträge jedoch (zum Glück!) ausgehebelt. Viele Querdenker wissen vermutlich nichts vom Erbe der Aufklärung oder den ziemlich stabilen Institutionen der Gewaltenteilung, und sie wissen ihre Privilegien in einem reichen Land wie Deutschland nicht zu schätrzen. Sie denken lieber an kurzfristige Glückshormone denn ans große Ganze. Erstaunlich, dass wir es als sprechende Affen soweit bringen konnten.
Wie wird der Corona-Sommer 2021: Zurück zu Normal? Nie wieder.
Machen wir uns nichts vor: Die Pandemie hat uns einen Spiegel vorgehalten. Einige haben sie zu Aufopferung, Selbstquarantäne, Doppelbelastung geführt. Andere haben ihr wahres, demokratie- und wissenschaftsfeindliches Gesicht gezeigt. Und wie geht es jetzt weiter?
Viele fordern ein Zurück zu Normal. Doch das wird es nicht geben. Die Pandemie hat nicht nur die ganze Menschheit in eine kollektive Krisenerfahrung gestürzt, sondern auch das Versagen einiger Gesellschaftsbereiche offenbart. Trotz der Warnungen diverser Kommissionen und Risikoberichte waren die wenigsten Staaten hinreichend vorbereitet - wir dürfen nur hoffen, dass wir daraus lernen. Denn diese Pandemie wird nicht die letzte gewesen sein. Zwar haben hochrangige Funktionäre der Weltgesundheitsorganisation WHO angedeutet, dass der Scheitelpunkt der Pandemie bereits erreicht sein könnte, doch darauf würde ich noch nicht wetten. Bleiben wir eher beim durchschnittlich wahrscheinlichen Szenario, dass sich das Virus und seine Mutanten noch für etwa ein Jahr erfolgreich reproduzieren können (ich hoffe, ich liege falsch).
In der naheliegenden Zukunft, also im Jahr 2021 heißt das folgendes:
- das Impfgeschehen wird zwar voranschreiten, doch halte ich es für äußerst unwahrscheinlich, dass das Versprechen der Kanzlerin eingehalten werden kann. Eine Woche vor der Bundestagswahl soll idealerweise Herdenimmunität erreicht sein; überambitioniert, wenn Sie mich fragen.
- die Verteilung des Impfstoffs, und das ist gute und schlechte Nachricht zugleich, muss weltweit vorangetrieben werden. Der Teil der Geschichte fehlt im Großteil der Medienberichterstattung: wir sind nicht nur, aber auch deshalb so langsam, weil die Bundesregierung zumindest ein bisschen solidarisch handelt. Insbesondere die Unterstützung von Covax, dem Bündnis des globalen Nordens für die Unterstützung des globalen Südens in der Bereitstellung der Impfstoffe, dürfte noch zu einigen Nominierungen für Friedensnobelpreise führen.
- der Klimawandel ist nicht verschwunden - zwar gingen die CO2-Emissionen 2020 leicht zurück, jedoch sinkt dadurch natürlich nicht die CO2-Konzentration in der Atmosphäre. Die Polkappen und Permafrost in Grönland oder Sibirien ziehen sich weiter zurück, dadurch wird weniger Sonnenlicht reflektiert, der Klimawandel beschleunigt sich weiterhin. Nicht zuletzt durch den Wiedereintritt der USA zum Pariser Klimaabkommen ist die globale Marschrichtung klar: es wird mehr getan werden, um Emissionen zu reduzieren und alternative, umweltfreundlichere Wege zu finden, um unseren Lebensstandard aufrecht zu erhalten und den des globalen Südens anzugleichen. Keine leichte Übung. Konkret bedeutet das für den Sommer 2021: freuen Sie sich nicht zu früh, wenn Buchungsportale und Schnäppchenangebote zu (Fern-)Reisen locken wollen. Lesen Sie genau die Stornobedingungen, denn die Reisebschränkungen können und werden sich über Nacht ändern. Nicht gerade zugunsten der Reiselust. Viele erwarten nach dem kalten Winter einen sehr warmen Sommer - Urlaub würde ich nur im eigenen Bundesland planen, wenn überhaupt. Die großen Tourismusanbieter planen derweil auf Sparflamme, erwarten kein Zurück zu Normal, sondern dauerhaft geringere Reiseaufkommen - wer den längsten Atem hat, wird in zwei bis drei Jahren noch Reisen anbieten.
- die Innenstädte darben nach Wiederöffnung der Geschäfte. Die Staatshilfen konnten viele auch kleinere Ladeninhaber:innen bisher über Wasser halten, doch sie brauchen den Zustrom der Massen; die erhöhten Versandquoten retten höchstens eine schwarze Null. Es nützt nichts. Ich erwarte einen großen Ansturm auf alles, was in den letzten harten Lockdown-Wochen und -Monaten verboten war. Daraufhin wird die Inzidenz besonders mit den neuen Covid-Varianten nach oben schnellen und noch bevor Dr. Drosten und das RKI "Inzidenzwert über 150!" aussprechen können, ist es zu spät: die exponentielle Steigerung ist dann für ein paar weitere Wochen vorgezeichnet, wir müssen wieder schließen, auch Grenzen. Ja, die lahmarschige Bürokratie im Gesundheitswesen trägt eine Teilschuld daran - vor allem aber die Sturheit der Menschen.
- es wird eine teilweise Belebung des Veranstaltungssektors geben. Soweit zur guten Nachricht, die schlechte folgt sogleich: Eintritt nur mit (EU-)Impfpass oder tagesaktuellem, negativem Testergebnis. Aus meiner Sicht ein fairer Deal im Sinne der Gemeinschaft, für viele eine Zumutung. Viele Event-Agenturen, Produktionsfirmen, Messen oder Festival-Veranstalter sind jedoch vorsichtig und möchten nicht das Planungschaos von letztem Jahr wiederholen (warten Sie auch noch auf Erstattungen einiger Konzerte?) - daher wird das Angebot extrem beschränkt sein, die Platzanzahl begrenzt, die Preise höher - denn die Künstler:innen, Dirigent:innen und Produktionsangestellten verlangen zu Recht denselben Lohn, der sich dann aber auf weniger zahlende Gäste aufteilen muss. Eine neue Form der solidarischen Kulturszene muss sich von unten entwickeln, das heißt: auch durch Sie. Dazu gehört auch die gezielte Unterstützung von Initiativen, die Kulturschaffenden durch die Krise helfen, aber auch neue Erlösmodelle für alle Seiten - denn das wird durch die staatlichen Hilfen leider besonders vernachlässigt.
- freuen Sie sich auch nicht zu früh über Schulöffnungen. Ich schätze, dass es spätestens im Herbst zu einer gewaltigen Eruption im Schul-, Universitäts- und Ausbildungsbereich kommen wird. Es ist eine Schande für dieses Land, dass etwa ein Jahr nach Beginn der Pandemie noch immer keine vernünftigen Konzepte für Remote / Home Schooling vorliegen, Gesetzgeber, Schulleitungen und Lehrkräfte bekleckern sich mit allem, nur nicht mit Ruhm. Die über Jahrzehnte sträflich vernachlässigte Unter-Förderung von Lehrkräften, die Konservierung alter Werte statt "neuer" Erkenntnisse der Bildungsforschung, die kategorische Ablehnung digitalisierter Lernmethoden und -inhalte (Stichwort Medienbildung, Informatik als Pflichtfach...) könnten zu dem größten Bildungsvakuum seit dem zweiten Weltkrieg beitragen.
- eine wesentliche Ursache des Aufkommens und der Verbreitung von Pandemien sind Bewegungsmuster und Klimarahmenbedingungen. Je mehr Kontakte zwischen den Wirten, desto besser fürs Virus. Je wärmer und feuchter, umso wohler fühlen sich Viren. Beide Bedingungen unterstützt die globalisierte und ökologische Faktoren ignorierende Gier der Menschheit. Die derzeitige Form des Kapitalismus, der Mobilität, der Energiewirtschaft hat uns geradewegs in die Pandemie geführt. Davor habe ich (und viele andere) gewarnt, doch letztlich ist business-as-usual einfacher als eine ernsthafte Reflexion oder gar die Absicht, grundlegende Dinge zu ändern.
Klingt ziemlich düster, ist es auch. Aber es lässt gerade noch ein bisschen Luft für Optimismus, denn genau jetzt ist noch Zeit, den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Es ist die Zeit, gescheiterte Konzepte gnadenlos an den Pranger zu stellen und die Zeit bis zu den Bundestagswahlen zu nutzen, die Programme aller Parteien zu prüfen. Fragen, die ich mir dabei stelle:
- Wer setzt sich für eine fundamentale Neuausrichtung des Bildungssektors ein?
- Wer hat den besten, realistischen Plan für die Erreichung der Klimaziele?
- Wer schaut über den Tellerrand der nächsten Legislatur und behandelt die Themen, die bis 2050 wichtig werden, und richtet darauf das Programm aus?
- Wer denkt auch in dieser Pandemie, die uns noch ein paar Jahre beschäftigen wird, nicht nur an die Lobby, die gerade am lautesten schreit, sondern bündelt Maßnahmen, die für alle funktionieren?
- Gibt es überhaupt eine etablierte Partei, die nicht in der traditionellen Machtallokation gefangen ist, sondern wirklich nach Werten und Zielen handelt?
- Wagt eine Partei mehr Demokratie an den Stellen, wo sie sinnvoll ist?
Noch eine Pandemie in diesem Ausmaß können wir uns alle nicht leisten. Nutzen Sie Ihre Stimme weise.
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* das gilt vor allem für die Unionsparteien CDU und CSU. Bei der AfD knickt das Wähleralter ab 70 wieder ein - denn die können sich noch daran erinnern, was die Vorgängerpartei (NSDAP) durch ihr Programm mit ihnen oder ihren engsten Angehörigen angerichtet haben.
** Die Formel dafür lautet: 82.000.000/68.000/150. 82.000.000 Menschen leben gerundet in Deutschland, 68.000 sind (abgerundet) bis zum heutigen Tag laut Statista an Covid-19 gestorben, 150 ist die ungefähre Größe eines sozialen Umfelds, also die Anzahl der Menschen, die Sie persönlich gut kennen. Das ist an vielen Ecken sehr unsauber gerechnet, aber ich bin Sozialwissenschaftler, kein Mathematiker, Virologe oder ähnliches. Was die Modellrechnung verdeutlicht: Menschen müssen (wie kleine Kinder) erst merken, dass es wehtut, bevor sie etwas verstehen. Querdenker sind die Kinder der Nation, könnte man sagen.
- Die Grafik ("I want to believe") liegt unter der Creative Commons Lizenz vor: Splendora93, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons
- Beitragsbild: Photo by Hannah Morgan on Unsplash
Weltwirtschaftsforum WEF Davos 2021: Xi & Merkel und die Tianxia
Diese Woche findet / fand das Weltwirtschaftsforum von Davos (World Economic Forum, WEF) statt - natürlich digital. Ich habe mir die wichtigsten Botschaften angeschaut.
Wer es nicht kennt: beim Weltwirtschaftsforum treffen sich seit 1971 Staats- und Regierungschefs, Unternehmensvorstände und führende zivilgesellschaftliche Akteure. Der Gründer, Prof. Dr. Klaus Schwab, hatte es ursprünglich als Europäisches Management Forum ins Leben gerufen und seit 1987 - zufälligerweise mein Geburtsjahr - auf die globale Bühne gebracht. Ich möchte allen die hervorragenden Studien des Weltwirtschaftsforums ans Herz legen, beispielsweise zu den Themen "Future of Jobs" oder "Global Risks". Aber nun erstmal zur aktuellen Lage.
Xi Jinping trump(f)t beim Weltwirtschaftsforum mit großen Worten
Der chinesische Staatschef Xi Jinping hat es sichtlich genossen, nach der vierjährigen Isolation der Weltmacht USA mit großen Worten und Versprechen sein Land zu positionieren. Was steckt dahinter?
Führende politische und ökonomische Analyst*innen weltweit rechnen fest damit, dass China schon sehr bald die USA als Hegemonialmacht ablösen wird. Die Frage, die uns in Europa umtreibt, ist nicht, ob dieser bevorstehende Machtwechsel eintreten wird, sondern wie er aussehen wird. Und Xis Rede beim wichtigsten geopolitischen Format lässt hoffen - stimmt aber auch skeptisch.
China hat in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten eine atemberaubende Wende vom Entwicklungsland zum Global Player vollzogen. Die strikte Führung der Kommunistischen Partei hat mit ambitionierten Fünfjahresplänen immer wieder Wachstumsrekorde aufgestellt, geht dabei auch im wahrsten Sinne über Leichen. Die kürzlichen Eingriffe in einige der größten Unternehmen des Landes (und der Welt) wie Alibaba, dessen Gründer Jack Ma zeitweise unerklärlich von der Bildfläche verschwand, sind da nur die Spitze des Eisbergs - oder wenigstens eine maximal konsequente Kartellpolitik mit fragwürdigen Mitteln. Die Diskriminierung und Verfolgung einiger Volksgruppen wie der Uiguren passt weder zum "westlichen" Humanismus noch zu der Rhetorik in öffentlichen Auftritten des Staatspräsidenten.
Haben Xis Redenschreiber von Obama abgeschrieben?
Die Rede von Xi könnte mit einigen Ausnahmen auch von einer europäischen oder der neuen US-amerikanischen Regierung stammen. Weniger pathetisch vorgetragen, da wird nichts dem Zufall überlassen. Er spricht darin natürlich über die Corona-Pandemie und den "Global Reset". Vor allem mahnt er die Staatengemeinschaft zu Frieden, Gleichheit, Gerechtigkeit, Demokratie und Freiheit. Er prangert exklusive Politik an und wirkt erleichtert über den US-Regierungswechsel, um vor allem ökonomische Lieferketten wiederherzustellen.
Tatsächlich erwähnt Xi indirekt die Tianxia, über die ich einen kurzen Beitrag verfasst habe. Das, was in den Politikwissenschaften und auch der Zukunftsforschung "Global Governance" genannt wird, benennt Xi unmissverständlich als globale, multilaterale Kooperation - basierend auf unseren geteilten Werten und international verbindlichen Regeln, anstatt auf Machtstrukturen, die von einem oder wenigen Akteuren ausgenutzt werden, um singuläre Interessen durchzusetzen. Welche geteilten Werte das abgesehen von Floskeln sind, bleibt vage.
Internationale Gemeinschaften wie die Vereinten Nationen und sogar der Internationale Gerichtshof lobt der chinesische Staatschef ausdrücklich. Allerdings fordert er von anderen Staaten, Unterschiede zu respektieren und staat Wirtschaftskriegen den Dialog bei Meinungsverschiedenheiten zu suchen. Einen neuen Kalten Krieg gilt es ebenso wie die gängige Nullsummen-Mentalität zu verhindern. Besonders gefällt mir als Zukunftsforscher natürlich die Phrase "take on new perspectives and look to the future".
Da Xi direkt die WHO oder WTO adressiert und eine Stärkung dieser globalen Institutionen fordert, klingen seine Worte tatsächlich global kompatibel, zumal er explizit die Unterstützung von Entwicklungsländern, globale digitale Governance und grünen Fortschritt als Leitlinien der Politik fordert. China will seinen CO2-Peak noch vor 2030 erreichen, CO2-Neutralität vor 2060 - und das bei einer weiterhin wachsenden Volkswirtschaft. Wir dürfen gespannt sein.
"Nullsummenspiel oder winner-takes-all ist nicht die Leitphilosophie des chinesischen Volkes."*
Xi Jinping beim Weltwirtschaftsforum 2021
Klar, ein bisschen Eigenlob muss auch sein. Die moderne sozialistische chinesische Gesellschaft hat als erster Staat der Welt das Covid19-Virus eingedämmt und bietet großzügig seine Kooperation in der Pandemie an. Denn: die Leben der Menschen sind das wichtigste Gut. Wow.
Mein Fazit zu Xi Jinpings Rede
Diese Ansagen stehen zum Teil im derben Kontrast zu den faktischen Entscheidungen und Handlungen des Landes. Die Welt schaut gebannt nach China - wird der neue Fünfjahresplan, vergleichbar mit dem Marshall-Plan der Nachkriegszeit, als Xi-Plan in die Geschichtsbücher eingehen? Das hängt vielleicht auch ein bisschen davon ab, wer diese verfassen wird.
"Ladies and gentlemen, friends. There is only one earth and one shared future for humanity. ... We need to stand united and work together. ... Let us all join our hands and let multilateralism light our way toward a community with a shared future for mankind."
Xi Jinping beim Weltwirtschaftsforum 2021
Merkel stellt beim Weltwirtschaftsforum 2021 "Great Reset" infrage
Exakt ein Jahr nach der ersten Covid19-Infektion in Deutschland war am 26.01.2021 dann Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel dran. Zu Beginn ihrer Rede stellt sie zunächst den Begriff des "Global Reset" infrage, befasst aber sich lieber mit drei Fragen:
1. Konnte sich die globale Kooperation beweisen?
Das Virus habe uns nun endlich Globalisierung erklärt - Abschottung klappt nicht, wir brauchen mehr Zusammenarbeit. Die Pandemie hat indes die Souveränität einiger Länder infrage gestellt, die von globalen Lieferketten abhängig sind. Also fast alle. Dabei spricht sich Frau Merkel aber klar gegen Protektionismus aus. Auch sie betont immer wieder, wie entscheidend heutzutage ein multilateraler Ansatz ist - z.B. bei Impfungen (Covax als solidarisches Prinzip). Diese gegenseitige Unterstützung innerhalb der Staatengemeinschaft darf aber nicht im Nachhinein ausgenutzt werden für machtpolitische Spielchen, denn:
"Es ist die Stunde des Multilateralismus ... nicht nur irgendwie zusammenarbeiten, sondern auch transparent zusammenarbeiten."
Dr. Angela Merkel beim Weltwirtschaftsforum 2021
Immerhin sei Entwicklungshilfe auch im nationalen Interesse und dazu gehört auch, die Verbindungen nach Afrika weiter zu stärken. Mehr fairer, weltweiter Handel, stärkere WTO-Strukturen und den asiatischen Aufschwung mitbegleiten. Andererseits müssen Subventionen und Investitionen immer beiden Seiten dienen und transparent sein, damit alle Menschen von Hightech-Kooperationen und Arbeitsnormen (ILO) gleichermaßen profitieren können.
Ganz kurz fällt auch die Forderung nach einer Mindestbesteuerung digitaler Unternehmen und Wettbewerbsrecht vs. Monopole - da hat sie in Xi Jinping sicher einen guten Fürsprecher. Wir wissen alle, dass diese Lippenbekenntnisse unverbindlich sind. Schließlich sieht Merkel verhaltene Wachstumsaussichten in Europa und anderen Teilen der Welt, weshalb sie in Summe zuversichtlich, wenn auch sichtlich gestresst ist.
Kurz: Tianxia.
2. Sind unsere Gesellschaften verwundbar?
Unsere Abhängigkeit von der Natur und globalen Lieferketten wurde uns ziemlich rabiat durch ein winzig kleines Virus vorgeführt. Versäumnisse in der Nachhaltigkeit, dem Schutz der Biodiversität und dem Abwenden des Klimawandels - kurz, die Inhalte des Pariser Abkommens - haben die Entstehung und Entwicklung der Pandemie begünstigt. Der EU-Green Deal muss entsprechend konsequenter und ambitionierter umgesetzt werden. Und schneller. Dabei werden teilweise auch unliebsame Entscheidungen durchgesetzt werden müssen, aber es müssen alle Menschen mitgenommen werden. Da ist sie wieder, die "Alternativlosigkeit".
Das Konjunkturpaket des Bundes wiederum sei konsequent an "Zukunfsinvestitionen" gekoppelt: 20% müssen für Digitalisierung aufgewendet werden, 50% für Nachhaltigkeit. Doch bei allen Anstrengungen, die Pandemie zu überstehen, dürfen die Industrieländer sich nicht zu sehr auf sich selbst konzentrieren, sondern die Entwicklungszusammenarbeit eher noch verstärken. Denn wie immer trifft es die Ärmsten am härtesten.
Kurz: Wir sitzen alle im selben Schlauchboot auf einem rauen Ozearn. Wir müssen zwar den aktuellen Sturm überleben, dabei aber auch darauf achten, beim aktuellen Manöver kein Loch in die Rückseite des Boots zu reißen.
3. Sind wir widerstandsfähig genug?
Die "Jahrhundertkatastrophe" hat Schwachstellen in unseren Gesellschaften offengelegt. Der grundlegende Zusammenhalt der Bürger*innen hat dennoch - trotz der föderalen Strukturen - in Summe funktioniert. Sie gesteht Fehler ein, die oft auch infolge der langwierigen bürokratischen Prozesse entstehen. Dennoch hat die Entschlossenheit und ein vergleichsweise gut aufgestellter Fiskus dazu beigetragen, die Konjunktur zu stützen.
Der "Mangel an Digitalisierung" wurde ebenso offenkundig und bremst uns aus - Merkel mahnt sehr klar die Missstände im Gesundheits- und Bildungssystem an. Die Selbstkritik ist zwar nett gemeint, aber kommt dann doch etwas zu kurz. Andere Analysten sehen die Gesellschaft gespalten - dazu kein Wort.
Kurz: Wir müssen resilienter werden!
4. Eigenlob
Eigenlob widerstrebt der herkömmlichen deuschen Seele, daher gleitet Merkel erwartungsgemäß schnell ab. Die Forschung sei zwar in ihrer Amtszeit deutlich vorangegangen, auch protenzual am BIP, und das hat uns auch in dieser Krise geholfen. Dieser Punkt bringt sie gedanklich direkt zur kritischen Fragestellung hinaus in die Welt, wie das Verhältnis von Worten und Taten ist. Damit verbindet sie die klare Kritik an Chinas Kommunikation zu Beginn der Pandemie; will jedoch nicht nur schimpfen, sondern vor allem daraus lernen.
Einen kleinen Sidekick über den großen Teich kann sie sich nicht verkneifen und lobt den Wiedereintritt der USA in die WHO, nachdem Bidens Vorgänger vier Jahre lang einen Stillstand der gedeihlichen globalen Zusammenarbeit provozierte.
Merkels Fazit
"Pandemie kann als Bestätigung all dessen gelten, was in den letzten Jahren den Geist von Davos ausgemacht hat. Die Fragen, die diskutiert wurden, waren richtig, aber entsprechend dem deutschen Schriftsteller Erich Kästner haben wir ein Sprichwort: 'Es gibt nichts Gutes, außer man tut es'"
Dr. Angela Merkel beim Weltwirtschaftsforum 2021
Nach Frau Merkel ist das Reden und Diskutieren natürlich wichtig, aber jetzt kommt ein "Zeitraum des Handelns" möglichst nach gemeinsamen Prinzipien. Nehmen wir sie beim Wort!
Mein Fazit zu Dr. Angela Merkels Rede
Frau Merkel stellt den "Great Reset" infrage, begründet aber nicht genau, was sie meint. Was sie meiner Meinung nach sagen möchte, ist: es wird kein Zurück zum alten Normal geben. Doch bleibt sie uns - wie immer - eine Vision schuldig. Oder ist das in didaktisch kluger Schachzug, um die Zivilgesellschaft zum Erarbeiten einer Vision aufzurufen?
Ihre drei Kernthemen sprechen zwar wichtige Herausforderungen an, doch Merkel wirkt wenig souverän bei der Ausführung; sie stockt öfter als üblich, wirkt überarbeitet, räuspert sich oft und "ähmt" oft. So richtig will mich die Rede einfach nicht inspirieren. Wir wissen alle, dass es gewisse Pfadabhängigkeiten gibt. Diese dürften auch dazu führen, dass große Unternehmen schneller gerettet werden als Branchenzweige im Mittelstand - ein großer Fehler. Auch die bestehenden Subventionen bspw. für konventionelle Landwirtschaft, Importe nicht nachhaltiger Waren oder Rüstungsexporte in Kriegsgebiete unterliegen diesen Abhängigkeiten.
Auf der anderen Seite verdienen Beschäftigte in den Epizentren der Pandemie heute nicht mehr als zu Beginn der Pandemie, also primär in Kliniken, Heimen und dem Rest des Gesundheitssektor - trotz Doppelbelastung, leeren Versprechungen und der oft als höhnisch wahrgenommenen Geste applaudierender Mitbürger*innen. Es ist ein Wunder, dass das System noch nicht kollabiert ist und ist wohl der intrinsischen Motivation der Health Worker zuzuschreiben.
Gesamtfazit zum Weltwirtschaftsforum 2021
Hätte Joe Biden einen Beitrag geleistet, hätte ich auch diesen kommentiert. So taucht der neue US-Präsident nur passiv auf, aber wie in meiner Szenarioanalyse zur US-Präsidentschaftswahl beschrieben, wird er sich wohl beim "echten" Weltwirtschaftsforum in Singapur im Mai äußern. So bekommt er lediglich sein Fett weg, da die neue Administration weiterhin an der Politik des "buy at home", also "America first light" festhält. Abgesehen von vielen wichtigen Kehrwenden zum Trump-Trauma ereilt Biden und seine Gefolgschaft das Los der Abwesenden.
Xi Jinping und Angela Merkel füllen entsprechend das fortdauernde geopolitische Machtvakuum liebend gern aus. Sie trumpfen mit großen Ansagen für globale Kooperation, freien Handel, Menschenrechte und, das werden beide nicht müde zu betonen, den ambitionierten Kampf gegen den Klimawandel noch entschiedener zu führen.
- Xi verspricht viel, konnte in seiner aktuell knapp achtjährigen Amtszeit auch vieles halten - ist aber natürlich nicht der Heilige, als der er sich inszeniert. Staatliche und kollektive Ziele stehen in China traditionell über der Würde des Menschen und es bleibt abzuwarten, ob die Ambitionen des Reichs der Mitte an der Spitze der geopolitischen Nahrungskette den Versprechen der Führung gerecht werden können. Walk the walk!
- Merkel hatte nun 16 Jahre, um wirksame, ökologisch nachhaltige Maßnahmen auf den Weg zu bringen. Sie und ihre wechselnden Kabinettsmitglieder konnten vielleicht Schlimmeres verhindern - doch wie so vieles aus ihrer Legislatur, bleiben die Fortschritte infolge des moderaten Mittelweges und dem "Primat der Raute" leider genau das: mittelmäßig.
- Wladimir Putin sprach übrigens auch: Viele Worte, wenige Inhalte. Er liefert exakt das, was zu erwarten war: Weltfremdes Eigenlob ohne ein Wort zu den eigenen Völkerrechtsverletzungen (Georgien, Ukraine, Bergkarabach). Es lässt sich kaum ein Unterschied zu einer Stalin-Rede finden und genau das könnte es sein, was der Kreml damit bezwecken will. Das einzige Machtinstrument Russlands bleibt nach dem Abschied von der geopolitischen Realität das Atomwaffen-Arsenal - immerhin das ist durch den New START Vertrag begrenzt. Putins Freiheitsbegriff war nie weiter entfernt vom globalen Konsens - das könnte noch knallen. Hoffen wir das Beste.
Das verbale Anmahnen von "Taten statt Worten" könnte genau das bleiben, was es ist: leere Worte. Es müssen stattdessen klare und unbequeme Einschnitte verabschiedet werden, um die skizzierten Ziele ernsthaft anzugehen. Gemäß der klassischen Verhandlungstheorie sollten dies klar formulierte Forderungen gegenüber WHO, WTO und UN sein, inklusive Nachkommastelle.
* im Original: "Zero-sum-game or winner-takes-all is not the guiding philosophy of the Chinese People", Xi Jinping, 25. Januar 2021 beim Weltwirtschaftsforum Davos, "Full Video: Xi Jinping delivers speech at WEF Davos Agenda 2021 via video link", at 22:10. Online.
Fun Fact: Indiens Premierminister Narendra Modi, dessen Land immerhin 18% der Weltbevölkerung beheimatet, war der einzige, der ohne Skript sprach. Und der darauf hinwies, dass man vielleicht den generellen Gesundheitszustand der Menschen infragestellen muss. Ansonsten eher ein Werbeclip für Investoren.