BONUS Xerxes Voshmgir & Im Hier und Morgen (englisch!)

Kurz nach meinem Fahrradunfall hatte ich andere Dinge im Kopf, als neue Episoden für den Podcast zu produzieren. Zum Beispiel Schmerzmittel. Da aber fast zeitgleich ein Gespräch zwischen mit und Xerxes Voshmgir in seinem Podcast "Challenging #ParadigmX" veröffentlicht wurde, habe ich Xerxes gefragt, ob wir die Folge auch in meinem Podcast veröffentlichen können. Und er willigte ein!

Wir unterhielten uns über einige grundlegende Fragen des Lebens, was mich antreibt, was Zukunftsforschung für mich bedeutet und vieles mehr. Das Ganze auf Englisch.

Hier geht's zum Xerxes' Seite: https://xerxes.re/kai-gondlach/

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#02.12 Gigatrends: Die Mutter der Megatrends Im Hier und Morgen

Ich schreibe derzeit an einem Buch mit dem Arbeitstitel "Gigatrends". Dazu habe ich schon einen Zlog-Beitrag geschrieben, in dieser Podcast-Episode gehe ich etwas tiefer ins Detail. Was steckt dahinter, warum sind sie mindestens genauso wichtig wie Megatrends? Wieso arbeiten Wissenschaftler:innen nicht so gern mit Megatrends?

Seit Jahren ist mir aufgefallen, dass das Konzept der Megatrends Schwächen hat. Außerdem hat sich die ernsthafte Zukunftsforschung nur wenig damit auseinandergesetzt; das meiste stammt aus der eher populärwissenschaftlichen Trendforschung. Bunte Bildchen, die dabei helfen sollen, ein Unternehmen auf Kurs zu bringen - weil man nun weiß, dass es Digitalisierung gibt. Aha. Mit meinem Gigatrend-Ansatz möchte ich neuen Wind in die Debatte bringen, vor allem im Buch aber erstmal konkrete Trends der Zukunft beschreiben. Gigatrends helfen nämlich dabei, die jahrhunderte- oder gar jahrtausendelange Genese heutiger Entwicklungen besser zu verstehen ... und dann in die Zukunft zu projizieren.

Hier eine Übersicht der Themen:

00:00:00 Intro: Worum geht's in dieser Episode? Wo könnte das Thema schon mal erwähnt worden sein? #podcast #arbeitsphilosophen
00:00:32 Was sind Megatrends? #digitalisierung #urbanisierung #femaleshift #klimawandel #globalisierung
00:03:46 Was sind Gigatrends - und warum ist das wichtig?
00:11:31 Überblick: 5 Gigatrends, die unsere Zukunft prägen werden - und unsere Gegenwart hervorgebracht haben #gigatrend
00:13:37 Gigatrend 1: Leviathanozän. Warum einige Menschen die Erde zerstören #klimakrise #planetaryrights
00:17:26 Gigatrend 2: Postkapitalismus. (Wie) Arbeiten wir in einer Welt der (Voll-)Automatisierung? #newwork #doughnut #kreislaufwirtschaft #transmodernliberty
00:20:17 Gigatrend 3: Große Beschleunigung. Wohin führt die exponenzielle Beschleunigung der Technologie? #mooreslaw #singularität
00:22:35 Gigatrend 4: Vereinte Weltgemeinschaft. Welcher geopolitische Rahmen folgt auf die Vereinten Nationen, um Frieden für alle zu garantieren?
00:25:57 Gigatrend 5: Teilhabe. Wie kann größtmögliche Gleichberechtigung und Toleranz erreicht werden? #unlearningtimes
00:28:18 Fazit und Ausblick

Teaser gefällig? Eine kleine Vorschau aus dem Inhalt:

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Gigatrend: Die Mutter der Megatrends

Was ist ein Gigatrend? Wer sich mit Zukunft beschäftigt, kennt das Konzept der Megatrends: Globalisierung, Female Shift, Konnektivität, Urbanisierung, Individualisierung, New Work und einige mehr. John Naisbitt hat das Konzept vor gut 40 Jahren entwickelt und damit der Zukunfts- und Trendforschung in weiten Teilen der westlichen Welt zu großem Ansehen verholfen. Megatrends sind Entwicklungen, die sich über mehrere Jahrzehnte erstrecken und mehrere Gesellschaftsbereiche (Wirtschaft, Gesellschaft, Umwelt etc.) über einen längeren Zeitraum beeinflussen. Wobei: beeinflussen? Das ist sprachlich nicht ganz korrekt, natürlich sind es einzelne Treiber wie Unternehmen, (politische) Entscheidungsträger oder zivilgesellschaftliche Gruppen, die den Unterschied machen.

Megatrends gehören zu diesen Konstrukten, die sich wahnsinnig gut dazu eignen, Wandel sichtbar und vor allem kommunizierbar zu machen. Und doch greifen sie meiner Beobachtung nach zu kurz, wenn wir den Blick etwas weiten wollen. Sie wissen schon, Zukunft ist eine Frage der Perspektive - und ich möchte Sie hiermit einmal mehr einladen, Ihre Perspektive zu weiten. Denn in meinen Studien der letzten Jahre ist mir immer mehr aufgefallen, dass es noch größere Muster gibt, die sich über mehrere Jahrhunderte erstrecken.

Megatrends wirken jahrzehnte-, Gigatrends jahrhundertelang

Während sich die junge Disziplin der Zukunftsforschung schwer tut, Trends und Megatrends zu operationalisieren, habe ich nach größeren Mustern gesucht. Wozu? Die Antwort liegt im Zeitgeist. Das aktuelle Jahrzehnt ist schon jetzt ein Jahrzehnt der Superlative. Ein paar Beispiele:

  • Die Klimakrise ist die größte Herausforderung der Menschheitsgeschichte.
  • Künstliche Intelligenz könnte in diesem Jahrzehnt die Singularität erreichen - Millionen Arbeitsplätze sind von der "Automatisierung" bedroht.
  • Quantencomputer stehen kurz vor dem Durchbruch zur kommerziellen Nutzung.
  • Genmanipulation ermöglicht erstmals die Veränderung von Lebewesen oder Stammzellen.
  • Die hegemoniale, geopolitische Weltordnung wird neu geschrieben (Aufstieg der BRICS-Staaten, Bedeutungsverlust der alten Mächte).
  • Die Menschheit wird zur interplanetaren Spezies und plant erste Siedlungen auf Mond und Mars.
  • Gesellschaftliche Spannungen eskalieren immer häufiger zwischen alten und neuen Konfliktlinien.

Um Veränderungen besser einordnen und Strategien längerfristig planen zu können, greifen die bekannten Megatrends zu kurz. Gigatrends hingegen beziehen deutlich mehr Signale und Trends in ihre Beschreibung ein und stehen somit auf einem breiteren, wissenschaftlichen Fundament. Und bevor ich Sie zu lange auf die Folter spanne, möchte ich hier einen kurzen Überblick in die (noch unveröffentlichten) Gigatrends gewähren. Sie haben sich seit mehreren Jahrhunderten angebahnt und wirken auch noch weit in die Zukunft - und zwar global und in allen Bereichen der Gesellschaft, Wirtschaft und Umwelt.

Gigatrend 1: Leviathanozän

Leviathanozän bezeichnet das Meta-Muster, welches zur Klimakrise geführt hat. Einige Hintergründe sind menschliche Eingriffe in die Ökosphäre sowie der verantwortungslose Umgang mit natürlichen Ressourcen, welcher maßgeblich von blinder Gier und einem Fehlverhältnis zu kapitalistischen Mechanismen herbeigeführt wurde. Die Geowissenschaften sprechen seit einigen Jahren vom Anthropozän, da sich die Folgen menschlichen Handelns längst in den Gesteinsschichten zeigen; andere schlagen bspw. den Begriff (engl.) "Chthulucene" vor. Mein Vorschlag geht weiter und verbindet die Elemente Erdzeitalter (-zän) mit dem Leviathan nach Thomas Hobbes Abhandlung über Politik und Macht (1651). Damit wird direkt begrifflich angedeutet, dass es sich um eine mehrere Jahrhunderte alte Entwicklung handelt.

Es ist schon faszinierend zu sehen, dass es gut 4,6 Milliarden Jahre gedauert hat, bis die Evolution des Planeten Erde eine mutmaßlich intelligente Spezies (homo sapiens) hervorbrachte - und der es innerhalb von knapp 300.000 Jahren schafft, seine eigene Lebensgrundlage zu zerstören. Noch ist es nicht so weit, doch die Zeit wird knapp. Dieser Gigatrend beschreibt damit die wichtigsten Ursachen und Auswirkungen des Leviathanozän - und vermittelt auch ein Gefühl dafür, wie es weitergeht.

Gigatrend 2: Postkapitalismus

In Zeiten der Globalisierung und Digitalisierung ist inzwischen vielen klar geworden, dass das Wirtschaftssystem, das unsere Vorfahren durch die ersten Wellen der Industrialisierung getragen hat, einer Neuausrichtung bedarf. Die ursprüngliche "New Work"-Idee nach F. Bergmann, Konzepte der "Doughnut-Economy" oder Kreislaufwirtschaft behandeln bereits die Fragen, wie eine sozial inklusive und ökologisch verträgliche Wirtschaft funktionieren kann. Leider haben es diese Ideen sehr schwer, zur etablierten, tendenziell konservativen Entscheidungsriege vorzudringen. Agilität, Kollaboration und Exnovation bieten Lösungsansätze, wie sowohl Unternehmen als auch Volkswirtschaften die Transformation schaffen können; doch alles beginnt bei einem neuen Menschenbild, das wenig mit dem anachronistischen Humankapital- und Controlling-Ansatz zu tun hat. Oft wird der Begriff Postkapitalismus reflexartig mit einer Abneigung gegen Kommunismus quittiert, doch darum geht es hier nicht; eher um eine Integration unterschiedlicher Systeme. Welche Elemente kennzeichnen die Ökonomie der Zukunft?

Gigatrend 3: Große Beschleunigung

Wir sprechen von Digitalisierung, Konnektivität, Vernetzung und Internet - doch wenige erkennen das große Muster dahinter. Die Bevölkerungsentwicklung seit der Zeitenwende, Ausbreitung der Menschheit über dem Globus, Konfrontation mit unterschiedlichen klimatischen Bedingungen und folglich "Innovation" bahnbrechender Entwicklungen haben sich schon früh angedeutet. Vielleicht ergeben sie auch erst in der Retrospektive eine logische Verknüpfung, doch genau darum geht es ja. Fragt sich: Wohin geht die Entwicklung? Bleibt die exponenzielle Kurve der technologischen Entwicklung erhalten? Wie verhält sich die technologische Geschwindigkeit im Verhältnis zur gesellschaftlichen und biologischen Komplexität?

Gigatrend 4: Vereinte Weltgemeinschaft

Kaum wurden die Menschen sesshaft und entwickelten komplexe Sprache (vor etwa 100.000 Jahren), begannen die Konflikte. Eine Prise Religion, dann der Maschendrahtzaun und schon hatten wir jahrzehntelange Kriege, Weltkriege, Kalte Kriege - Sie wissen schon. Wenn man die geopolitischen Konfliktlinien und -herde der letzten Jahre und sich andeutende Krisen analysiert, könnte man annehmen, dass es auch genauso weitergehen wird. Doch seit der Gründung der Vereinten Nationen, etwas später regionalen, transnationalen Verbünden wie der Europäischen Gemeinschaft, später Union, oder der Nato sollten größere Kriege der Vergangenheit angehören (was nicht immer gut funktioniert, wie wir aus den Kriegen im Irak, Afghanistan, der Krim, Bergkarabach, dem Nahost-Konflikt etc. wissen).

Doch seit Entwicklung von Atombomben stehen Mittel zur Verfügung, um in einer unkontrollierten Auseinandersetzung das Leben in weiten Teilen der Erde auszulöschen. Erzwungene Kooperation, wenn man so will. Fragt sich, wie es weitergeht, wenn die BRICS-Staaten, allen voran China und Indien, weiterhin ihr wirtschaftliches Wachstum aufrechterhalten können. Ein Ansatz zur friedlichen Integration und Inklusion findet sich in der uralten Idee der Tianxia. Im Gigatrend endet die Beschreibung der globalen Politik nicht heute, sondern einige Jahrzehnte oder Jahrhunderte in der Zukunft - wie kann es die Menschheit schaffen, sich nicht gegenseitig auszulöschen?

Gigatrend 5: Teilhabe

Der Zugang zu Nahrung, Sicherheit, Gesundheit, Einkommen, Bildung, Demokratie und anderen essenziellen Bestandteilen eines nach UN-Definition lebenswerten Lebens sowie gesetzlich verankerte Garantien für Minderheiten haben in den letzten 80 Jahren stetig zugenommen - wenn man von einigen Rückschlägen absieht. Immer mehr Staaten basieren auf rechtsstaatlichen Prinzipien, organisieren freie Wahlen für Parlamente oder Präsidentinnen, Minderheiten werden mindestens durch die Justiz geschützt. Auch die Gleichberechtigung von Frauen und nicht-binären Menschen (LGBTIQ*) hat sich drastisch verbessert. Es liegt noch ein weiter Weg vor uns bis zur wahren Gleichberechtigung, doch wir sind bereits ein gutes Stück vorangekommen. Angefangen hat diese Entwicklung nicht etwa nach dem Zweiten Weltkrieg oder in der Zeit der Aufklärung, sondern einige Jahrhunderte früher. Wohin führt uns der Weg der gleichberechtigten Teilhabe in Zukunft - dürfen dann auch Künstliche Intelligenzen an Wahlen teilnehmen?

Gigatrends: Kein Superlativ, sondern eine erweiterte Perspektive

An dieser Stelle endet meine kleine Einführung und, wenn Sie so wollen, die Vorschau auf mein Buch "Gigatrends". Es befindet sich noch in Entstehung, doch der Rahmen steht. Wenn Sie über die Veröffentlichung informiert werden wollen, tragen Sie sich am besten jetzt für meinen Newsletter ein; dieser erscheint maximal einmal im Monat, Sie brauchen also keine Angst vor einer E-Mail-Flut haben. Und wer weiß, vielleicht sehen Sie das Buch nächstes Jahr auch in Ihrem Buchladen - ich freue mich auf Ihr Feedback!

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Sonderband Zukunft der Arbeit Cover

Zukunft der Arbeit: Sonderband und Postkapitalismus

Gestern war es endlich soweit: Der Sonderband "Zukunft der Arbeit" von Prof. Dr. Jens Nachtwei und Antonia Sureth wurde veröffentlicht! 122 Fachartikel von 181 Autor*innen - das Themenspektrum reicht von (alternativen) Arbeitswelten über Bildung und Personalwesen, Organisation & Kollaboration und Führung zu technologischen Themen wie Künstlicher Intelligenz im Arbeitskontext. Natürlich gibt es auch Praxisbeispiele. Und das beste: der Band ist kostenlos verfügbar!

Achso, und: ich habe auch einen Beitrag geleistet: "Postkapitalismus: Systemfragen der 4. Industriellen Revolution" (S. 54-57). Hier geht's direkt zur Publikation:

www.SonderbandZukunftDerArbeit.de

Für Zitation bitte folgende Form verwenden: 

  • Nachtwei, J., & Sureth, A. (Hrsg.). (2020). Sonderband Zukunft der Arbeit (HR Consulting Review, Bd. 12). VQP.
    https://www.sonderbandzukunftderarbeit.de
  • Gondlach, K. A. (2020). Postkapitalismus: Systemfragen der 4. Industriellen Revolution. In J. Nachtwei & A. Sureth (Hrsg.), Sonderband Zukunft der Arbeit (HR Consulting Review, Bd. 12, S. 00-00). VQP. https://www.sonderbandzukunftderarbeit.de

Veröffentlichungsreihe
Die Veröffentlichungsreihe für Qualitätssicherung in Personalauswahl und -entwicklung (VQP) wurde 2012 zur Förderung des Austauschs von Forschung, Lehre und Praxis begleitend zur Vorlesung Personal- und Organisationsberatung von Jens Nachtwei am Institut für Psychologie der Humboldt-Universität zu Berlin ins Leben gerufen.

HR Consulting Review
Im Herausgeberband HR Consulting Review der Veröffentlichungsreihe stellen Praktiker*innen und Forscher*innen Projekte, Modelle und Sichtweisen sowie wissenschaftliche Studien vor. Die Themen stammen vorwiegend aus den Bereichen Führung, Personalauswahl, Personalentwicklung und Organisationsentwicklung.

Freier Zugang zu wissenschaftlichen Erkenntnissen bedeutet nicht, dass sie umsonst sind. Die Organisator*innen und Autor*innen haben überwiegend ehrenamtlich viel Zeit und Mühe in die Erstellung dieses Bands gesteckt. Bitte quittieren Sie diesen Dienst durch Verbreitung der Publikation, kritische Auseinandersetzung und proaktive Diskussion oder finanzielle Unterstützung der jeweiligen Institutionen. Danke!


10 Veränderungen nach Corona

Wissen Sie noch, was Sie am 12. März 2020 nachmittags gemacht haben? Ich war in einem Yamaha-Geschäft und habe diverse Klaviere ausprobiert. Eigentlich wäre ich in Wiesbaden bei der Aufsichtsratssitzung einer großen deutschen Versicherungsgesellschaft mit einer Keynote über zukünftige Lebens- und Arbeitswelten aufgetreten. Doch die Veranstaltung wurde wenige Tage vorher storniert. Dieses Storno wird nicht das letzte gewesen sein. Genauer gesagt hatte ich seit Anfang März überhaupt keinen physischen Bühnenauftritt mehr ☹. Dafür habe ich in meiner Wohnung ein tolles E-Piano stehen, das ich im Übrigen letztlich doch online bestellt habe. 😊

Warum ich Sie nach Ihrer Erinnerung frage, muss ich wohl nicht erklären. Das große C-Wort geht Ihnen doch sowieso schon auf die Nerven. Das kann vielfältige Gründe haben. Vermutlich leiden Sie oder Ihre Organisation wirtschaftlich unter den Auswirkungen der Pandemie und den Maßnahmen zur Eindämmung derselben. Oder Sie fühlen sich überfordert durch die Mehrbelastung von Job und Familie. Oder Sie haben das ganz große Los gezogen und wurden als systemrelevant eingestuft, haben Applaus geerntet, hatten aber weder Zeit noch Verständnis, diese Geste wertzuschätzen. Ihnen wäre Sonderurlaub und eine signifikante Gehaltserhöhung lieber, doch Sie sind ja intrinsisch motiviert und kümmern sich auch so um Ihre Patient*innen oder Kund*innen.

Der Blick zurück: Chronologie der Pandemie

Der 12. März 2020 wird wohl als Schwarzer Donnerstag in die Geschichte eingehen. Es war der Tag, an dem die Erde den Atem anhielt, als die Weltgesundheitsorganisation (WHO) den Ausbruch von COVID-19 zur Pandemie erklärte. Seitdem ist alles anders und wir leben im „neuen Normal“. Oder?

In meinem Artikel vom 24. März „Corona-Chance statt Corona-Krise” habe ich einige Einschätzungen über den Verlauf der Pandemie und deren Auswirkungen auf das „neue Normal“ geteilt. Der Anlass war, dass ich von immer mehr Medien zu Interviews nach meiner Perspektive gefragt wurde. In dem Artikel habe ich in erster Linie auf die positiven Nebeneffekte hingewiesen, darunter Entschleunigung durch den Lockdown und erhöhte Achtsamkeit. Ich habe – anders als in den Interviews mit Presse, Funk und Fernsehen – darauf verzichtet, den Anstieg der Gewalt und Orientierungslosigkeit abgehängter Bevölkerungsteile zu thematisieren. Warum? Weil Schrift geduldig ist und insbesondere „Prognosen“ in meinem eigenen Zlog auch nach vielen Jahren noch lesbar sein werden. Eine immense Herausforderung für Zukunftsforschende ist es, die eigenen menschlichen Instinkte beim Blick auf große Veränderungen zu ignorieren und stattdessen nach Mustern zu suchen. Das ist es, was ich mit den Perspektiven meine.

Hinzu kommt, dass insbesondere Zukunftsforscher*innen mit der hohen medialen Aufmerksamkeit eine immense Verantwortung tragen. Heißt im Klartext: Wenn Sie überwiegend Schattenseiten von Veränderungen medial vermittelt bekommen, werden Sie selbst gestresst und pessimistisch, was wiederum zu wenig zuversichtlichem Verhalten führt, was letztlich die Prophezeiungen erfüllt. Über diese oft unterschätzte Verantwortung habe ich Anfang August ebenfalls einen Artikel geschrieben – über (Fehl-)Prognosen und Verantwortung. Dabei bin ich auch ungewöhnlich streng mit meiner Branche ins Gericht gegangen. Aber was hat sich denn nun verändert – und welche Veränderungen stehen höchstwahrscheinlich noch bevor?

Der Blick nach vorn: 10 Veränderungen nach Corona

Wenn man von den offensichtlichen Veränderungen absieht – Menschen tragen Masken, die Wirtschaftsleistung und das globale BIP haben eine starke Delle erlitten, häusliche Gewalt ist angestiegen und die Zahl der Covid19-Opfer steigt ebenso wie die Wahrscheinlichkeit einer zweiten Welle –, sehe ich meine Aussagen zu grundlegenden Veränderungen bestätigt. Die globalen Lebens- und Arbeitswelten haben sich bereits schneller als gewöhnlich verändert. Zehn Beispiele:

1. Bewusstsein für Klimakrise nimmt zu

Satellitenbild von China im Januar / Februar von https://www.tagesschau.de/ausland/coronavirus-china-luftverschmutzung-101.html (Quelle: NASA)

Die Bilder aus China gingen um die Welt. Insbesondere Ballungs- und Industriezentren waren auf den Satellitenbildern der NASA kaum wiederzuerkennen. Was hier zu sehen ist, zeigt unleugbar den massiven Effekt des Verkehrs und industrieller Anlagen auf die Entwicklung von Feinstaub, CO2 und NO2 – die wiederum das Klima unseres Heimatplaneten zusehends aus der Balance bringen. Die globale Bewegung der #FridaysForFuture und anderer Klimaaktivisten fand damit neues Futter für ihre berechtigten Proteste. Natürlich wurden nicht sofort Maßnahmen beschlossen, immerhin hatte man gerade einen anderen Brand zu löschen. Doch immer weniger Regierungen und Wirtschaftsakteure können sich nun noch dem Befund widersetzen, der immer offensichtlicher zur größten Herausforderung unseres Jahrhunderts anschwellt: der menschengemachte Klimawandel. Großbrände, ungewöhnlich heftige Stürme, Temperaturkapriolen, Artensterben, Verwüstung und Nahrungsmittelengpässe rund um den Globus mobilisieren immer mehr Menschen der Zivilgesellschaft und auch der Politik, auch #ScientistsForFuture und #EntrepreneursForFuture haben sich der Bewegung zur Rettung des Planeten angeschlossen. Der Umbau zu einer postfossilen Wirtschaft ohne das Verbrennen von Öl und Kohle rückt in greifbare Nähe - dazu gehören außerdem eine massive Umschulungsrevolution, Verluste in Billionenhöhe an den weltweiten Märkten, geopolitische Spannungen zwischen Öl-Import- und Export-Nationen, aber eben auch eine Energierevolution mit großen Schritten hin zu Erneuerbaren Energien. Nach den 2020ern wird dann das Thema "kostenlose Energie" eine immer größere Rolle spielen, aber das muss uns heute noch nicht kümmern.

2. Geschlechtergerechtigkeit nimmt zu

Staaten mit weiblichen Regierungschefinnen verzeichnen signifikant weniger Sterbefälle durch Covid-19. Das sind vor allem Neuseeland (Premierministerin Jacinda Ardern), Deutschland (Kanzlerin Angela Merkel), Dänemark (Ministerpräsidentin Mette Frederiksen) und Finnland (Ministerpräsidentin Sanna Marin). In männlich regierten Staaten sterben 4,3-mal mehr Menschen am Virus (zur Studie). Es zeigt sich, dass in diesen Ländern öffentliche Gesundheit über die Interessen der Wirtschaft gestellt wurden. Dies wird langfristig die Geschlechterungerechtigkeiten ebnen, da aus humanistischer Perspektive das Wohlbefinden der Menschen einen höheren Stellenwert einnimmt als partikulare Interessen des Kapitalismus. „We should all be feminists“ lautet die Losung dieser Tage.

3. Neohumanismus wurde geboren

Es bildet sich allmählich eine starke Allianz des Neohumanismus, die einer schwindenden Gruppe konservativer, exklusiver Gruppen gegenübersteht. Der Gipfel dieser Spannungen ist der Disput um die prekäre Lage geflüchteter Menschen auf der griechischen Insel Lesbos und dem Lager in Moria. Vergleichbar mit dem Ansatz "Homo Amor" könnte all dem Hass, der Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz gegenüber anderen Kulturen langsam ein Verständnis für eine erstrebenswerte Zukunft aller Menschen unter dem Himmel Einzug halten. Das wäre dann ein Update des Humanismus aus der Epoche der Aufklärung.

4. Neue Zeitrechnung: n. Co. statt n. Chr.

Die ersten Menschen haben begonnen, die klassische Zeitrechnung, die sich auf die Geburt des christlichen Messias Jesus Christus bezieht, infrage zu stellen. Anstatt den 13. September 2020 anzugeben, spricht man vom Jahr 0 nach Corona oder kurz. Interessanterweise verbirgt sich dahinter auch eine säkulare Bestrebung vieler Menschen, die Zeitrechnung von der Weltreligion zu entkoppeln. Wenn sich dieser Trend durchsetzt, müssten alle Geschichtsbücher neu geschrieben werden – die französische Revolution fand im Jahr 231 v. Co. statt, der Zweite Weltkrieg endete 75 v. Co., Christoph Kolumbus „entdeckte“ Südamerika im Jahre 528 v. Co. und der zentrale Prophet der Christen wurde eben 2020 v. Co. geboren. In welchem Jahr wurden Sie geboren?

5. China gewinnt, Isolierung führt zu Machtverlust

Die Abschottung einzelner Staaten im Zuge des Lockdowns hat die diplomatischen Beziehungen weniger als befürchtet verändert, im Durchschnitt sogar positiv. Inter- und supranationale Kooperation stellt sich mehr und mehr als erfolgreiches Modell heraus. Der Gegenstrom exklusiver, protektionistischer und bedrohender Politik zeigt seine Auswüchse gerade in den USA, deren demokratische Basis gerade vor den Augen der Welt zerschmettert wird. Eins der wahrscheinlichsten Szenarien geht davon aus, dass China schon sehr viel früher als erwartet die USA als Weltprimus ablösen wird.

6. Beyond Homeoffice: Demokratisierung der Arbeitswelt

Natürlich hat das massenhafte Homeoffice diese Entwicklung verstärkt. Homeoffice wiederum finde ich aus der organisationskulturellen Perspektive viel spannender; selbst Organisationen, die ihre Mitarbeiter vor Corona unter keinen Umständen von zuhause oder unterwegs arbeiten lassen wollten, konnten plötzlich ganz schnell umstellen. Immerhin ging es um den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens – das Kurzarbeitergeld hat man natürlich trotzdem gern mitgenommen. Der Großteil ist leider nach den ersten Lockerungen wieder komplett zurückgerudert. Doch die Angestellten sind auf den Geschmack gekommen, fordern via Betriebsrat und Gewerkschaft ein Recht auf Telearbeit. Insofern schließt sich hier die Klammer zwischen Digitalisierung und New Work, welche beide durch Corona massiv beschleunigt wurden (auch wenn New Work natürlich viel mehr als Homeoffice ist, aber das ist hier nicht Kernthema).

7. Die 2020er gebären den Postkapitalismus

Das Wirtschaftssystem aus Makroperspektive ist erst seit wenigen Jahrhunderten, wenn nicht gar Jahrzehnten in seiner heutigen Form. Kapitalismus und soziale Marktwirtschaft haben uns Globalisierung, regionalen Reichtum und Vernetzung beschert – doch schon merken wir als Spezies, welche Geister wir riefen. Während einerseits die Profite einzelner Akteure, Gebiete oder Staaten kontinuierlich steigen und die umliegenden Bevölkerungen immer weiter von „oben“ entfernt sind (messbar am Gini-Koeffizienten, auch „Einkommensschere“ genannt), suchen findige Technologen und Milliardäre nach Möglichkeiten, andere Planeten zu besiedeln. Die wissen schon, warum. Andere arbeiten an Lösungswegen, unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem an die modernen Begebenheiten anzupassen. Prof. Dr. Niko Paech dürfte der bekannteste deutsche Vertreter einer Postwachstumsökonomie sein, die mitunter auch Postkapitalismus genannt wird – hierzu habe ich einen Beitrag fürs „HR Consulting Review“ unter Federführung von Prof. Dr. Jens Nachtwei von der Berliner Humboldt Universität geschrieben (erscheint bald). Klar ist: Kapitalismus funktioniert gut, lässt aber wichtige Umweltfaktoren außer Acht. Und: die Regeln an den Märkten müssen sich diesen Rahmenbedingungen anpassen und bspw. ökologische und soziale Umweltfaktoren der gesamten Wertschöpfungskette berücksichtigen. Die derzeitige Form des Kapitalismus wird die 2020er Jahre in Summe nicht überleben, wenn wir als Spezies überleben wollen.

8. Wohlstandsverteilung wird dezentralisiert

Das globale Finanz- und Geldsystem wird derzeit einer gehörigen Zerreißprobe unterzogen. Bargeld wird zunehmend als Überträger von Viren und Bakterien konnotiert, Menschen (sogar in Deutschland!) lernen die Vorzüge kontaktloser Bezahlung kennen und reagieren inzwischen empört, wenn ein Restaurant oder Kiosk keine Kartenzahlung akzeptiert. Ökonomen sind sich uneins, ob wir auf Bargeld verzichten können; Bürger*innen hadern mit der gefühlt erhöhten Transparenz ihrer Ausgaben; Schmiergelder werden auch heute noch in den allseits bekannten Aktenkoffern in kleinen Scheinen transportiert. Auf der anderen Seite sind in den letzten Monaten die Kurse einschlägiger Kryptowährungen wie Bitcoin, Ethereum oder MIOTA gestiegen. Mehr Menschen probieren die digitalen Münzen aus und unterwandern damit das klassische Geldsystem – dabei schmeckt die mit Bitcoin bezahlte Pizza von Lieferando genauso gut, wenn nicht besser. Große Wirtschaftsräume (darunter die EU und China) bringen eigene Kryptowährungen auf den Weg. Hinzu kommen die erwartbaren Schwankungen an den Börsen, noch mehr Kursveränderungen, Käufe und Verkäufe in atemberaubender Geschwindigkeit. Es kann nicht mehr lange dauern, bis echte Börsentransaktionssteuern eingeführt werden. Damit hätten wir es mit einem historischen Schritt hin zu dezentralisierten, gerechteren Verteilungsmechanismen von Geld mit globalem Maßstab zu tun.

9. Digitale Transformation beschleunigt Zerfall alter Industrien

Digitalisierung hat einen Turbo erhalten. Die größten Gewinner der Pandemie sind Technologieunternehmen, die weltweit Hunderttausende ungeplante Geräte produzieren mussten, um den Bedarf der isolierten Bevölkerung zu decken. Automatisierung von Tätigkeiten ist schlagartig wieder auf die Agenda vieler Unternehmen und Behörden gerückt, da Menschen aus Gründen der Sicherheit einige Aufgaben schlicht nicht mehr ausführen konnten. Insbesondere die Automobilindustrie hat es hart getroffen, einer der größten Zulieferer der Welt mit Sitz in Deutschland hat unlängst geplante Stellenstreichungen in fünfstelliger Höhe bekannt gegeben. Auf der anderen Seite hat sich das schlechte Urteil der Zeitgemäßheit unseres Gesundheits- und Bildungssystems bewahrheitet. Auch die globalisierten Wertschöpfungsketten sind offensichtlich nicht pandemiefest, weshalb ein unaufhaltsamer Relokalisierungstrend eingesetzt hat. Dies wiederum wird die Preisgefüge ordentlich durcheinanderbringen.

10. Agilität gewinnt den Kampf um das perfekte Management

Organisationen haben in Summe verstanden, dass starre Organisationsformen gegen externe Schocks nicht nur schlecht, sondern überhaupt nicht gefeit sind. Die zwei wichtigsten Konsequenzen daraus: Organisationen stellen immer mehr auf agile(re) Strukturen und Projekte um (Mikroebene), was den Wettbewerb innerhalb von Branchen anheizt und vom Markt hin zum Geschäftsmodell treibt (Mesoebene) und schließlich in einem veränderten Wirtschaftssystem gipfeln wird (Makroebene).

Puh. Das war viel. Und es war erst der Anfang. Mir wurde gesagt, meine Artikel sind manchmal grenzwertig lang, aber so ist das mit der Zukunft bzw. Zukünften: Sie sind komplex und wir machen es uns sehr oft zu leicht, wenn wir diese Komplexität aus Bequemlichkeit reduzieren.

Der Blick nach Innen: Wie geht es für Sie weiter?

Man könnte über die Veränderungen und Kontinuitäten ganze Bücher schreiben – doch in dem Moment, in dem das Buch dann aus dem Druck kommt, sind die Grundlagen der Prognosen bereits veraltet. Daher möchte ich Sie auch vorsichtig vor kürzlich erschienenen Büchern über die Welt nach Corona warnen. Die können allenfalls als Unterhaltungsliteratur dienen. Aber gründen Sie bitte keine Strategien oder andere weitreichende Entscheidungen auf ihnen.

Sehr wohl lohnen sich jedoch spezifische, tiefgründige Analysen einzelner Aspekte des Wandels. Somit möchte ich zum Ende dieses Artikels einmal mehr für wissenschaftliche Zukunftsforschung werben. Zudem möchte ich Sie einladen, meine unabhängigen Forschungsergebnisse für sich zu nutzen. Das kann über folgende Formate geschehen:

  • Keynote: In meinen Vorträgen liefere ich Ihnen Insider-Wissen über aufkommende Trends und vermittle komplexe Zusammenhänge auf unterhaltsame Weise. Die Themen reichen von „zukünftigen Lebens- und Arbeitswelten“ über die in diesem Artikel skizzierten Entwicklungen rund um die Frage, wie es nach Corona weitergeht, bis zu speziellen Trend-Vorträgen über Künstliche Intelligenz, New Work oder Innovationsmethoden. Erfahren Sie mehr über meine Vorträge.
  • Texte: Für Ihr Mitarbeiter- oder Kundenmagazin schreibe ich fundierte Artikel zu einem Thema Ihrer Wahl. Erfahren Sie mehr über meine Autorenbeiträge.
  • Foresight: Sie planen eine Zukunftsstudie, beispielsweise unter Einsatz der Delphi- oder Szenariomethode und benötigen erfahrene Zukunftsforscher? An dieser Stelle helfe ich in Form von Prozessberatung oder methodischer Durchführung. Erfahren Sie mehr über meinen Forschungsansatz.
  • Coaching: Einzel- oder Gruppengespräche, um Sie besser mit den Grundlagen der Zukunftsforschung sowie den diversen Mehrwerten für sich und Ihr Unternehmen vertraut zu machen.

Schreiben Sie mir einfach eine Mail und wir finden eine Lösung.

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Vieles aus diesen Einschätzungen habe ich auch im EU Strategic Foresight Report 2020 gelesen. Diese Lektüre möchte ich Ihnen gern ans Herz legen.


Das Ende der Globalisierung?!

Im Juni habe ich mir ein Lesezeichen für eine Studie von Prognos AG und BayernLB gesetzt: "Das Ende der Globalisierung - braucht Deutschland ein neues Geschäftsmodell? Wie Unternehmen jetzt die Weichen richtig stellen". Diese ist meiner Meinung nach untergegangen, aber dafür gibt es natürlich gute Gründe. Nennen wir es das C-Argument. Da die Studie aber wirklich wichtig ist, möchte ich dazu meine Zukunftsforscher-Einschätzung teilen.

Kernaussage der Studie ist: Deutschland braucht ein neues Geschäftsmodell und das "Ende der Globalisierung" sei erreicht. In der Studie werden natürlich auch Wege aus dem Dilemma besprochen, die Lektüre empfehle ich nachdrücklich. Nun aber zu meiner pointierten Einschätzung.

Zustimmung: Deutsche Unternehmen verschlafen den Wandel

Unternehmen in Deutschland sind durchschnittlich zu konservativ, zu unambitioniert und neigen zu blinder Pfadabhängigkeit, wenn es um ihre langfristigen Strategien geht. Nach dem Motto "haben wir schon immer so gemacht!" konzentriert man sich hierzulande gern an den bestehenden Lieferantenbeziehungen und Absatzmärkten (sorry für die Plattitüde, das trifft sicherlich nicht auf alle zu - hier schreibe ich über die träge oder angsterstarrte Mehrheit). Diverse Studien und Dossiers attestieren und bemängeln, dass Digitalisierung in Deutschland nach wie vor auf Kosten der nationalen Wirtschaftsleistung und des BIP stiefmütterlich behandelt wird, vor allem zulasten des internationalen Wettbewerbs um die Vorherrschaft der digitalisierten Weltökonomie.

Ein Beispiel: Oft ist die Rede davon, dass wir bereits die zweite Halbzeit der Digitalisierung verloren hätten. Das klingt so, als wäre das Spiel bereits vorbei - das ist nicht ganz richtig. Es verdeutlicht aber anhand der klassischen Rasensportmetapher, dass "wir" nicht mehr gewinnen können. Diese Befürchtung teile ich, wenn man "normale" Rahmenbedingungen voraussetzt und die Gewinnbedingungen klar definiert. Aber: Wie wir alle wissen, sind diese aber im Jahr 1 nach Corona die Spielregeln andere als gewöhnlich, weshalb sich die wissenschaftliche Zukunftsforschung aktuell mit Prognosen zurückhält und primär (oft normative) Szenarien formuliert. Ebenso werden auch die Karten in puncto Digitalisierung neu gemischt. Insbesondere die ohnehin bereits vorreitenden Hightech-Konzerne nutzen die Ausnahmesituation, um ihre Produkte und Lösungen in noch mehr Märkte zu bringen und Steueroasen noch rücksichtsloser auszunutzen. Und an der Stelle wird deutlich, dass der Vorsprung dieser Giganten, die ich gern mit den beiden Akronymen G-MAFIA (Google/Alphabet, Microsoft, Apple, Facebook, IBM, Amazon) und BAT (Baidu, Alibaba, Tencent) abkürze, Globalisierung besser verstanden haben als etwa deutsche Unternehmen. Diese neun Unternehmen investierten bereits vor der Covid19-Krise teilweise mehr Geld in die Entwicklung Künstlicher Intelligenz als die Bundesrepublik Deutschland; glauben wir dem Mooreschen Gesetz der exponentiellen Effizienzsteigerung der IT, verdoppelt sich der Vorsprung der Maschinen (und hier sehe ich auch KI-Algorithmen und deren Leistung) etwa alle zwei Jahre. Das bedeutet, dass sich der Vorsprung des internationalen Wettbewerbs ebenfalls exponentiell vergrößert, je länger Unternehmen hierzulande warten.

Also: Höchste Zeit für Veränderung!

Ablehnung: Globalisierung hat gerade erst begonnen!

Der Titel der Prognos-Bayern LB-Studie "Das Ende der Globalisierung" erinnert sicherlich nicht durch Zufall an das Buch von Francis Fukuyama "Das Ende der Geschichte", das nach dem Zusammenbruch der UdSSR herauskam und den Sieg des Kapitalismus über den Kommunismus proklamierte. Danach kam alles anders, wie wir wissen, und die Geschichte war natürlich nicht zu Ende. Auch nicht die Auseinandersetzung konfligierender Wirtschaftsordnungen. Ebenso wenig ist das Ende der Globalisierung erreicht (selbstverständlich ist das auch nicht die einzige Aussage der hier behandelten Studie).

Erstens sollte die Kernaussage der Studie vielmehr sein, dass die klassischen Absatzmärkte und Erlösströme insbesondere für die deutsche Wirtschaft deutliche Anzeichen einer Sättigung zeigen. Hinzu kommt, dass der Anteil intangibler Produkte (Lösungen, Dienstleistungen und digitale Geschäftsmodelle) ungebremst ansteigt. Und, was der deutschen Erfinderseele Kopfzerbrechen bereitet: die wertvollsten Geschäftsmodelle der letzten Jahrzehnte wurden allesamt außerhalb Deutschlands entwickelt und höchstens hier kopiert. Einige behaupten sogar provokant, dass seit der Entwicklung des Automobils keine größere, wertvolle Erfindung mehr aus Deutschland kam. Kennen Sie ein Gegenbeispiel?

Zweitens ist die Globalisierung natürlich nicht am Ende. Auch wenn dies der Titel lediglich suggerieren soll und der Volltext der Studie besser aufklärt, möchte ich hier vehement widersprechen. Nur weil die klassischen Absatzmärkte der "Ersten Welt" gesättigt sind und die deutschen Produkte keinen Anklang mehr finden, heißt das noch lange nicht, dass die Nachfrage weltweit gedeckt ist. Aufstrebende Ökonomien (insb. Indien, Irak, Philippinen, Vietnam und Ägypten) verzeichnen einen stark steigenden Bedarf an Produkten und Lösungen der zweiten und dritten Industrie-Zeitalter. Einige von ihnen wiederum haben den Begriff Leapfrogging bzw. Reverse Engineering geprägt: Zwischenschritte der technologischen Entwicklung werden schlicht übersprungen. So verfügen einige afrikanische und südostasiatische Staaten kaum über klassische Überland-Telefonverbindungen, Einwohner*innen können jedoch über Handys und Smartphones aufs mobile Netz zugreifen. Außerdem ist die Globalisierung der Wirtschaft nach klassischer Lesart noch lange nicht beendet, man muss sich nur die Entwicklung von IoT- (Internet der Dinge) und Smart City-Lösungen ansehen. Schade, dass auch hier nur wenige deutsche Unternehmen in der ersten Reihe tanzen.

Drittens würde ich weniger vom Ende der Globalisierung als vom Ende des Kapitalismus in seiner jetzigen Form sprechen. Kapitalismus zeichnet sich dadurch aus, dass er sich durch Krisen eher mithilfe von "Mutationen" an die neuen Gegebenheiten anpasst. Er ist sozusagen agiler als kommunistische oder sozialistische Modelle, die bislang an der Realität gescheitert sind. Was wir jetzt nicht brauchen, ist ein Erstarken der kommunistischen Idee - immerhin stammt diese aus der Zeit vor der Globalisierung, welche wir aber nicht mehr zurückdrehen können und daher mit dem alten Welt-Entwurf eher in die vorindustrielle Zeit zurückkatapultiert wären. Die Idee mag vereinzelt Zuspruch finden, dürfte aber weit mehr Existenzen gefährden als absichern. Was wir brauchen, ist ein globaler Dialog über eine neue Form des Kapitalismus, oft Postkapitalismus oder postmoderner Kapitalismus genannt. Dazu gehören neue Formen einer Regulierung von internationalen Monopolen, (strafrechtliche) Verfolgung von digitalen Verbrechen, Fake news oder Hatespeech und natürlich eine Bepreisung negativer ökologischer Fußabdrücke.

Ergänzung: Exnovation und echte Weltpolitik

Alle Welt bemängelt immer einen niedrigen Innovationsgrad von Unternehmen oder Volkswirtschaften. Dass eine zentrale Herausforderung der Menschheit genau das Gegenteil verlangt, wird dabei fast immer übersehen. Ich rede von Exnovation (darüber habe ich in meinem Zlog schon mal aufgeklärt). Exnovation heißt, sich von unnötigen Altlasten und vergangenen Innovationen zu verabschieden, wenn diese ihren Zweck nicht mehr erfüllen. Es ist die bewusste Entfernung schädlicher Lösungen. Dazu gehören einige etablierte, (noch) sehr umsatzstarke Wirtschaftszweige wie die karbonisierte Energie- und Mineralölwirtschaft, die mittelbaren Massenbranchen wie die Automobil- und Luftfahrtindustrie und natürlich althergebrachte Organisationsmodelle, die zu Zeiten der ersten industriellen Revolution entwickelt wurden und vom ungelernten Fließbandarbeiter als Norm ausgingen (auch über New Work habe ich schon mal gezloggt). Die heutige Realität - und ich meine noch nicht einmal das "neue Normal" mit Covid19 - unterscheidet sich fundamental von derjenigen, die diese und weitere Innovationen hervorgebracht hat. Insbesondere "Klimawandelbeschleuniger" und Effizienzbremsen müssen jedoch so schnell wie möglich unter Einhaltung gesellschaftlicher und ökologischer Standards durch neue Lösungen ersetzt werden. Das ist die größte Herausforderung der Menschheit - nicht, wie das neue Geschäftsmodell Deutschlands aussehen soll.

Die neue Realität verlangt globale Lösungen und weniger Denken in Grenzen - sowohl politisch als auch im übertragenen Sinne ökonomisch. Also think outside the box. Alles andere wäre per definitionem Wahnsinn.

Wie?

Mehr Mut zur Veränderung und für neue Organisationsformen bei gleichzeitig verantwortungsbewusstem Umgang mit den Angestellten und der Ökologie. Ist doch ganz einfach.

Ich frage mich immer, warum so wenige Entscheider*innen hierin die win-win-Situation sehen, die so offensichtlich zu sein scheint. Systemgrenzen sind so furchtbar rigide. Die klassische "Taktik des Abwartens" ist jedenfalls eine gefährliche Karte, auf die ich nicht setzen würde.

Es wird Zeit, eine integrative, inklusive und handlungsfähige Weltpolitik und -wirtschaft zum Wohl aller Menschen zu begründen, wenn wir unseren Kindern und Enkeln einen lebenswerten Planeten hinterlassen wollen (s. auch Stichwort Tianxia). Was wir dafür brauchen? Das kann kein Mensch genau sagen. Es würde aber helfen, sich einem bewusst zu werden und dieses Bewusstsein ideell und institutionell zu verankern: jeder Mensch ist wichtig und einzigartig, unsere biologischen Grundbedürfnisse jedoch sind überall gleich - die Erfüllung dieser Bedürfnisse überall sicherzustellen, die Millennium Goals weltweit schnellstmöglich zu erreichen und Schicksale nicht in Geld umzurechnen, ist eine wichtige Bedingung, um aus dem "Ende der Globalisierung" kein "Ende der Menschheit" zu machen.

Photo by Morning Brew on Unsplash


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