Gigatrend: Die Mutter der Megatrends
Was ist ein Gigatrend? Wer sich mit Zukunft beschäftigt, kennt das Konzept der Megatrends: Globalisierung, Female Shift, Konnektivität, Urbanisierung, Individualisierung, New Work und einige mehr. John Naisbitt hat das Konzept vor gut 40 Jahren entwickelt und damit der Zukunfts- und Trendforschung in weiten Teilen der westlichen Welt zu großem Ansehen verholfen. Megatrends sind Entwicklungen, die sich über mehrere Jahrzehnte erstrecken und mehrere Gesellschaftsbereiche (Wirtschaft, Gesellschaft, Umwelt etc.) über einen längeren Zeitraum beeinflussen. Wobei: beeinflussen? Das ist sprachlich nicht ganz korrekt, natürlich sind es einzelne Treiber wie Unternehmen, (politische) Entscheidungsträger oder zivilgesellschaftliche Gruppen, die den Unterschied machen.
Megatrends gehören zu diesen Konstrukten, die sich wahnsinnig gut dazu eignen, Wandel sichtbar und vor allem kommunizierbar zu machen. Und doch greifen sie meiner Beobachtung nach zu kurz, wenn wir den Blick etwas weiten wollen. Sie wissen schon, Zukunft ist eine Frage der Perspektive - und ich möchte Sie hiermit einmal mehr einladen, Ihre Perspektive zu weiten. Denn in meinen Studien der letzten Jahre ist mir immer mehr aufgefallen, dass es noch größere Muster gibt, die sich über mehrere Jahrhunderte erstrecken.
Megatrends wirken jahrzehnte-, Gigatrends jahrhundertelang
Während sich die junge Disziplin der Zukunftsforschung schwer tut, Trends und Megatrends zu operationalisieren, habe ich nach größeren Mustern gesucht. Wozu? Die Antwort liegt im Zeitgeist. Das aktuelle Jahrzehnt ist schon jetzt ein Jahrzehnt der Superlative. Ein paar Beispiele:
- Die Klimakrise ist die größte Herausforderung der Menschheitsgeschichte.
- Künstliche Intelligenz könnte in diesem Jahrzehnt die Singularität erreichen - Millionen Arbeitsplätze sind von der "Automatisierung" bedroht.
- Quantencomputer stehen kurz vor dem Durchbruch zur kommerziellen Nutzung.
- Genmanipulation ermöglicht erstmals die Veränderung von Lebewesen oder Stammzellen.
- Die hegemoniale, geopolitische Weltordnung wird neu geschrieben (Aufstieg der BRICS-Staaten, Bedeutungsverlust der alten Mächte).
- Die Menschheit wird zur interplanetaren Spezies und plant erste Siedlungen auf Mond und Mars.
- Gesellschaftliche Spannungen eskalieren immer häufiger zwischen alten und neuen Konfliktlinien.
Um Veränderungen besser einordnen und Strategien längerfristig planen zu können, greifen die bekannten Megatrends zu kurz. Gigatrends hingegen beziehen deutlich mehr Signale und Trends in ihre Beschreibung ein und stehen somit auf einem breiteren, wissenschaftlichen Fundament. Und bevor ich Sie zu lange auf die Folter spanne, möchte ich hier einen kurzen Überblick in die (noch unveröffentlichten) Gigatrends gewähren. Sie haben sich seit mehreren Jahrhunderten angebahnt und wirken auch noch weit in die Zukunft - und zwar global und in allen Bereichen der Gesellschaft, Wirtschaft und Umwelt.
Gigatrend 1: Leviathanozän
Leviathanozän bezeichnet das Meta-Muster, welches zur Klimakrise geführt hat. Einige Hintergründe sind menschliche Eingriffe in die Ökosphäre sowie der verantwortungslose Umgang mit natürlichen Ressourcen, welcher maßgeblich von blinder Gier und einem Fehlverhältnis zu kapitalistischen Mechanismen herbeigeführt wurde. Die Geowissenschaften sprechen seit einigen Jahren vom Anthropozän, da sich die Folgen menschlichen Handelns längst in den Gesteinsschichten zeigen; andere schlagen bspw. den Begriff (engl.) "Chthulucene" vor. Mein Vorschlag geht weiter und verbindet die Elemente Erdzeitalter (-zän) mit dem Leviathan nach Thomas Hobbes Abhandlung über Politik und Macht (1651). Damit wird direkt begrifflich angedeutet, dass es sich um eine mehrere Jahrhunderte alte Entwicklung handelt.
Es ist schon faszinierend zu sehen, dass es gut 4,6 Milliarden Jahre gedauert hat, bis die Evolution des Planeten Erde eine mutmaßlich intelligente Spezies (homo sapiens) hervorbrachte - und der es innerhalb von knapp 300.000 Jahren schafft, seine eigene Lebensgrundlage zu zerstören. Noch ist es nicht so weit, doch die Zeit wird knapp. Dieser Gigatrend beschreibt damit die wichtigsten Ursachen und Auswirkungen des Leviathanozän - und vermittelt auch ein Gefühl dafür, wie es weitergeht.
Gigatrend 2: Postkapitalismus
In Zeiten der Globalisierung und Digitalisierung ist inzwischen vielen klar geworden, dass das Wirtschaftssystem, das unsere Vorfahren durch die ersten Wellen der Industrialisierung getragen hat, einer Neuausrichtung bedarf. Die ursprüngliche "New Work"-Idee nach F. Bergmann, Konzepte der "Doughnut-Economy" oder Kreislaufwirtschaft behandeln bereits die Fragen, wie eine sozial inklusive und ökologisch verträgliche Wirtschaft funktionieren kann. Leider haben es diese Ideen sehr schwer, zur etablierten, tendenziell konservativen Entscheidungsriege vorzudringen. Agilität, Kollaboration und Exnovation bieten Lösungsansätze, wie sowohl Unternehmen als auch Volkswirtschaften die Transformation schaffen können; doch alles beginnt bei einem neuen Menschenbild, das wenig mit dem anachronistischen Humankapital- und Controlling-Ansatz zu tun hat. Oft wird der Begriff Postkapitalismus reflexartig mit einer Abneigung gegen Kommunismus quittiert, doch darum geht es hier nicht; eher um eine Integration unterschiedlicher Systeme. Welche Elemente kennzeichnen die Ökonomie der Zukunft?
Gigatrend 3: Große Beschleunigung
Wir sprechen von Digitalisierung, Konnektivität, Vernetzung und Internet - doch wenige erkennen das große Muster dahinter. Die Bevölkerungsentwicklung seit der Zeitenwende, Ausbreitung der Menschheit über dem Globus, Konfrontation mit unterschiedlichen klimatischen Bedingungen und folglich "Innovation" bahnbrechender Entwicklungen haben sich schon früh angedeutet. Vielleicht ergeben sie auch erst in der Retrospektive eine logische Verknüpfung, doch genau darum geht es ja. Fragt sich: Wohin geht die Entwicklung? Bleibt die exponenzielle Kurve der technologischen Entwicklung erhalten? Wie verhält sich die technologische Geschwindigkeit im Verhältnis zur gesellschaftlichen und biologischen Komplexität?
Gigatrend 4: Vereinte Weltgemeinschaft
Kaum wurden die Menschen sesshaft und entwickelten komplexe Sprache (vor etwa 100.000 Jahren), begannen die Konflikte. Eine Prise Religion, dann der Maschendrahtzaun und schon hatten wir jahrzehntelange Kriege, Weltkriege, Kalte Kriege - Sie wissen schon. Wenn man die geopolitischen Konfliktlinien und -herde der letzten Jahre und sich andeutende Krisen analysiert, könnte man annehmen, dass es auch genauso weitergehen wird. Doch seit der Gründung der Vereinten Nationen, etwas später regionalen, transnationalen Verbünden wie der Europäischen Gemeinschaft, später Union, oder der Nato sollten größere Kriege der Vergangenheit angehören (was nicht immer gut funktioniert, wie wir aus den Kriegen im Irak, Afghanistan, der Krim, Bergkarabach, dem Nahost-Konflikt etc. wissen).
Doch seit Entwicklung von Atombomben stehen Mittel zur Verfügung, um in einer unkontrollierten Auseinandersetzung das Leben in weiten Teilen der Erde auszulöschen. Erzwungene Kooperation, wenn man so will. Fragt sich, wie es weitergeht, wenn die BRICS-Staaten, allen voran China und Indien, weiterhin ihr wirtschaftliches Wachstum aufrechterhalten können. Ein Ansatz zur friedlichen Integration und Inklusion findet sich in der uralten Idee der Tianxia. Im Gigatrend endet die Beschreibung der globalen Politik nicht heute, sondern einige Jahrzehnte oder Jahrhunderte in der Zukunft - wie kann es die Menschheit schaffen, sich nicht gegenseitig auszulöschen?
Gigatrend 5: Teilhabe
Der Zugang zu Nahrung, Sicherheit, Gesundheit, Einkommen, Bildung, Demokratie und anderen essenziellen Bestandteilen eines nach UN-Definition lebenswerten Lebens sowie gesetzlich verankerte Garantien für Minderheiten haben in den letzten 80 Jahren stetig zugenommen - wenn man von einigen Rückschlägen absieht. Immer mehr Staaten basieren auf rechtsstaatlichen Prinzipien, organisieren freie Wahlen für Parlamente oder Präsidentinnen, Minderheiten werden mindestens durch die Justiz geschützt. Auch die Gleichberechtigung von Frauen und nicht-binären Menschen (LGBTIQ*) hat sich drastisch verbessert. Es liegt noch ein weiter Weg vor uns bis zur wahren Gleichberechtigung, doch wir sind bereits ein gutes Stück vorangekommen. Angefangen hat diese Entwicklung nicht etwa nach dem Zweiten Weltkrieg oder in der Zeit der Aufklärung, sondern einige Jahrhunderte früher. Wohin führt uns der Weg der gleichberechtigten Teilhabe in Zukunft - dürfen dann auch Künstliche Intelligenzen an Wahlen teilnehmen?
Gigatrends: Kein Superlativ, sondern eine erweiterte Perspektive
An dieser Stelle endet meine kleine Einführung und, wenn Sie so wollen, die Vorschau auf mein Buch "Gigatrends". Es befindet sich noch in Entstehung, doch der Rahmen steht. Wenn Sie über die Veröffentlichung informiert werden wollen, tragen Sie sich am besten jetzt für meinen Newsletter ein; dieser erscheint maximal einmal im Monat, Sie brauchen also keine Angst vor einer E-Mail-Flut haben. Und wer weiß, vielleicht sehen Sie das Buch nächstes Jahr auch in Ihrem Buchladen - ich freue mich auf Ihr Feedback!
Weltwirtschaftsforum WEF Davos 2021: Xi & Merkel und die Tianxia
Diese Woche findet / fand das Weltwirtschaftsforum von Davos (World Economic Forum, WEF) statt - natürlich digital. Ich habe mir die wichtigsten Botschaften angeschaut.
Wer es nicht kennt: beim Weltwirtschaftsforum treffen sich seit 1971 Staats- und Regierungschefs, Unternehmensvorstände und führende zivilgesellschaftliche Akteure. Der Gründer, Prof. Dr. Klaus Schwab, hatte es ursprünglich als Europäisches Management Forum ins Leben gerufen und seit 1987 - zufälligerweise mein Geburtsjahr - auf die globale Bühne gebracht. Ich möchte allen die hervorragenden Studien des Weltwirtschaftsforums ans Herz legen, beispielsweise zu den Themen "Future of Jobs" oder "Global Risks". Aber nun erstmal zur aktuellen Lage.
Xi Jinping trump(f)t beim Weltwirtschaftsforum mit großen Worten
Der chinesische Staatschef Xi Jinping hat es sichtlich genossen, nach der vierjährigen Isolation der Weltmacht USA mit großen Worten und Versprechen sein Land zu positionieren. Was steckt dahinter?
Führende politische und ökonomische Analyst*innen weltweit rechnen fest damit, dass China schon sehr bald die USA als Hegemonialmacht ablösen wird. Die Frage, die uns in Europa umtreibt, ist nicht, ob dieser bevorstehende Machtwechsel eintreten wird, sondern wie er aussehen wird. Und Xis Rede beim wichtigsten geopolitischen Format lässt hoffen - stimmt aber auch skeptisch.
China hat in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten eine atemberaubende Wende vom Entwicklungsland zum Global Player vollzogen. Die strikte Führung der Kommunistischen Partei hat mit ambitionierten Fünfjahresplänen immer wieder Wachstumsrekorde aufgestellt, geht dabei auch im wahrsten Sinne über Leichen. Die kürzlichen Eingriffe in einige der größten Unternehmen des Landes (und der Welt) wie Alibaba, dessen Gründer Jack Ma zeitweise unerklärlich von der Bildfläche verschwand, sind da nur die Spitze des Eisbergs - oder wenigstens eine maximal konsequente Kartellpolitik mit fragwürdigen Mitteln. Die Diskriminierung und Verfolgung einiger Volksgruppen wie der Uiguren passt weder zum "westlichen" Humanismus noch zu der Rhetorik in öffentlichen Auftritten des Staatspräsidenten.
Haben Xis Redenschreiber von Obama abgeschrieben?
Die Rede von Xi könnte mit einigen Ausnahmen auch von einer europäischen oder der neuen US-amerikanischen Regierung stammen. Weniger pathetisch vorgetragen, da wird nichts dem Zufall überlassen. Er spricht darin natürlich über die Corona-Pandemie und den "Global Reset". Vor allem mahnt er die Staatengemeinschaft zu Frieden, Gleichheit, Gerechtigkeit, Demokratie und Freiheit. Er prangert exklusive Politik an und wirkt erleichtert über den US-Regierungswechsel, um vor allem ökonomische Lieferketten wiederherzustellen.
Tatsächlich erwähnt Xi indirekt die Tianxia, über die ich einen kurzen Beitrag verfasst habe. Das, was in den Politikwissenschaften und auch der Zukunftsforschung "Global Governance" genannt wird, benennt Xi unmissverständlich als globale, multilaterale Kooperation - basierend auf unseren geteilten Werten und international verbindlichen Regeln, anstatt auf Machtstrukturen, die von einem oder wenigen Akteuren ausgenutzt werden, um singuläre Interessen durchzusetzen. Welche geteilten Werte das abgesehen von Floskeln sind, bleibt vage.
Internationale Gemeinschaften wie die Vereinten Nationen und sogar der Internationale Gerichtshof lobt der chinesische Staatschef ausdrücklich. Allerdings fordert er von anderen Staaten, Unterschiede zu respektieren und staat Wirtschaftskriegen den Dialog bei Meinungsverschiedenheiten zu suchen. Einen neuen Kalten Krieg gilt es ebenso wie die gängige Nullsummen-Mentalität zu verhindern. Besonders gefällt mir als Zukunftsforscher natürlich die Phrase "take on new perspectives and look to the future".
Da Xi direkt die WHO oder WTO adressiert und eine Stärkung dieser globalen Institutionen fordert, klingen seine Worte tatsächlich global kompatibel, zumal er explizit die Unterstützung von Entwicklungsländern, globale digitale Governance und grünen Fortschritt als Leitlinien der Politik fordert. China will seinen CO2-Peak noch vor 2030 erreichen, CO2-Neutralität vor 2060 - und das bei einer weiterhin wachsenden Volkswirtschaft. Wir dürfen gespannt sein.
"Nullsummenspiel oder winner-takes-all ist nicht die Leitphilosophie des chinesischen Volkes."*
Xi Jinping beim Weltwirtschaftsforum 2021
Klar, ein bisschen Eigenlob muss auch sein. Die moderne sozialistische chinesische Gesellschaft hat als erster Staat der Welt das Covid19-Virus eingedämmt und bietet großzügig seine Kooperation in der Pandemie an. Denn: die Leben der Menschen sind das wichtigste Gut. Wow.
Mein Fazit zu Xi Jinpings Rede
Diese Ansagen stehen zum Teil im derben Kontrast zu den faktischen Entscheidungen und Handlungen des Landes. Die Welt schaut gebannt nach China - wird der neue Fünfjahresplan, vergleichbar mit dem Marshall-Plan der Nachkriegszeit, als Xi-Plan in die Geschichtsbücher eingehen? Das hängt vielleicht auch ein bisschen davon ab, wer diese verfassen wird.
"Ladies and gentlemen, friends. There is only one earth and one shared future for humanity. ... We need to stand united and work together. ... Let us all join our hands and let multilateralism light our way toward a community with a shared future for mankind."
Xi Jinping beim Weltwirtschaftsforum 2021
Merkel stellt beim Weltwirtschaftsforum 2021 "Great Reset" infrage
Exakt ein Jahr nach der ersten Covid19-Infektion in Deutschland war am 26.01.2021 dann Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel dran. Zu Beginn ihrer Rede stellt sie zunächst den Begriff des "Global Reset" infrage, befasst aber sich lieber mit drei Fragen:
1. Konnte sich die globale Kooperation beweisen?
Das Virus habe uns nun endlich Globalisierung erklärt - Abschottung klappt nicht, wir brauchen mehr Zusammenarbeit. Die Pandemie hat indes die Souveränität einiger Länder infrage gestellt, die von globalen Lieferketten abhängig sind. Also fast alle. Dabei spricht sich Frau Merkel aber klar gegen Protektionismus aus. Auch sie betont immer wieder, wie entscheidend heutzutage ein multilateraler Ansatz ist - z.B. bei Impfungen (Covax als solidarisches Prinzip). Diese gegenseitige Unterstützung innerhalb der Staatengemeinschaft darf aber nicht im Nachhinein ausgenutzt werden für machtpolitische Spielchen, denn:
"Es ist die Stunde des Multilateralismus ... nicht nur irgendwie zusammenarbeiten, sondern auch transparent zusammenarbeiten."
Dr. Angela Merkel beim Weltwirtschaftsforum 2021
Immerhin sei Entwicklungshilfe auch im nationalen Interesse und dazu gehört auch, die Verbindungen nach Afrika weiter zu stärken. Mehr fairer, weltweiter Handel, stärkere WTO-Strukturen und den asiatischen Aufschwung mitbegleiten. Andererseits müssen Subventionen und Investitionen immer beiden Seiten dienen und transparent sein, damit alle Menschen von Hightech-Kooperationen und Arbeitsnormen (ILO) gleichermaßen profitieren können.
Ganz kurz fällt auch die Forderung nach einer Mindestbesteuerung digitaler Unternehmen und Wettbewerbsrecht vs. Monopole - da hat sie in Xi Jinping sicher einen guten Fürsprecher. Wir wissen alle, dass diese Lippenbekenntnisse unverbindlich sind. Schließlich sieht Merkel verhaltene Wachstumsaussichten in Europa und anderen Teilen der Welt, weshalb sie in Summe zuversichtlich, wenn auch sichtlich gestresst ist.
Kurz: Tianxia.
2. Sind unsere Gesellschaften verwundbar?
Unsere Abhängigkeit von der Natur und globalen Lieferketten wurde uns ziemlich rabiat durch ein winzig kleines Virus vorgeführt. Versäumnisse in der Nachhaltigkeit, dem Schutz der Biodiversität und dem Abwenden des Klimawandels - kurz, die Inhalte des Pariser Abkommens - haben die Entstehung und Entwicklung der Pandemie begünstigt. Der EU-Green Deal muss entsprechend konsequenter und ambitionierter umgesetzt werden. Und schneller. Dabei werden teilweise auch unliebsame Entscheidungen durchgesetzt werden müssen, aber es müssen alle Menschen mitgenommen werden. Da ist sie wieder, die "Alternativlosigkeit".
Das Konjunkturpaket des Bundes wiederum sei konsequent an "Zukunfsinvestitionen" gekoppelt: 20% müssen für Digitalisierung aufgewendet werden, 50% für Nachhaltigkeit. Doch bei allen Anstrengungen, die Pandemie zu überstehen, dürfen die Industrieländer sich nicht zu sehr auf sich selbst konzentrieren, sondern die Entwicklungszusammenarbeit eher noch verstärken. Denn wie immer trifft es die Ärmsten am härtesten.
Kurz: Wir sitzen alle im selben Schlauchboot auf einem rauen Ozearn. Wir müssen zwar den aktuellen Sturm überleben, dabei aber auch darauf achten, beim aktuellen Manöver kein Loch in die Rückseite des Boots zu reißen.
3. Sind wir widerstandsfähig genug?
Die "Jahrhundertkatastrophe" hat Schwachstellen in unseren Gesellschaften offengelegt. Der grundlegende Zusammenhalt der Bürger*innen hat dennoch - trotz der föderalen Strukturen - in Summe funktioniert. Sie gesteht Fehler ein, die oft auch infolge der langwierigen bürokratischen Prozesse entstehen. Dennoch hat die Entschlossenheit und ein vergleichsweise gut aufgestellter Fiskus dazu beigetragen, die Konjunktur zu stützen.
Der "Mangel an Digitalisierung" wurde ebenso offenkundig und bremst uns aus - Merkel mahnt sehr klar die Missstände im Gesundheits- und Bildungssystem an. Die Selbstkritik ist zwar nett gemeint, aber kommt dann doch etwas zu kurz. Andere Analysten sehen die Gesellschaft gespalten - dazu kein Wort.
Kurz: Wir müssen resilienter werden!
4. Eigenlob
Eigenlob widerstrebt der herkömmlichen deuschen Seele, daher gleitet Merkel erwartungsgemäß schnell ab. Die Forschung sei zwar in ihrer Amtszeit deutlich vorangegangen, auch protenzual am BIP, und das hat uns auch in dieser Krise geholfen. Dieser Punkt bringt sie gedanklich direkt zur kritischen Fragestellung hinaus in die Welt, wie das Verhältnis von Worten und Taten ist. Damit verbindet sie die klare Kritik an Chinas Kommunikation zu Beginn der Pandemie; will jedoch nicht nur schimpfen, sondern vor allem daraus lernen.
Einen kleinen Sidekick über den großen Teich kann sie sich nicht verkneifen und lobt den Wiedereintritt der USA in die WHO, nachdem Bidens Vorgänger vier Jahre lang einen Stillstand der gedeihlichen globalen Zusammenarbeit provozierte.
Merkels Fazit
"Pandemie kann als Bestätigung all dessen gelten, was in den letzten Jahren den Geist von Davos ausgemacht hat. Die Fragen, die diskutiert wurden, waren richtig, aber entsprechend dem deutschen Schriftsteller Erich Kästner haben wir ein Sprichwort: 'Es gibt nichts Gutes, außer man tut es'"
Dr. Angela Merkel beim Weltwirtschaftsforum 2021
Nach Frau Merkel ist das Reden und Diskutieren natürlich wichtig, aber jetzt kommt ein "Zeitraum des Handelns" möglichst nach gemeinsamen Prinzipien. Nehmen wir sie beim Wort!
Mein Fazit zu Dr. Angela Merkels Rede
Frau Merkel stellt den "Great Reset" infrage, begründet aber nicht genau, was sie meint. Was sie meiner Meinung nach sagen möchte, ist: es wird kein Zurück zum alten Normal geben. Doch bleibt sie uns - wie immer - eine Vision schuldig. Oder ist das in didaktisch kluger Schachzug, um die Zivilgesellschaft zum Erarbeiten einer Vision aufzurufen?
Ihre drei Kernthemen sprechen zwar wichtige Herausforderungen an, doch Merkel wirkt wenig souverän bei der Ausführung; sie stockt öfter als üblich, wirkt überarbeitet, räuspert sich oft und "ähmt" oft. So richtig will mich die Rede einfach nicht inspirieren. Wir wissen alle, dass es gewisse Pfadabhängigkeiten gibt. Diese dürften auch dazu führen, dass große Unternehmen schneller gerettet werden als Branchenzweige im Mittelstand - ein großer Fehler. Auch die bestehenden Subventionen bspw. für konventionelle Landwirtschaft, Importe nicht nachhaltiger Waren oder Rüstungsexporte in Kriegsgebiete unterliegen diesen Abhängigkeiten.
Auf der anderen Seite verdienen Beschäftigte in den Epizentren der Pandemie heute nicht mehr als zu Beginn der Pandemie, also primär in Kliniken, Heimen und dem Rest des Gesundheitssektor - trotz Doppelbelastung, leeren Versprechungen und der oft als höhnisch wahrgenommenen Geste applaudierender Mitbürger*innen. Es ist ein Wunder, dass das System noch nicht kollabiert ist und ist wohl der intrinsischen Motivation der Health Worker zuzuschreiben.
Gesamtfazit zum Weltwirtschaftsforum 2021
Hätte Joe Biden einen Beitrag geleistet, hätte ich auch diesen kommentiert. So taucht der neue US-Präsident nur passiv auf, aber wie in meiner Szenarioanalyse zur US-Präsidentschaftswahl beschrieben, wird er sich wohl beim "echten" Weltwirtschaftsforum in Singapur im Mai äußern. So bekommt er lediglich sein Fett weg, da die neue Administration weiterhin an der Politik des "buy at home", also "America first light" festhält. Abgesehen von vielen wichtigen Kehrwenden zum Trump-Trauma ereilt Biden und seine Gefolgschaft das Los der Abwesenden.
Xi Jinping und Angela Merkel füllen entsprechend das fortdauernde geopolitische Machtvakuum liebend gern aus. Sie trumpfen mit großen Ansagen für globale Kooperation, freien Handel, Menschenrechte und, das werden beide nicht müde zu betonen, den ambitionierten Kampf gegen den Klimawandel noch entschiedener zu führen.
- Xi verspricht viel, konnte in seiner aktuell knapp achtjährigen Amtszeit auch vieles halten - ist aber natürlich nicht der Heilige, als der er sich inszeniert. Staatliche und kollektive Ziele stehen in China traditionell über der Würde des Menschen und es bleibt abzuwarten, ob die Ambitionen des Reichs der Mitte an der Spitze der geopolitischen Nahrungskette den Versprechen der Führung gerecht werden können. Walk the walk!
- Merkel hatte nun 16 Jahre, um wirksame, ökologisch nachhaltige Maßnahmen auf den Weg zu bringen. Sie und ihre wechselnden Kabinettsmitglieder konnten vielleicht Schlimmeres verhindern - doch wie so vieles aus ihrer Legislatur, bleiben die Fortschritte infolge des moderaten Mittelweges und dem "Primat der Raute" leider genau das: mittelmäßig.
- Wladimir Putin sprach übrigens auch: Viele Worte, wenige Inhalte. Er liefert exakt das, was zu erwarten war: Weltfremdes Eigenlob ohne ein Wort zu den eigenen Völkerrechtsverletzungen (Georgien, Ukraine, Bergkarabach). Es lässt sich kaum ein Unterschied zu einer Stalin-Rede finden und genau das könnte es sein, was der Kreml damit bezwecken will. Das einzige Machtinstrument Russlands bleibt nach dem Abschied von der geopolitischen Realität das Atomwaffen-Arsenal - immerhin das ist durch den New START Vertrag begrenzt. Putins Freiheitsbegriff war nie weiter entfernt vom globalen Konsens - das könnte noch knallen. Hoffen wir das Beste.
Das verbale Anmahnen von "Taten statt Worten" könnte genau das bleiben, was es ist: leere Worte. Es müssen stattdessen klare und unbequeme Einschnitte verabschiedet werden, um die skizzierten Ziele ernsthaft anzugehen. Gemäß der klassischen Verhandlungstheorie sollten dies klar formulierte Forderungen gegenüber WHO, WTO und UN sein, inklusive Nachkommastelle.
* im Original: "Zero-sum-game or winner-takes-all is not the guiding philosophy of the Chinese People", Xi Jinping, 25. Januar 2021 beim Weltwirtschaftsforum Davos, "Full Video: Xi Jinping delivers speech at WEF Davos Agenda 2021 via video link", at 22:10. Online.
Fun Fact: Indiens Premierminister Narendra Modi, dessen Land immerhin 18% der Weltbevölkerung beheimatet, war der einzige, der ohne Skript sprach. Und der darauf hinwies, dass man vielleicht den generellen Gesundheitszustand der Menschen infragestellen muss. Ansonsten eher ein Werbeclip für Investoren.
Zukunft der Arbeit: Sonderband und Postkapitalismus
Gestern war es endlich soweit: Der Sonderband "Zukunft der Arbeit" von Prof. Dr. Jens Nachtwei und Antonia Sureth wurde veröffentlicht! 122 Fachartikel von 181 Autor*innen - das Themenspektrum reicht von (alternativen) Arbeitswelten über Bildung und Personalwesen, Organisation & Kollaboration und Führung zu technologischen Themen wie Künstlicher Intelligenz im Arbeitskontext. Natürlich gibt es auch Praxisbeispiele. Und das beste: der Band ist kostenlos verfügbar!
Achso, und: ich habe auch einen Beitrag geleistet: "Postkapitalismus: Systemfragen der 4. Industriellen Revolution" (S. 54-57). Hier geht's direkt zur Publikation:
www.SonderbandZukunftDerArbeit.de
Für Zitation bitte folgende Form verwenden:
- Nachtwei, J., & Sureth, A. (Hrsg.). (2020). Sonderband Zukunft der Arbeit (HR Consulting Review, Bd. 12). VQP.
https://www.sonderbandzukunftderarbeit.de- Gondlach, K. A. (2020). Postkapitalismus: Systemfragen der 4. Industriellen Revolution. In J. Nachtwei & A. Sureth (Hrsg.), Sonderband Zukunft der Arbeit (HR Consulting Review, Bd. 12, S. 00-00). VQP. https://www.sonderbandzukunftderarbeit.de
Veröffentlichungsreihe
Die Veröffentlichungsreihe für Qualitätssicherung in Personalauswahl und -entwicklung (VQP) wurde 2012 zur Förderung des Austauschs von Forschung, Lehre und Praxis begleitend zur Vorlesung Personal- und Organisationsberatung von Jens Nachtwei am Institut für Psychologie der Humboldt-Universität zu Berlin ins Leben gerufen.HR Consulting Review
Im Herausgeberband HR Consulting Review der Veröffentlichungsreihe stellen Praktiker*innen und Forscher*innen Projekte, Modelle und Sichtweisen sowie wissenschaftliche Studien vor. Die Themen stammen vorwiegend aus den Bereichen Führung, Personalauswahl, Personalentwicklung und Organisationsentwicklung.
Freier Zugang zu wissenschaftlichen Erkenntnissen bedeutet nicht, dass sie umsonst sind. Die Organisator*innen und Autor*innen haben überwiegend ehrenamtlich viel Zeit und Mühe in die Erstellung dieses Bands gesteckt. Bitte quittieren Sie diesen Dienst durch Verbreitung der Publikation, kritische Auseinandersetzung und proaktive Diskussion oder finanzielle Unterstützung der jeweiligen Institutionen. Danke!
Das Ende der Globalisierung?!
Im Juni habe ich mir ein Lesezeichen für eine Studie von Prognos AG und BayernLB gesetzt: "Das Ende der Globalisierung - braucht Deutschland ein neues Geschäftsmodell? Wie Unternehmen jetzt die Weichen richtig stellen". Diese ist meiner Meinung nach untergegangen, aber dafür gibt es natürlich gute Gründe. Nennen wir es das C-Argument. Da die Studie aber wirklich wichtig ist, möchte ich dazu meine Zukunftsforscher-Einschätzung teilen.
Kernaussage der Studie ist: Deutschland braucht ein neues Geschäftsmodell und das "Ende der Globalisierung" sei erreicht. In der Studie werden natürlich auch Wege aus dem Dilemma besprochen, die Lektüre empfehle ich nachdrücklich. Nun aber zu meiner pointierten Einschätzung.
Zustimmung: Deutsche Unternehmen verschlafen den Wandel
Unternehmen in Deutschland sind durchschnittlich zu konservativ, zu unambitioniert und neigen zu blinder Pfadabhängigkeit, wenn es um ihre langfristigen Strategien geht. Nach dem Motto "haben wir schon immer so gemacht!" konzentriert man sich hierzulande gern an den bestehenden Lieferantenbeziehungen und Absatzmärkten (sorry für die Plattitüde, das trifft sicherlich nicht auf alle zu - hier schreibe ich über die träge oder angsterstarrte Mehrheit). Diverse Studien und Dossiers attestieren und bemängeln, dass Digitalisierung in Deutschland nach wie vor auf Kosten der nationalen Wirtschaftsleistung und des BIP stiefmütterlich behandelt wird, vor allem zulasten des internationalen Wettbewerbs um die Vorherrschaft der digitalisierten Weltökonomie.
Ein Beispiel: Oft ist die Rede davon, dass wir bereits die zweite Halbzeit der Digitalisierung verloren hätten. Das klingt so, als wäre das Spiel bereits vorbei - das ist nicht ganz richtig. Es verdeutlicht aber anhand der klassischen Rasensportmetapher, dass "wir" nicht mehr gewinnen können. Diese Befürchtung teile ich, wenn man "normale" Rahmenbedingungen voraussetzt und die Gewinnbedingungen klar definiert. Aber: Wie wir alle wissen, sind diese aber im Jahr 1 nach Corona die Spielregeln andere als gewöhnlich, weshalb sich die wissenschaftliche Zukunftsforschung aktuell mit Prognosen zurückhält und primär (oft normative) Szenarien formuliert. Ebenso werden auch die Karten in puncto Digitalisierung neu gemischt. Insbesondere die ohnehin bereits vorreitenden Hightech-Konzerne nutzen die Ausnahmesituation, um ihre Produkte und Lösungen in noch mehr Märkte zu bringen und Steueroasen noch rücksichtsloser auszunutzen. Und an der Stelle wird deutlich, dass der Vorsprung dieser Giganten, die ich gern mit den beiden Akronymen G-MAFIA (Google/Alphabet, Microsoft, Apple, Facebook, IBM, Amazon) und BAT (Baidu, Alibaba, Tencent) abkürze, Globalisierung besser verstanden haben als etwa deutsche Unternehmen. Diese neun Unternehmen investierten bereits vor der Covid19-Krise teilweise mehr Geld in die Entwicklung Künstlicher Intelligenz als die Bundesrepublik Deutschland; glauben wir dem Mooreschen Gesetz der exponentiellen Effizienzsteigerung der IT, verdoppelt sich der Vorsprung der Maschinen (und hier sehe ich auch KI-Algorithmen und deren Leistung) etwa alle zwei Jahre. Das bedeutet, dass sich der Vorsprung des internationalen Wettbewerbs ebenfalls exponentiell vergrößert, je länger Unternehmen hierzulande warten.
Also: Höchste Zeit für Veränderung!
Ablehnung: Globalisierung hat gerade erst begonnen!
Der Titel der Prognos-Bayern LB-Studie "Das Ende der Globalisierung" erinnert sicherlich nicht durch Zufall an das Buch von Francis Fukuyama "Das Ende der Geschichte", das nach dem Zusammenbruch der UdSSR herauskam und den Sieg des Kapitalismus über den Kommunismus proklamierte. Danach kam alles anders, wie wir wissen, und die Geschichte war natürlich nicht zu Ende. Auch nicht die Auseinandersetzung konfligierender Wirtschaftsordnungen. Ebenso wenig ist das Ende der Globalisierung erreicht (selbstverständlich ist das auch nicht die einzige Aussage der hier behandelten Studie).
Erstens sollte die Kernaussage der Studie vielmehr sein, dass die klassischen Absatzmärkte und Erlösströme insbesondere für die deutsche Wirtschaft deutliche Anzeichen einer Sättigung zeigen. Hinzu kommt, dass der Anteil intangibler Produkte (Lösungen, Dienstleistungen und digitale Geschäftsmodelle) ungebremst ansteigt. Und, was der deutschen Erfinderseele Kopfzerbrechen bereitet: die wertvollsten Geschäftsmodelle der letzten Jahrzehnte wurden allesamt außerhalb Deutschlands entwickelt und höchstens hier kopiert. Einige behaupten sogar provokant, dass seit der Entwicklung des Automobils keine größere, wertvolle Erfindung mehr aus Deutschland kam. Kennen Sie ein Gegenbeispiel?
Zweitens ist die Globalisierung natürlich nicht am Ende. Auch wenn dies der Titel lediglich suggerieren soll und der Volltext der Studie besser aufklärt, möchte ich hier vehement widersprechen. Nur weil die klassischen Absatzmärkte der "Ersten Welt" gesättigt sind und die deutschen Produkte keinen Anklang mehr finden, heißt das noch lange nicht, dass die Nachfrage weltweit gedeckt ist. Aufstrebende Ökonomien (insb. Indien, Irak, Philippinen, Vietnam und Ägypten) verzeichnen einen stark steigenden Bedarf an Produkten und Lösungen der zweiten und dritten Industrie-Zeitalter. Einige von ihnen wiederum haben den Begriff Leapfrogging bzw. Reverse Engineering geprägt: Zwischenschritte der technologischen Entwicklung werden schlicht übersprungen. So verfügen einige afrikanische und südostasiatische Staaten kaum über klassische Überland-Telefonverbindungen, Einwohner*innen können jedoch über Handys und Smartphones aufs mobile Netz zugreifen. Außerdem ist die Globalisierung der Wirtschaft nach klassischer Lesart noch lange nicht beendet, man muss sich nur die Entwicklung von IoT- (Internet der Dinge) und Smart City-Lösungen ansehen. Schade, dass auch hier nur wenige deutsche Unternehmen in der ersten Reihe tanzen.
Drittens würde ich weniger vom Ende der Globalisierung als vom Ende des Kapitalismus in seiner jetzigen Form sprechen. Kapitalismus zeichnet sich dadurch aus, dass er sich durch Krisen eher mithilfe von "Mutationen" an die neuen Gegebenheiten anpasst. Er ist sozusagen agiler als kommunistische oder sozialistische Modelle, die bislang an der Realität gescheitert sind. Was wir jetzt nicht brauchen, ist ein Erstarken der kommunistischen Idee - immerhin stammt diese aus der Zeit vor der Globalisierung, welche wir aber nicht mehr zurückdrehen können und daher mit dem alten Welt-Entwurf eher in die vorindustrielle Zeit zurückkatapultiert wären. Die Idee mag vereinzelt Zuspruch finden, dürfte aber weit mehr Existenzen gefährden als absichern. Was wir brauchen, ist ein globaler Dialog über eine neue Form des Kapitalismus, oft Postkapitalismus oder postmoderner Kapitalismus genannt. Dazu gehören neue Formen einer Regulierung von internationalen Monopolen, (strafrechtliche) Verfolgung von digitalen Verbrechen, Fake news oder Hatespeech und natürlich eine Bepreisung negativer ökologischer Fußabdrücke.
Ergänzung: Exnovation und echte Weltpolitik
Alle Welt bemängelt immer einen niedrigen Innovationsgrad von Unternehmen oder Volkswirtschaften. Dass eine zentrale Herausforderung der Menschheit genau das Gegenteil verlangt, wird dabei fast immer übersehen. Ich rede von Exnovation (darüber habe ich in meinem Zlog schon mal aufgeklärt). Exnovation heißt, sich von unnötigen Altlasten und vergangenen Innovationen zu verabschieden, wenn diese ihren Zweck nicht mehr erfüllen. Es ist die bewusste Entfernung schädlicher Lösungen. Dazu gehören einige etablierte, (noch) sehr umsatzstarke Wirtschaftszweige wie die karbonisierte Energie- und Mineralölwirtschaft, die mittelbaren Massenbranchen wie die Automobil- und Luftfahrtindustrie und natürlich althergebrachte Organisationsmodelle, die zu Zeiten der ersten industriellen Revolution entwickelt wurden und vom ungelernten Fließbandarbeiter als Norm ausgingen (auch über New Work habe ich schon mal gezloggt). Die heutige Realität - und ich meine noch nicht einmal das "neue Normal" mit Covid19 - unterscheidet sich fundamental von derjenigen, die diese und weitere Innovationen hervorgebracht hat. Insbesondere "Klimawandelbeschleuniger" und Effizienzbremsen müssen jedoch so schnell wie möglich unter Einhaltung gesellschaftlicher und ökologischer Standards durch neue Lösungen ersetzt werden. Das ist die größte Herausforderung der Menschheit - nicht, wie das neue Geschäftsmodell Deutschlands aussehen soll.
Die neue Realität verlangt globale Lösungen und weniger Denken in Grenzen - sowohl politisch als auch im übertragenen Sinne ökonomisch. Also think outside the box. Alles andere wäre per definitionem Wahnsinn.
Wie?
Mehr Mut zur Veränderung und für neue Organisationsformen bei gleichzeitig verantwortungsbewusstem Umgang mit den Angestellten und der Ökologie. Ist doch ganz einfach.
Ich frage mich immer, warum so wenige Entscheider*innen hierin die win-win-Situation sehen, die so offensichtlich zu sein scheint. Systemgrenzen sind so furchtbar rigide. Die klassische "Taktik des Abwartens" ist jedenfalls eine gefährliche Karte, auf die ich nicht setzen würde.
Es wird Zeit, eine integrative, inklusive und handlungsfähige Weltpolitik und -wirtschaft zum Wohl aller Menschen zu begründen, wenn wir unseren Kindern und Enkeln einen lebenswerten Planeten hinterlassen wollen (s. auch Stichwort Tianxia). Was wir dafür brauchen? Das kann kein Mensch genau sagen. Es würde aber helfen, sich einem bewusst zu werden und dieses Bewusstsein ideell und institutionell zu verankern: jeder Mensch ist wichtig und einzigartig, unsere biologischen Grundbedürfnisse jedoch sind überall gleich - die Erfüllung dieser Bedürfnisse überall sicherzustellen, die Millennium Goals weltweit schnellstmöglich zu erreichen und Schicksale nicht in Geld umzurechnen, ist eine wichtige Bedingung, um aus dem "Ende der Globalisierung" kein "Ende der Menschheit" zu machen.
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New Work: Neue Arbeit im Zeitalter der Digitalisierung
Was steckt eigentlich hinter dem Konzept von „New Work"? Was bedeutet Neue Arbeit für Sie als Personaler*in, Unternehmer*in oder Angestellte*r? Ein schneller Ritt durch die schöne, neue Arbeitswelt.
Begriffsbestimmung
Wie es sich für einen pseudo-wissenschaftlichen Beitrag gehört, möchte ich zunächst den Begriff definieren. Denn ich möchte wetten, dass Ihre Idee von New Work eine andere ist als meine und vermutlich auch als die Ihrer Angestellten oder Kolleg*innen.
Immerhin: Der Suchbegriff „New Work“ liefert bei Amazon über 100.000 Resultate, bei buch7.de findet man 39 deutschsprachige Bücher und 3522 Englische. Anschnallen: Wir betreten #Neuland!
Ursprung: New Work nach Bergmann
Das Konzept von New Work hat seine Wurzeln in den USA und wurde vom in Sachsen geborenen US-Österreicher Frithjof Bergmann bereits in den 1980er Jahren entwickelt. Bergmann betrachtete die Entwicklungen der kapitalistischen und kommunistischen Ökonomien kritisch. Als eine heftige Rezession die Automobilstadt Flint in Michigan traf, gründete er dort das erste Zentrum für Neue Arbeit. Dessen Ziel war es, Menschen auf den erwarteten Zusammenbruch der herkömmlichen Wirtschaftswelt vorzubereiten. Erst 2004 veröffentlichte Bergmann seine Ideen im Buch „Neue Arbeit, neue Kultur".
Bergmanns drei zentrale Thesen fußen auf der zunehmenden Automatisierung und Globalisierung. Er projizierte diese beiden Megatrends in die Zukunft und kam zu dem Ergebnis, dass die klassische Lohnarbeit kein tragfähiges Konzept für die Wirtschaft sei.
- Im Ergebnis erschien es Bergmann naheliegend, die Erwerbsarbeitszeit deutlich zu reduzieren, weil schließlich nicht genug Arbeit für alle Menschen in einem geographischen Gebiet verfügbar wäre.
- Diese Menschen würden ihre Güter für den alltäglichen Gebrauch in Hightech-Eigenproduktion selbst herstellen und in Netzwerken jedem frei zur Verfügung stellen.
- Eine starke normative Komponente kritisierte den Überfluss der Konsumgesellschaft, weshalb ein großer Teil der Güter und Waren des täglichen Lebens – so Bergmanns Argumentation – ohnehin überflüssig seien. Der Ansatz war damals natürlich revolutionär und wurde als anarchisch verschrien. Letztlich klingt das aber auch sehr schön, wenn nicht gar utopisch, denn die freigewordene Zeit sollen die Menschen in der schönen, neuen Arbeitswelt mit dem füllen, was sie am liebsten tun und am besten können. Viel mehr Menschen würden sich künstlerisch oder sportlich oder musisch oder floristisch oder, oder, oder… betätigen. Freiwillig.
Deutsche Adaption: Neue Arbeit nach Markus Väth
Obwohl die ersten Anzeichen für einen Wandel der Arbeitswelt spätestens seit der Jahrtausendwende immer offensichtlicher zutage traten, dauerte es hierzulande bis 2016, bis ein vergleichbares Standardwerk für die neue Arbeitswelt erschien. Der Psychologe und Informatiker Markus Väth nannte sein erweitertes und aktualisiertes Konzept „Arbeit – die schönste Nebensache der Welt". Väth bestimmte darin fünf Dimensionen der Neuen Arbeit:
- Psychologische Dimension: Ähnlich wie Bergmann erfüllt für Väth die Arbeit für den Menschen einen Zweck, nicht umgekehrt. Die Entfaltung des Individuums soll im Zentrum der Arbeitswelt stehen.
- Soziale Dimension: Im Beruf entstehen zwangsläufig mehr oder weniger intendierte zwischenmenschliche Beziehungen. In der neuen Arbeitswelt findet immer mehr Teamarbeit statt, moderne Führungskonzepte wiederum verteilen die Entscheidungsgewalt quasi-demokratisch auf mehrere Schultern der Angestellten.
- Technologische Dimension: Nach der großen Welle der Automatisierung im 20. Jahrhundert geht es nun an die Digitalisierung. Ziel dieser Veränderung ist natürlich die Effizienzsteigerung der Unternehmen bzw. Organisationen, welche zwangsläufig zu Veränderungen in der Personalbedarfsplanung führen (maximal objektiv formuliert).
- Organisatorische Dimension: In Zeiten des Taylorismus herrschten die starr hierarchischen Organisationsformen mit klarer Linienführung und top down-Entscheidungslogik vor. Diese Art der Organisation weicht einer immer agileren, netzwerkartigen Aufbauorganisation, die auch Platz für (teil-)autonome Teams und „unkonventionelle“ bottom up-Entscheidungswege lässt.
- Politische Dimension: Diese Dimension bezieht schließlich die externe Politik mit ein, die die Rahmenbedingungen für Gesundheit, soziale Gerechtigkeit, Lohnniveau und Arbeitsschutz schneller den aktuellen Gegebenheiten anpassen muss. Diese Anforderung adressiert natürlich die politische Exekutive, namentlich die Bundesregierung und die Bundesministerien (insbesondere die Ministerien für Wirtschaft, Arbeit und Soziales, Justiz und Finanzen).
Markus Väth bloggt unter anderem zu New Work und hat in einem unterhaltsamen Artikel Ende Mai 2019 der deutschen Politik bescheinigt, dass auch New Work #neuland für sie ist.
Neue Definition New Work
In einer mir vorliegenden Bachelorarbeit (siehe Quellen) hat der Autor basierend auf einer qualitativen Expertenbefragung im Jahr 2019 eine – wie ich finde – gute neue Definition für Neue Arbeit entwickelt:
„New Work bezeichnet eine neue Form der Arbeit, welche die Selbstverwirklichung des Individuums im Arbeitsprozess in den Mittelpunkt stellt [!] und deren Ursprungsbezeichnung auf den Philosophen Frithjof Bergmann zurückgeht. Damit ist New Work ein Gegenbeispiel zur klassischen, linearen, hierarchischen Organisations- und Arbeitsform, in welcher der Mensch als Produktionsmittel wahrgenommen wird. New Work ist dabei mehr als nur Arbeitsweise, sondern hat Auswirkungen auf die Organisationsform. Dabei ist New Work aber keine einheitliche Denkschule, sondern kann in Bezug auf Arbeitsfelder, Miteinander und Arbeitsergebnisse – dabei sowohl auf deren Sinnhaftigkeit als auch auf deren gesellschaftlichen Mehrwert – individuell auf Unternehmen und Arbeitnehmer ausgerichtet sein.“
Exkurs: Industrielle Revolution(en)
Wir sind uns alle einig, dass der technologische Fortschritt einen Einfluss auf unser Verständnis von Arbeit hat. Immerhin tragen die meisten Arbeitnehmer*innen in Deutschland mit ihrem Smartphone auch 2019 noch einen schnelleren Computer in ihrer Hosentasche herum und nutzen barrierefreiere Angebote als das in ihrem Arbeits-PC möglich oder erlaubt wäre. In der Arbeitswelt wirft die Digitalisierung oder auch vierte industrielle Revolution ihre Schatten voraus. Ein kurzer Überblick über die industriellen Revolutionen:
- 1. industrielle Revolution: Der Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft und Beginn der Urbanisierung hat vor allem Landarbeiter verdrängt, verabschiedet den Feudalismus als vorherrschendes Gesellschaftssystem. Beginn ab ca. 1780, Epizentrum: britische Baumwollindustrie.
- 2. industrielle Revolution: Die zunehmende Mechanisierung und Elektrifizierung bringt viele Fließbandarbeiter um ihre Jobs und festigt das kapitalistische Wirtschaftssystem. Beginn ab ca. 1870, prominentestes Beispiel ist die massenhafte Automobilfertigung von Henry Ford (USA) in den 1910er Jahren.
- 3. industrielle Revolution: Die mikroelektronische Revolution ersetzt einfache Hilfsarbeiten und setzt die ökonomische Globalisierung in Gang. Beginn in den 1970er Jahren mit dem Siegeszug der kommerziellen Computer und der ersten Industrieroboter – Sie ahnen, wo der Ursprung liegt. Richtig: Im Silicon Valley (auch USA).
- 4. industrielle Revolution: Neue Grundlagentechnologien sind in dieser Revolution nicht hinzugekommen, doch die Vernetzung durch das globale und vor allem zunehmend mobile Internet entfaltet seit den 2010er Jahren ihr Potential. Beginn: 2007 mit Einführung des iPhone und 2010 mit der Einführung des 3G-Standards für mobile Internetverbindungen, ausgehend von den USA, aber bald (fast) global verfügbar. Die Welt wächst zusammen. Aber: Nicht zuletzt aufgrund des von der deutschen Regierung geprägten Begriffs „Industrie 4.0“ wird die tatsächliche Existenz des Revolutionscharakters kontrovers diskutiert; manch eine*r spricht höchstens von einer zweiten Phase der 3. industriellen Revolution.
- Kurzer Ausblick: Spätestens mit dem bevorstehenden Durchbruch bei Quantencomputern sowie der künstlichen Intelligenz werden Digitalisierung und Globalisierung eine neue Stufe erreichen. Homo sapiens steht damit anthropologisch betrachtet auf einer neuen Grundlage (vgl. Yuval Noah Harari). Auch im Büroalltag wird es bald völlig normal sein, dass einige Kolleg*innen nur aus Programmcode bestehen; sie sind lernende Algorithmen, die im kommenden Jahrzehnt zunehmend Entscheidungen treffen werden. Das fängt bei einfachen Dingen wie Terminvereinbarungen an (vgl. Amy AI), macht aber auch vor heutigen Expertenaufgaben nicht Halt. Die Software von NDALynn oder Lawgeex prüft Verschwiegenheitsvereinbarungen (NDAs) schon heute präziser und viel schneller als Fachanwälte, die ihr Leben lang nichts anderes gemacht haben. Je mehr Entscheidungsgewalt auf die künstlichen Kollegen (Roboter bzw. Algorithmen) übertragen wird, je mehr diese in der Lage sind sich und ihre Interessen zu artikulieren, desto dringlicher wird auch der Bedarf nach rechtlichen Rahmenbedingungen und betrieblicher Mitbestimmung. In der Schweiz wurde im Dezember 2018 ein Roboter in die traditionsreiche Gewerkschaft „Verband Angestellte Schweiz“ aufgenommen, nachdem ein Robo-Kollege in Großbritannien entlassen wurde. Denn selbstverständlich machen die künstlichen Kollegen auch Fehler. Und als Korrektiv dafür muss aktuell noch das vorherrschende Rechtssystem herhalten; Unternehmen haften für ihre Kinder, äh, KIs. Dabei wird es immer komplizierter festzustellen, auf welcher Grundlage eine KI Entscheidungen trifft oder sich auf diese oder jene Weise verhalten hat. Bis zum Jahr 2030 werden die Kinderkrankheiten aber längst der Vergangenheit angehören. Die Auswirkungen auf menschliche Beschäftigte sind einerseits noch unklar, andererseits liegen sie vor allem in der Verantwortung der Arbeitgeber und der Politik.
Es gehört zweifelsohne zu den Charakteristika solcher Revolutionen, dass bestehende durch neue Handlungsmuster auf allen gesellschaftlichen Ebenen ersetzt werden. Ebenso gehört es zu den bitteren Wahrheiten, dass im kapitalistischen System das Leitmotiv „Gewinnmaximierung“ nicht immer zugunsten der Beschäftigten entscheidet. So gab es in allen industriellen Revolutionen vor allem Massenentlassungen („Rationalisierungen“) und zumindest in Europa historische Massendemonstrationen (bspw. den Weberaufstand 1844, Widerstände gegen die Eisenbahn im 19. Jahrhundert, Taxifahreraufstände 2019, bald Automobil-Zulieferer-Aufstand…). Genauso können wir es aktuell beobachten. Und es werden noch viele Meldungen über Massenentlassungen folgen, nicht zuletzt weil Arbeitgeber und Arbeitnehmerorganisationen sich aus nachvollziehbaren, aber unvernünftigen Gründen gegen „disruptive“ Technologien sperren.
Wir halten folgende Formel fest: Technologiesprung + Kapitalismus = industrielle Revolution.
Zurück zum Leitthema, oder eher: Leidthema?
Willkommen zurück im Jahr 2019.
Industrielle Revolution hin oder her, das dürfen die Historiker der nächsten Generation beurteilen. Die Arbeitswelt unterliegt einem Wandel, dieses Mal mischen aber noch mehr Faktoren mit. Neben Technologiesprüngen und dem Kapitalismus spielen für die Debatte um New Work zwei weitere wichtige Faktoren eine wichtige Rolle: demografischer Wandel und Wertewandel.
Demografischer Wandel
Der Begriff an sich ist eigentlich bescheuert. Demografie befindet sich immer im Wandel, jede Sekunde sogar. Im Volksmund wissen wir in den westlichen Industriestaaten aber alle, was damit gemeint ist: die bevorstehende Überalterung der Gesellschaft(en).
Woher kommt das? Die sehr geburtenstarken Nachkriegsgenerationen, auch Babyboomer genannt, stehen altersmäßig kurz vor dem Renten- bzw. Pensionsalter. (Was das für Unternehmensnachfolgen bedeuten wird, habe ich mal als Co-Autor einer wissenschaftlichen Zukunftsstudie untersucht.) Die Generation danach wird nicht ohne Grund auch „Pillenknick-Generation“ genannt: Nach der Markteinführung der Anti-Baby-Pille kamen signifikant weniger Menschen zur Welt, auch andere Verhütungsmittel und der offenere Diskurs über Schwangerschaftsverhütung sowie HIV-Prävention spielen in die Statistik. Das Phänomen hat bis heute Bestand.
Nicht zuletzt erlebten die westlichen Staaten in den 1950er Jahren einen wirtschaftlichen Aufschwung (goldene 50er) und paradoxerweise führt Wohlstand zu weniger Geburten, das gilt sogar in Entwicklungsländern wie Indien oder Bangladesch (an die Soziologen: natürlich ist das kein monokausaler Zusammenhang, ich weiß).
Jedenfalls sterben schon seit 1972 in Deutschland mehr Menschen als geboren werden, gleichzeitig werden die Alten älter. Nicht ohne Grund wurde die Sicherheit der Rente schon in den 1990er Jahren infragegestellt.
Die demografische Entwicklung führt damit geradewegs in eine Welt des Arbeits- und Fachkräftemangels sowie des Altersüberschusses. Kombinieren wir diese Einflussfaktoren, erkennen wir für das Thema New Work zwei zentrale Konsequenzen der Demografie:
- Der Wert menschlicher Arbeit nimmt zu. Es war noch nie so leicht für qualifizierte Fachkräfte, einen Job zu finden (persönliche Mobilität vorausgesetzt). Was für Informatiker und einige Ingenieursberufe seit einem guten Jahrzehnt gilt – regelmäßige Abwerbeversuche anderer Arbeitgeber zu immer besseren Konditionen – gilt für auch immer mehr Sozial- oder Geisteswissenschaftler*innen. Und natürlich für Mediziner*innen. Sie suchen sich ihren nächsten Arbeitgeber an dem Tag aus, wenn sie eine neue Stelle antreten. Fordern ein Sabbitical, mehr Urlaubstage, bessere Sozialleistungen und so weiter. Viele Unternehmen in westlichen Industriestaaten wiederum sind in einer Zeit des Fachkräfteüberflusses gewachsen. Sie wissen oft nicht, wie sie mit anderen Mitteln als ihrer Marke und einem sicheren Einkommen um Fachkräfte werben sollen, wenn überhaupt. Employer Branding kann man deshalb inzwischen studieren. Dazu gehört inzwischen mehr als kostenloses Wasser und Obst am Arbeitsplatz. Haben Sie schon mal über Wohnzuschüsse für die Eltern Ihrer Angestellten nachgedacht? Oder Subventionen für temporäre Expat-Office-Aufenthalte auf Bali? Oder demokratische Wahlen der Geschäftsführung?
- Wirtschaftlich agierende Organisationen, in der Regel Unternehmen, müssen Arbeitsprozesse automatisieren. Dieser Befund ist heutzutage einer der zentralen Treiber für technologische Innovation, denn wenn ein Unternehmen keine Arbeitskräfte mehr durch die besten Employer Branding-Strategien findet, muss es neue Wege finden, den Profit zu maximieren. Nach einer Prognos-Studie fehlen 2030 drei Millionen Fachkräfte. Fachkräfte! Nicht „nur“ Arbeitskräfte. Damit gemeint sind lediglich die Spezialist*innen bzw. Expert*innen! Und heute stehen die Züge der Deutschen Bahn schon regelmäßig still, weil das Personal für die Stellwerke oder Loks fehlt. Dabei weiß ich aus sicherer Quelle, dass gerade der DB-Konzern recht früh damit angefangen hat, Gegenmaßnahmen zu ergreifen…
Wertewandel: Generation X, Generation Y, Generationsbrei…
Danke, Prof. Dr. Martin Schröder!
Im Oktober 2018 stieß ich auf seinen Beitrag in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (drauf gestoßen hat mich Spiegel Online). Endlich gibt es empirische Ergebnisse, die die gängigen Annahmen über „Generation X“, „Generation Y“, „Generation Z“ etc. widerlegen. Natürlich gibt es einen sich wandelnden Zeitgeist, natürlich wird ein Wertewandel durch Generationenwechsel beschleunigt. Und natürlich ist die Jugend verroht und respektlos, das wusste schon Sokrates. Aber es ist falsch zu behaupten, dass eine Geburtenkohorte in sich gefestigt über diese oder jene (insgesamt homogene) Wertvorstellungen verfügt oder Entscheidungen immer auf dieselbe Weise trifft. Nun endlich auch wissenschaftlich belegt.
Der gesellschaftliche Wertewandel vollzieht sich also dynamisch und relativ unabhängig vom Geburtsjahr, sondern orientiert an der aktuellen gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen Gesamtsituation. Meiner Generation werden beispielsweise eine kürzere Aufmerksamkeitsspanne und postmaterielle Ideale zugeschrieben – das erklärt noch lange keine Inflation von Achtsamkeitstrainings und die Absatzzahlen von Tablets bei über 45-Jährigen.
Was wir aber sehr wohl festhalten können ist ein steigender Drang zur Subjektivierung, auch Individualismus genannt. Parallel vollzieht sich ein Bruch mit dem Determinismus, sprich der Weltanschauung, dass ein oder mehrere göttliche(r) Schöpfer das Schicksal jedes Lebewesens bestimmt/bestimmen. Immer mehr Menschen nehmen ihre Lebensläufe selbst in die Hand, gehen – besonders in Sozialstaaten – höhere Risiken ein, sehen Arbeit nicht mehr als das zentrale Element ihres Lebens. Immerhin will man ja was erleben! Schließlich erfreuen wir uns einer steigenden Gleichberechtigung der Geschlechter, Kulturen, Religionen und weiteren Kategorien. (Über die weiteren, spannenden Auswüchse des Wertewandels schreibe ich vielleicht mal an anderer Stelle etwas, aber das war’s im Wesentlichen für das Thema New Work.)
Konkrete Folgen für den Arbeitsmarkt:
- Immer weniger Menschen hegen den Wunsch, ihr Erwerbsleben bei nur einem Arbeitgeber zu verbringen.
- Immer mehr sehen lebenslanges Lernen mit teils obskuren Richtungswechseln als Erfüllung.
- Immer mehr Menschen sind beruflich Selbstständige (Statistik, mehr Startups. auch mehr Gründungen durch Ältere) oder fristen als Freiberufler ihr flexibles Dasein.
- Immer mehr Frauen rücken in Führungspositionen oder gründen Unternehmen – dasselbe gilt für homo-, trans- und intersexuelle Menschen sowie Menschen mit Migrationshintergrund. Langsam, aber immerhin.
Mini-Fazit Demografie und Wertewandel
Die Arbeitswelt unterliegt erheblichen exogenen und endogenen Treibern der Veränderung. Wer noch nicht angefangen hat, sich mit New Work zu beschäftigen, sollte genau jetzt starten. Aber Sie lesen diese Zeilen vermutlich aus dem Grund, weil Sie schon im Thema stecken… das ewige Paradoxon setzt sich fort. Wenn Sie jemanden kennen, der mit New Work noch nichts verbindet – nutzen Sie bitte die Teilen-Funktion dieses Beitrags für Xing, Linkedin, Mail oder ein Format Ihrer Wahl. Danke! Und jetzt: weiter im Text.
Zwischenfazit: Warum New Work? Warum jetzt?
Erwerbsarbeit, ein historisch relativ junges Konstrukt, unterliegt großen Umschwüngen. Dieser stetige Wandel wurde bislang vor allem durch technologische und politische Umwälzungen angestoßen. Die stärksten derzeit wirkenden Einflüsse bzw. Trends lauten:
- Die Digitalisierung entfaltet so langsam ihr volles Potential. Gemeint ist nicht bloß die Elektrifizierung und Automatisierung vormals mechanischer (Arbeits-)Prozesse. Die Vernetzung der wachsenden Weltgemeinschaft (Globalisierung 2.0) und des globalen Arbeitsmarkts hat erst vor wenigen Jahren eingesetzt.
- Der demografische Wandel zwingt Arbeitgeber in die Situation, automatisieren zu müssen. Arbeitnehmer profitieren von der Überalterung der Gesellschaft, sodass immer mehr Qualifikationen oder Professionen unter Hochdruck gesucht werden – und Beschäftigte sich immer mehr ganz mündig und selbstbestimmt ihre Erwerbsbiographie stricken.
- Der Wertewandel in liberalen, demokratischen Staaten ermöglicht die aktive Teilhabe vormals unterdrückter Bevölkerungsgruppen. Gleichzeitig werden die Bedingungen für die berufliche Selbstverwirklichung immer günstiger.Schließlich zeigt die relative Reife der New Work-Diskussion, dass wir weit davon entfernt sind, eine einheitliche Definition für Neue Arbeit zu entwickeln. Es sind allenfalls Stoßrichtungen der Transformation; das Ergebnis wird bei jeder Organisation anders aussehen.
Was bedeutet New Work für Organisation und Management?
Selbstverständlich stehen wir noch am Beginn der Transformation. Oder stecken mittendrin. Das hängt von Ihrem Standpunkt und der Rhetorik ab. Wichtig ist, dass New Work per Definition kein abschließbarer Prozess sein kann – kein Change-Prozess mit einem konkreten Ziel.
Mindset shifts for organization transformation (new work)Aaron Sachs und Anupam Kundu haben eine schöne bildliche Darstellung entwickelt, die die fundamentalen Richtungswechsel darstellt. Ich versuche mich auch in meinen Keynotes immer mal gern an einer Erläuterung. Nun auch hier:
- Unternehmenszweck: Natürlich müssen Unternehmen Gewinn (profit) erwirtschaften. In Wirklichkeit müssen sie sich aber viel stärker an einem Sinn (purpose) orientieren – das macht übrigens auch die Personalarbeit leichter. Im nächsten Schritt wird die strikte Formulierung von Prozessen weniger benötigt, da jede*r einzelne Mitarbeiter*in den Sinn so sehr verinnerlicht hat, dass das Ziel mit eigenen Mitteln erreicht werden kann. Oft auch unkonventionell, eben individuell auf die Bedürfnisse und Stärken der Persönlichkeit zugeschnitten.
- Aufbauorganisation: Verabschieden Sie sich von starren Hierarchien und machen Platz für Netzwerke. Agile Projektteams, in denen auch mal die Geschäftsführung als einfache Teamplayer einer Projektleiterin unterstellt sind – kein Novum mehr in Unternehmen an der Spitze der New Work-Bewegung. Eine Kienbaum-/StepStone-Studie hat 2017 nachgewiesen, dass mit steigender Durchlässigkeit der Hierarchieebenen der Unternehmenserfolg messbar steigt (von funktional über Matrix über gar keine Abteilungen zu divisional und schließlich agil).
- Personalführung: Gemäß dem tayloristischen System müssen Führungskräfte ihre Angestellten eng führen und kontrollieren, weil sie ja schließlich selbst nicht in der Lage sind, eigenständig zu handeln. Überprüfen Sie gern mal Ihr Prozesswerk, das haargenau diese und jene Schritte für die einfachsten Tätigkeiten festlegt – dadurch wird Menschen das eigenständige Denken abgewöhnt. Viel wichtiger ist in der Neuen Arbeitswelt die Befähigung (empowering) der Beschäftigten: durch eine offene, faire Feedback-Kultur, intrinsische Anreize, eine gesunde Fehlerkultur und Zugeständnisse bei Entscheidungswegen.
- Produktentwicklung: Die deutsche Innovationskultur zeichnet sich durch einen perfektionistischen Tüftlerdrang aus. Die Metapher ist der schwäbische Tüftler, der in seiner Garage eine Idee jahrelang bis zum perfekten, marktfähigen Produkt entwickelt – zwischendurch ein Patent anmeldet und ein Marktforschungsinstitut mit einer repräsentativen Studie seiner Zielgruppe beauftragt. Bei immer kürzer werdenden Innovationszyklen auf immer diffuseren Märkten kann diese Taktik nicht mehr funktionieren. An der Stelle müssen sich Erfinder*innen und Entwickler*innen eine Scheibe aus dem Silicon Valley abschneiden und mehr experimentieren. Und zwar in der Realität. Ein Prototyp bzw. Pretotyp (oder auch MVP, minimum viable product) ist egal für welche Idee (ausgenommen vielleicht Hochsicherheitslösungen) schnell entwickelt, wird dann an eine begrenzte Testgruppe herangeführt, um Feedback zu erhalten, dieses anschließend umzusetzen und mit einer überarbeiteten Fassung erneut an die Öffentlichkeit zu gehen. Selbst die ersten Fahrzeuge von Tesla verfolgten dieses Ziel; in den Fahrzeugen war so viel unfunktionale Sensorik verbaut, die nur dem Zweck diente, Daten über das Nutzungsverhalten zu sammeln und mit einer massiven Support-Offensive die oft noch unzufriedenen, oft unbewussten Test-Fahrer bei Laune zu halten.
- Daten: Das leidige Thema Datenschutz und Betriebsgeheimnisse. Die „alte Welt“ funktioniert nach strikten Wettbewerbsregeln, in denen Unternehmen ihre interne Entwicklung hermetisch abschirmten. Wieder bemühe ich die steigende Innovationsgeschwindigkeit als Gegenargument: in einer globalisierten Welt können Sie sich sicher sein, dass ein*e Entwickler*in irgendwo auf dem Globus exakt dieselbe Idee schon mal gedacht hat wir Ihr Entwicklerteam. Ideen wachsen nur durch Diskurs und Experimente. Besonders in heterogenen Gruppen gedeihen diese umso besser – eine Erklärung für die wachsende Anzahl teils brancheninterner Allianzen, wie zwischen BMW und Daimler oder Kooperationen zwischen TÜV NORD und TÜV SÜD, die ich leiten durfte. Darüber hinaus findet immer mehr Ideen- und Innovationsaustausch auf oft noch informellen Treffen statt, während andernorts Innovativität noch an der Anzahl der angemeldeten Patente gemessen wird. Wenn die Anmeldung eines Patents ca. zwei Jahre dauert, der Konkurrent dieselbe Lösung aber zwischendurch auf den Markt bringt, nützt dem besten Erfinder das Postkartenformat im Hausflur genau gar nichts.
Schlussstrich und Ausblick: Digitalisierung führt zu New Work
Der Druck auf den Arbeitsmarkt ist groß. Digitalisierung, Demografie, Arbeitnehmerbewusstsein, Globalisierung… Im Ergebnis erwarten Optimisten, dass die Neue Arbeit keine Umstellung für den einzelnen Menschen sein wird, sondern viel enger auf die Bedürfnisse abgestellt ist. Flexible Arbeitszeiten und -orte (wie Homeoffice), BYOD (bring your own device), interessen- und stärkenbasierte Einsatzzwecke und vieles mehr. In ein paar Jahrzehnten werden sich Historiker über unsere Epoche der tayloristischen Erwerbsarbeit und Aufbauorganisation mit einer ähnlichen Distanz und Unverständlichkeit äußern wie wir heute über Sklaventum oder Feudalismus urteilen.
Es gibt viel zu tun. Packen wir es an! … und wenn Sie Unterstützung bei der Umsetzung oder Inspiration für Ihre Mitarbeiter (oder Vorgesetzten) wünschen: kontaktieren Sie mich.
Ausgewählte Quellen
Dittrich, Bob (2019): New Work. Eine qualitative Expertenbefragung (Bachelorarbeit, unveröffentlicht).
Eilers, Frank (laufend): Arbeitsphilosophen Podcast: https://www.einfach-eilers.com/arbeitsphilosophen.
Mason, Paul (2015): Postkapitalismus.
Schröder, Martin (2018): Der Generationenmythos. Online.
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