Beitrag Temporale Intelligenz

Zukünfte denken mit intertemporaler Intelligenz  

Ich werde häufig gefragt, welche Fähigkeiten mich als Zukunftsforscher auszeichnen, um Zukünfte denken und darin Gestaltungsräume entdecken zu können. Die Antwort darauf ist einerseits genauso kompliziert wie im Falle eines Maurers, der Rechtsanwältin oder in der Quantenphysik. In allen Berufen sind unterschiedliche Kombinationen der grundlegenden Fertigkeiten und Fähigkeiten nötig, um darin mindestens „gut“ zu werden. Das heißt: Jeder Job hat eine bestimmte Mischung aus angeborenen und sozialisierten Fähigkeiten mit den Fertigkeiten, die in der Lehre, dem Studium und beruflichen Laufbahn zu erwerben sind.

Andererseits fiel mir im Laufe der letzten Jahre zunehmend auf, dass da doch ein Element ist, das meinen Berufsstand prägt: Die intertemporale Intelligenz. Um das genauer zu erklären, muss ich erst etwas ausholen.

20 Arten der Intelligenz

Immerhin verfügen wir – je nach Lesart – über unterschiedliche Ausprägungen von Intelligenz in bis zu 20 Arten. Einige davon sind wissenschaftlich seit Langem bekannt, einige ergänzen sich gegenseitig, manche lesen sich fast synonym. Doch meiner Ansicht nach lohnt sich ein genauer Blick auf die feinen Unterschiede.

  • Sprachliche oder linguistische Intelligenz: Wie gut verstehe, spreche, lese und schreibe ich meine Muttersprache; bin ich außerdem fähig, andere Sprachen zu lernen?
  • Logisch-mathematische Intelligenz: Wie gut kann ich rechnen und logisch Elemente kombinieren? Diese Intelligenzart wird am häufigsten in klassischen IQ-Tests abgefragt und wird damit oft mit „Intelligenz“ gleichgesetzt, was natürlich falsch ist; sie ist jedoch ein wichtiger Bestandteil, um sich in der modernen Zivilisation zurechtzufinden.
  • Räumlich-bildliche Intelligenz: Kann ich Gegenstände in realen oder virtuellen Räumen korrekt verorten und neu kombinieren?
  • Kognitive Intelligenz: Im Prinzip handelt es sich hierbei um den Kitt zwischen den anderen Formen der Intelligenz; wie gut bin ich in der Lage, Aufgaben zu lösen und gedanklich fiktive Erkenntniszustände zu durchlaufen, bevor ich in Aktion trete?
  • Intrapersonale Intelligenz: Wie reflektiert bin ich? Denke ich über meine eigenen Denkmuster und Motive, meine Taten in der Vergangenheit nach und bin ich dazu noch in der Lage, meine Gefühle und Emotionen zu regulieren?
  • Interpersonale Intelligenz: Hier spielt vor allem die Empathie eine Rolle: Kann ich mich in andere Personen hineinversetzen, höre ich anderen zu? Kann ich in Konflikten vermitteln?
  • Naturalistische Intelligenz: Kann ich mich, neben Menschen, auch in Tiere, Pflanzen und andere Naturphänomene hineinversetzen? Interessiere ich mich dafür, wie es der Natur geht?
  • Emotionale Intelligenz: Ähnlich wie die intrapersonale Intelligenz geht es hier um die Fähigkeit, Emotionen wahrzunehmen – und auch beeinflussen zu können. Die emotionale Intelligenz ist das nötige Bindemittel für intra- und interpersonale Intelligenz und als EQ (emotionaler Quotient) hoch im Kurs.
  • Soziale Intelligenz: Hier haben wir es wieder mit einer Mischform unterschiedlicher Intelligenzarten zu tun und ich würde noch ergänzen, nicht bloß in Kleingruppen intelligent Stimmungen erkennen und beeinflussen zu können, sondern dies auch auf größere Gruppen und Gesellschaften anwenden zu können.
  • Spirituelle Intelligenz: Warum bin ich hier? Auf diese Frage gibt es keine befriedigende Antwort, dennoch suchen einige Glaubensrichtungen oder philosophische Denkschulen seit Jahrtausenden danach. Doch räume ich dieser Frage bewusst Raum und Zeit im Leben ein? Dann bin ich wohl spirituell intelligent – das geht auch ohne Bibel oder Räucherstäbchen.
  • Musikalische Intelligenz: Habe ich einen Zugang zu Melodie, Takt, Rhythmus, Harmonie oder auch Disharmonie? Erklärt sich wohl von selbst. Interessant ist, dass Menschen mit ausgeprägter musikalischer Intelligenz in der Regel auch besser andere Sprachen oder Dialekte verstehen.
  • Körperlich-kinästhetische Intelligenz: Bewege ich mich gern und sowohl kontrolliert als auch frei?
  • Kreative Intelligenz: Bin ich in der Lage oder reizt es mich, kreativ, also gestaltend, auf Probleme zu reagieren, die mich oder andere beschäftigen?
  • Physische Intelligenz: Achte ich auf meinen Körper, auf gute Ernährung, auf genügend Schlaf und Erholungsphasen?
  • Praktische Intelligenz: Die HR-Abteilung nennt das „stilles Wissen“, andere vielleicht gesunden Menschenverstand. Es geht darum, alltägliche, praktische Herausforderungen eigenständig meistern zu können.
  • Professionelle Intelligenz: Hier handelt es sich wieder um eine Mischform verschiedener anderer Intelligenzarten, die je nach Einsatzzweck variieren können. Während der o. g. Maurer vielleicht vor allem die Mischung aus 2+3+12+13+15 benötigt, ist es bei der Rechtsanwältin möglicherweise eher 1+2+4+6+9+13. Die Quantenphysik habe ich selbst nicht studiert und vermute, dass die dortigen Expert:innen über sämtliche (und keine, s. #schroedingerskatze) Formen der Intelligenz verfügen müssen.
  • Vitale Intelligenz: Diese Intelligenzart ist eine Verwandte der sozialen Intelligenz und wird von unserer Quelle (s. u.) auch als machiavellische Intelligenz bezeichnet. Es geht darum, wie ich mich in sozialen Situationen verhalte und meine Interessen durchsetze – also ein eher ich-bezogener Blick auf die Intelligenz in Gruppen.
  • Mentale Intelligenz: Diese Form, die auch metakognitive Intelligenz genannt wird, bezieht sich auf die Fähigkeit, unterschiedliche Anteile äußerer und innerer Phänomene miteinander gewinnbringend in Einklang bringen zu können. Achte ich bspw. auf den Ausgleich meiner unterschiedlichen Stärken und Schwächen, sehe ich in Veränderungen sowohl Risiken als auch Chancen?
  • Kristalline Intelligenz: Kann ich gut planen, organisieren, koordinieren? Dann ist mir das vermutlich nicht in die Wiege gefallen, sondern ich habe in meinem Leben gelernt, mit komplexen Situationen umzugehen, aus Fehlern zu lernen.
  • Fluide Intelligenz: Wie hoch ist meine Auffassungsgabe, kann ich gut viele Informationen aufnehmen und verarbeiten sowie priorisieren? Dann hatte ich wohl einfach Glück beim Gen-Lotto, denn dieser Anteil ist im Wesentlichen angeboren und kann später kaum nennenswert verändert werden.

Liste von https://open-mind-akademie.de/intelligenzformen/ (Zugriff am 28.07.2023) 

Die 21. Art der Intelligenz: Intertemporale Intelligenz 

Die ersten 20 Arten der Intelligenz klingen wahnsinnig schlüssig vor dem Hintergrund, dass wir es in knapp über 300.000 Jahren vom Menschenaffen zum postindustriellen, digitalen Menschen geschafft haben. Die meisten der oben skizzierten Intelligenzarten entstanden in diesem Zeitraum und wurden von den Anforderungen der modernen Zivilisation geprägt.  

Meine These ist, dass wir im Übergang zum 21. Jahrhundert jedoch eine neue Intelligenzart ausgeprägt haben. Angetrieben durch den Bevölkerungsboom zwischen 1800 und 2000 (von einer auf sechs Milliarden Menschen, während es von null auf eine Milliarde gut 300.000 Jahre dauerte) wuchsen nämlich die Herausforderungen, mit denen sich die Menschen konfrontiert sahen. Zunehmende Komplexität auf der einen Seite, zunehmende Einflussmöglichkeiten der Menschheit auf sich selbst und die Umwelt auf der anderen, erfordern mehr denn je die Fähigkeit oder Fertigkeit – das wird sich noch zeigen –, Entwicklungen, Motive, Entscheidungen und Ereignisse hinsichtlich ihrer Zeitlichkeit einordnen zu können. Anders ausgedrückt: Der Teil unseres Gehirns, der sich ums aktuelle Überleben kümmern muss, verliert in modernen Zivilisationen (besonders in Sozialstaaten) an Bedeutung, der Teil, der sich um die langfristigen Existenzgrundlagen kümmert, gewinnt hinzu.  

Während also einige Menschen zum Beispiel komplexe Klimawandelphänomene wie die nachlassende Atlantikzirkulation oder Temperaturanstiege kognitiv nicht verarbeiten können und hinter jeder neuen Nachhaltigkeitsstrategie eine Verschwörung wittern, kümmern sich andere darum, die Lebensgrundlagen aller Lebewesen in ihrem Einflussbereich zu verbessern. Das tun sie selten in der Gewissheit, dass sie selbst davon noch profitieren werden, sie denken und handeln dabei maßgeblich in die Zukunft mehrerer Generationen gerichtet – oft unabhängig von kurzfristigen Vorteilen.  

Intertemporale Intelligenz stärken 

Jetzt steht natürlich die Frage im Raum, wie intertemporale Intelligenz gestärkt oder bestärkt werden kann. Darauf habe ich (noch) keine wissenschaftlich fundierte Antwort, sehr wohl aber Beobachtungen aus meinem Umfeld. Immerhin kenne ich dutzende, wenn nicht hunderte Zukunftsforschende und habe mir in den letzten Monaten Gedanken gemacht, was die Grundlage der intertemporalen Intelligenz sein könnte. Außerdem entwickeln wir mit meinem Zukunftsinstitut PROFORE Kurse, um Entscheidungsträgern in Wirtschaft und Verwaltung auf dem Weg in fundierte Zukunftsentscheidungen zu helfen.  

Ein wichtiges Element der intertemporalen Intelligenz beschreiben Hans Rosling et al. in ihrem Meisterwerk „Factfulness“ (2018) – zentral dafür ist die Fähigkeit, Fakten von Meinungen zu unterscheiden und gute Entscheidungen zu treffen. Denn dazu gehört die essenzielle, damit verwandte Fähigkeit, sich selbst vom aktuellen Geschehen zu distanzieren, erst möglichst viele Fakten aufzutreiben und sich erst dann ein eigenes Urteil zu bilden. Oder wie Sokrates gesagt haben soll:  

„Wenn du etwas weitersagen willst, so seihe es zuvor durch drei Siebe: Das Erste lässt nur das Wahre hindurch, das Zweite lässt nur das Gute hindurch, und das Dritte lässt nur das Notwendigste hindurch. Was durch alle drei Siebe hindurchging, das magst du weitersagen.“ 

Sokrates

Das Ganze nun noch in Bezug auf die Zeit. Ist die Entscheidung oder das Ereignis, über das ich gerade urteile, in der Gegenwart oder sehr nahen Zukunft relevant oder spielen sich dessen Auswirkungen eigentlich erst in der mittleren oder fernen Zukunft ab? Wo habe ich blinde Flecken, wo muss ich noch recherchieren, welche Quellen nutze ich dafür – und das Ganze bitte möglichst schnell? Es wird schnell deutlich, dass eine bunte Mischung der oben genannten 20 Intelligenzarten nötig ist als Fundament für die 21., die intertemporale Intelligenz. 

Leider scheint die intertemporale Intelligenz nicht besonders ausgeprägt zu sein, schließlich erfordern die Handlungslogiken in den meisten Systemen sie nicht. Das ist auch logisch, denn unsere Organisationen, Institutionen und Regelwerke stammen ja aus der Vergangenheit, nicht aus der Zukunft. Ich hätte mir beispielsweise sehr viel mehr intertemporale Intelligenz in der Debatte um die Wärmepumpen oder vielen ähnlich gelagerten politischen öffentlichen Diskussionen rund um Nachhaltigkeit gewünscht.  

Wie wir also dahinkommen: Indem wir möglichst oft über unterschiedliche, idealerweise zukünftige Zeitebenen nachdenken. Wir reden in der Zukunftsforschung von plausiblen Zukünften oder Projektionen, anstatt nur über fiktive Zustände zu sprechen. Unser Gehirn ist wie ein Muskel und je eher wir daran gewöhnt sind, in verschiedenen Facetten möglicher Zukünfte zu denken, umso eher steigt die Wahrscheinlichkeit, dass wir neue Informationen auf dem vor uns liegenden Zeitstrahl (oder -trichter) einsortieren können. 

Fazit

Für mich als Zukunftsforscher ist die intertemporale Intelligenz vermutlich das, was die Fingerfertigkeit und kreative Lösungsfindung des Maurers, das Vermittlungsgeschick für die Rechtsanwältin ist. Sie umfasst aus meiner Sicht die wichtigsten Attribute anderer Intelligenzarten und ist natürlich grundsätzlich ethisch geprägt – allein die Fähigkeit zur Projektion unterschiedlicher Zukünfte heißt noch nicht, dass ich im Sinne anderer Menschen handle. Die Ausprägung intertemporaler Intelligenz ist also eine Mammutaufgabe, die ich mir vorgenommen habe mit all meinen Veröffentlichungen im Heute und Morgen.  

Nach meiner Recherche habe ich im Übrigen keine Anzeichen dafür gefunden, dass diese Form der Intelligenz bereits benannt wurde. Möglicherweise gibt es hierzu eines Tages eine tiefgründigere Veröffentlichung aus meiner Feder – aber wer weiß das schon? 😉  

Update 06.09.2023: Rund um dieses Thema in Bezug auf die Klimadebatte habe ich einen Gastbeitrag für FOCUS Online Earth geschrieben, der gestern veröffentlicht wurde.

Bild von rawpixel.com auf Freepik


Methoden der Zukunftsforschung

Zukunftsforschung ist eine wissenschaftliche Disziplin

Nicht selten werde ich mit großen Augen angeschaut, wenn ich über Zukunftsforschung als ernsthafte, wissenschaftliche Disziplin spreche. Das liegt unter anderem daran, dass das Metier der Zukunftsforschenden im deutschsprachigen Raum in erster Linie durch Trendforscher geprägt wird, die aus wissenschaftlicher Sicht keine ernstzunehmende Forschung betreiben. Die Bewertung dieser Zuschreibung überlasse ich jedem einzelnen, aus meiner Sicht gibt es für beide Strömungen eine Daseinsberechtigung. Mir persönlich liegt es jedenfalls am Herzen, Zukunftsforschung als Disziplin zu stärken und an geeigneter Stelle von der Trendforschung abzugrenzen – nicht im Sinne einer Rivalität, lediglich als zwei verschiedene Spielarten eines Forschungsobjekts: Zukunft bzw. Zukünfte. Möglicherweise sind Sie genau aus diesem Grund auf dieser Seite gelandet, weil ich bei einem Auftritt oder in einem Interview eine Referenz hierher gemacht habe. Diese Gelegenheit möchte ich nutzen und einen groben Überblick über die Methoden der Zukunftsforschung geben; so kurz wie möglich, so ausführlich wie nötig.

Grundsätzlich ist die Zukunftsforschung vor allem durch eine inhärente Interdisziplinarität gekennzeichnet. Zukunftsforschende begreifen sich nicht als Expert*innen einer Fachrichtung, sie haben eher die Fähigkeit, mit den richtigen Fragestellungen und der Anwendung der geeigneten Methoden diejenigen Quellen zu identifizieren, die für die Beantwortung einer spezifischen Zukunftsfrage zur „besten“ Antwort führen. Inzwischen wissen wir, dass kein*e Expert*in der Welt sämtliche Informationen über ein breites Forschungsfeld haben kann, sei es über die letzte Eiszeit oder Quantenverschränkung. Zukunftsforscher*innen tragen diesem Umstand dadurch Rechnung, dass wir geeignete Verfahren, Techniken und Methoden der qualitativen und quantitativen Forschung derart kombinieren, dass die weißen Flecken möglichst minimiert werden. Schließlich benötigen Zukunftsforscher*innen ein gutes, wohl trainiertes Gespür für mehr oder weniger ernstzunehmende Informationen und Quellen. Im Ergebnis sprechen wir auch nicht von Prognosen, sondern in sich konsistenten, plausiblen Zukunftsbildern bzw. Szenarien.

Das Netzwerk Zukunftsforschung – das wichtigste Gremium im deutschsprachigen Raum für akademische Zukunftsforscher*innen – stellt für die Standards und Gütekriterien der Zukunftsforschung einen hilfreichen „Pocketguide für Praktiker und Studierende“ zur Verfügung (online kostenlos). Mit diesem 51-seitigen Dokument und den zahlreichen Checklisten lassen sich hervorragend einzelne Projekte daraufhin überprüfen, ob diese unverbindlichen Anhaltspunkte für seriöse Zukunftsforschung eingehalten werden bzw. wurden – oder eben nicht.

Delphi-Methode

Die Delphi-Methode ist keine ausschließlich für Zukunftsfragen entwickelte Methode, wurde jedoch schon früh von der Zukunftsforschung als wichtiges Instrument entdeckt. Im deutschsprachigen Raum gilt Prof. Dr. Kerstin Cuhls (Fraunhofer ISI) als Koryphäe auf dem Gebiet der methodologischen Weiterentwicklung von Delphi.

Kernbestandteil der Delphi-Methode sind Interviews mit mehreren Expert*innen sowie mehrere Befragungswellen im Rahmen eines Forschungsprojekts. Die Interviews werden nach den Regeln der empirischen Sozialforschung geplant und durchgeführt, je nach Untersuchungsgegenstand werden die Kriterien für die benötigte Expertise, die Anzahl der zu befragenden Expert*innen und die Art der Befragung (quantitativ oder qualitativ, telefonisch oder face-to-face oder online, Transkriptionsart, Auswertungsschema etc.) festgelegt.

Nach Auswertung der Interviews in der ersten Befragungsrunde werden die Ergebnisse verdichtet und in aufbereiteter Form zur erneuten Bewertung in eine oft schriftliche Runde an dieselben Experten oder einen erweiterten Empfängerkreis gesendet; die Expertenrunde soll dann die Aussagen schärfen und beispielsweise den Zeithorizont bestimmter Thesen schätzen, verschiedene Thesen untereinander abwägen oder angesichts des kumulierten Feedbacks der Experten eigene Standpunkte nachjustieren. In seltenen Fällen werden noch weitere Runden durchgeführt, wenn das Ergebnis der zweiten Welle noch nicht zufriedenstellend hinsichtlich der Forschungsfrage(n) war. Mit dieser Vorgehensweise erhalten die Forschenden breite und tiefe Einblicke durch mehrere Menschen mit relevantem Fachwissen. Ein gutes, schlichtes und dazu noch kostenloses Online-Delphi-Tool ist eDelphi.

Neuer ist die Anwendung als Realtime-Delphi, bei dem in einem vorgegebenen Zeitraum, bspw. 14 Tage oder acht Stunden, alle eingeladenen Expert*innen live mitverfolgen können, wenn neue Ergebnisse hinzukommen. Diese sehr dynamische Methode eignet sich besonders, wenn die Zeitschiene sehr weit in die Zukunft reicht oder aus anderen Gründen die Ungewissheit über den Forschungsgegenstand besonders hoch ist. Ein toller Anbieter für Realtime-Delphis ist Thinkscape.ai

Szenario-Methode

Die Szenariotechnik (genau genommen ist es keine Methode, sondern eine Technik bzw. eine Aneinanderreihung verschiedener Tools) hat ihre Wurzeln in der Wirtschaftswissenschaft, wurde in den letzten Jahrzehnten jedoch zunehmend durch Zukunftsforscher*innen verfeinert. Die Idee ist es, auf der Grundlage aggregierten Wissens – durchaus oft in Kombination mit anderen Erhebungsmethoden als der reinen Literaturrecherche – Einflussfaktoren auf die Zukunft des Untersuchungsgegenstandes zu identifizieren, diese in Schlüsselfaktoren zuzuspitzen, welche besonders relevant sind, und im Ergebnis mögliche, wahrscheinliche und konsistente Szenarien zu entwickeln. Konsistenz ist dabei ein elementarer Bestandteil: in einem aufwendigen Verfahren bewerten die Forschenden die mögliche Koexistenz verschiedener Ausprägungen von Schlüsselfaktoren in der Zukunft (bspw. ein Anstieg des Bruttoinlandsproduktes und der Rückgang von Steuereinnahmen). Ich mache das seit dem Studium sehr gern mit Parmenides Eidos (Transparenzhinweis: Ich bin auch Kooperationsparnter der Parmenides AG).

Schließlich erhält man Rohszenarien, die die jeweils passenden Ausprägungen von Schlüsselfaktoren beinhalten; die Aufbereitung dieser Rohszenarien wiederum obliegt den Forschenden oder Auftraggebern. Beliebt sind narrative Szenarien, im weitesten Sinne Geschichten, die die Szenarien durch den bevorzugten Stil (belletristisch, sachlich,…) veranschaulichen. Ebenso beliebt ist die bildliche Aufbereitung in Form von Schaubildern, Comics oder Videos. Forschungs-/Beratungsprozesse für Szenarien realisiere ich seit 2022 mit meiner Firma, dem PROFORE Zukunftsinstitut.

Datenanalyse / Horizon Scanning

Helmut Kohl hat am 1. Juni 1995 in einer Bundestagsrede gesagt: „Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten.“ Ganz unabhängig von der Person und seiner Politik steckt viel Wahrheit in diesem Zitat. So ist es die Bürde der Zukunftsforschenden, nicht nur Methoden zur Anwendung auf Zukunftsfragen zu kennen, sondern auch ein umfangreiches Wissen und Verständnis der Geschichte vorzuweisen. Als dritte wichtige Methode ist entsprechend die qualitative oder quantitative Datenanalyse zu nennen. Manche nennen dies auch moderner "Horizon Scanning".

Selbstverständlich ist es die oberste Pflicht von Zukunftsforschenden, den aktuellen Stand der verfügbaren Fachliteratur über das Forschungsthema zu analysieren, wozu in technologischen Fragen natürlich auch eine oberflächliche, oft quantitative Patentrecherche gehört. Die wichtigsten Werkzeuge der Zukunftsforschung sind daher wohl die üblichen wie auch wissenschaftliche Suchmaschinen sowie Patent-Datenbanken. Hinzu kommen ggf. spezifische Trend-Suchmaschinen (oft Trendradar genannt; ich arbeite gelegentlich mit der Lösung von Itonics), welche inzwischen mithilfe von Algorithmen künstlicher Intelligenz semantische Zusammenhänge in den online verfügbaren Daten erkennen, wofür menschliche Augen blind sind.

Überblick alle Methoden

Zukunftsforschung Methoden Diamant nach Rafael PopperNatürlich kommen noch viel mehr Methoden zum Einsatz, auf die ich aber hier nicht im Einzelnen eingehen möchte; zu groß ist die Gefahr, etwas zu übersehen, und der Pflegeaufwand. Das können andere besser als ich. Deshalb belasse ich es an dieser Stelle mit einer schönen, grafischen Darstellung und Zuteilung der häufigsten Zukunftsforschungsmethoden von Rafael Popper [2009: Mapping Foresight. Revealing how Europe and other world regions navigate into the future. European Foresight Monitoring Network, European Union, S. 72, online] aus dem Jahr 2009.

Inzwischen kamen einige neuere Ansätze und Methoden hinzu. Nennenswert sind hier die Werke von Sohail Inayatullah (bspw. Six Pillars, Causal-Layered Analysis), Jennifer Gidley (v.a. partizipatorische Ansätze), Riel Miller (Futures Literacy / Zukünftebildung) und René Rohrbeck (v.a. Corporate Foresight).

Unterm Strich kann ich nach einigen Dutzend Projekten vor allem sagen, dass die Zukunftsforschung bzw. Foresight einen großen Vorteil bietet: Wir sind nicht festgelegt auf einige wenige Methoden, sondern wählen die Kombination, die den größten Erkenntnisgewinn verspricht.

 

Dieser Beitrag wurde im August 2024 aktualisiert.