Letztes Corona-Update: Resilienz 2022+

Wer hat noch Lust auf mehr oder weniger kluge Beiträge über Corona / Covid19? Ich auch nicht. Fast ein Jahr ist es nun her, dass ich mit meinem Pandemie-Beitrag einige Gemüter erhitzt habe. Am 28. Feburar 2021 veröffentlichte ich meine Gedanken darüber, wie wohl der Corona-Sommer 2021 verlaufen könnte und schrieb unter anderem in eine Zwischenüberschrift "Querdenker töten":

https://www.kaigondlach.de/artikel/wie-wird-der-corona-sommer-2021/

Und wo stehen wir jetzt?

Inzwischen ist der Plan der Durchseuchung der Gesellschaft mit Corona (v. a. Delta und Omikron) längst Realität, auch die neue Bundesregierung setzt der kollektiven Verwirrung wenig entgegen und meine Wünsche für beherzte Maßnahmen für mehr Bildung, Gerechtigkeit und Demokratie wirken inzwischen utopisch. Sind wir hier etwa nicht bei "wünsch dir was"? Natürlich nicht.

Dazu fällt mir ein Zitat des Schweizer Schriftstellers Kurt Marti ein:

Wo kämen wir hin, wenn jeder sagte, wo kämen wir hin und keiner ginge, um zu sehen, wohin wir kämen, wenn wir gingen?
Kurt Marti, 1921-2017

Gerade erleben wir eindrucksvoll die Antwort auf diese geniale rhetorische Frage.

Resilienz nach Corona

Die kollektive Krisenerfahrung, die die Menschheit hätte zusammenschweißen können, hat eher zu einer Vertiefung der Gräben geführt. Auch global. Denn schaut man sich den Impfstatus der Staaten bei Statista an, bildet dieser natürlich die Verteilung des globalen Bruttoinlandsprodukts ab. Einerseits konsequent, andererseits weit entfernt von den ach so humanistischen Idealen der Weltgemeinschaft. Andererseits weisen nicht immer demokratische Staaten die höchste Impfquote auf, so führen die Vereinigten Arabischen Emirate die Tabelle an, auch in den Top 10: China und Kambodscha (Quelle: NZZ).

Derweil prallen Meinungen, Gruppen und sogar Staaten aufeinander wie lange nicht mehr. Inzwischen erleben wir die Neuauflage des Kalten Kriegs, der umso heißer wird, je leidenschaftlicher einzelne Menschen oder ganze Staatsregierungen auf ihrem Ego bestehen, anstatt die Argumente der Gegenseite anzuhören. Ob es um die Herkunft des Virus oder die Blockkonfrontation im europäischen Osten geht, die so hoch gelobte Individualisierung hat uns in einen Hobbes'schen Krisenzustand geführt, in dem wieder jeder Mensch des anderen Menschen Wolf ist. Wer nicht meine Ziele unterstützt, ist ganz klar mein Feind - so scheint das Credo vieler (insb. Social Media) Aktivisten.

Leider hat sich parallel der Zustand der Demokratie weltweit verschlechtert, wie die letzte Aktualisierung der berühmten Economist-Studie zeigte; nur noch etwa 45,7 Prozent der Weltbevölkerung lebt in einer Demokratie ggü. 49,4 Prozent im Jahr 2020. Anders als einige Trendforscher und andere Propheten hat sich also leider keine sprunghafte Verbesserung von praktisch allem durch die Pandemie ergeben. Schade.

Corona im Sommer 2022+

Wagen wir also eine (hoffentlich) letzte Prognose, wie es mit der Corona-Pandemie weitergeht. Die Grundbedingungen sind wenig rosig, doch es gibt natürlich auch Hoffnung. Zunächst die Sorgen.

Wir spazieren barfuß auf dem Scherbenhaufen, vielleicht unterlassen Verantwortliche deshalb ruckhafte oder große Schritte. Das Vertrauen in Politik und Medien hat seinen Tiefpunkt erreicht, was eigentlich ein Indiz dafür ist, dass sich "die Medien" oder "die Politik" eben nicht besonders gut absprechen (konträr zur Meinung eines großen Teils der "Systemkritiker"). Wer schon während der Bundestagswahl und den Koalitionsverhandlungen insbesondere gegen den rot-grünen Part der Ampel war, wird nun wenig Verständnis für jede Form der Politik haben. Es ist ja viel einfacher, sich weiterhin auf der eigenen Meinung auszuruhen und die eigene Dagegenheit zur Schau zu tragen, gern bei den grenzwertigen Spaziergängen.

Hoffnung habe ich in folgenden Dimensionen:

  • Dank moderner Technologie, öffentlichem Interesse und großen Anstrengungen auf politischer und gesellschaftlicher Ebene ist es sehr schnell gelungen, wirksame Impfstoffe in Rekordzeit zu entwickeln. Ich bin kein bedingungsloser Fan sämtlicher Maßnahmen zur Eindämmung und Bekämpfung der Virusausbreitung. Im Großen und Ganzen jedoch geht aktuell leider auch schnell wieder unter, wie privilegiert wir im globalen Norden sind, überhaupt Zugang zu Hygiene und Gesundheitsversorgung im Allgemeinen, zu einer breiten Auswahl von Impfstoffen im Speziellen zu haben.
  • Inzwischen ist empirisch recht gut belegt, dass die Mehrheit der Gesellschaft wenig mit Systemrevolte anfangen kann. Die offiziellen Querdenker-Kanäle sind inzwischen an sich selbst und der Realität zerbröselt, teilweise wurden sie aufgrund der klar systemfeindlichen und nicht selten rassistischen oder antisemitischen Kultur zensiert oder gar verboten. Wer jetzt auch noch den Mut hat, seinen Egotrip zu beenden und Fehler einzugestehen, sollte dafür Anerkennung erhalten. Amnestie für Querdenker!? Das Paradoxe: Inzwischen zieht es einen ordentlichen Teil der Systemopposition aus demselben Grund in die Normalität wie die demokratische Mehrheit - die Schlacht wurde verloren, einige zentrale Köpfe der Bewegung sind gefallen, also zurück zur scheinbaren Konformität.
  • Apropos Köpfe: Die Pandemie hat viele kreative und innovative Köpfe zusammengebracht. Einige davon habe ich in meinem Podcast befragt. Ob Nachhaltigkeit, Bildung oder Digitalisierung - nicht alles stand in den letzten zwei Jahren still. Vieles ging in die richtige Richtung, wenn man etwas Mut zur Lücke hat, wird man als Optimist ein Leuchten am Ende des Tunnels sehen.
  • Apropos Ende des Tunnels: Mit der Corona-Variante Omikron ist nicht zu spaßen. Nein, auch sie kann tödlich verlaufen, gestern (13.02.2021) sind 42 Menschen in Deutschland am Virus gestorben, aktuell heute wird voraussichtlich die Marke von 120.000 Corona-Toten überschritten (Quelle: RKI). Dennoch ist die Hospitalisierung und auch die Sterberate mit dem Rückgang von Delta ebenfalls gesunken. Aus Perspektive des Virus macht das sogar Sinn: möglichst viele Wirte infizieren, sie aber nicht töten, um anschließend weiterleben zu können. Das heißt für unsere Pandemie-Prognose folgendes: Die Zeichen stehen auf ein baldiges Ende der Corona-Pandemie. Juhu! Dass das nicht bedeutet, dass wir komplett durchatmen können, versteht sich von selbst. Endemie ist nicht gleich: ungefährlich.

Was ist jetzt zu tun für mehr Resilienz?

Aber was wäre dieses Zlog ohne ein paar Denkzettel für die nächsten Monate? Also los:

  • Wie ich in meinen letzten Vorträgen zum Thema "Resilienz" gebetsmühlenartig wiederholt habe, ist es nicht damit getan, eine Krise durchzustehen. Klar, als erstes gehört zur Verarbeitung einer schlimmen, traumatischen Erfahrung das Zurechtfinden in der neuen Normalität. Also: Euphorie, Party, Freedom Day! Danach geht's aber an die Aufarbeitung. Nicht zurück zum alten Normal, das ist völliger Unsinn. Es gehört zu jeder vernünftigen Krise, dass das alte Normal mit ihr stirbt. Wer versucht, daran festzuhalten oder dahin zurückzukehren, wird wahnsinning. Ich kenne das unter der Erfahrung einer PTBS. Insofern wünsche ich mir von einer mündigen Zivilgesellschaft, dass sie sich spätestens 2023 an eine umfangreiche Aufarbeitung der Krise, ihrer Ursachen und einer Neugestaltung auf Systemebene setzt.
  • Systemebene heißt nicht einfach nur "die Politik", die dank unklarer Kommunikation zu viele Flanken geboten hat, um sogar im Zentrum der Demokratie immer wieder Angriffe hinzunehmen. Die Liste ist zu lang für einen kurzen Beitrag. Systemebene heißt aber eben auch ein neues Selbstverständnis "der Wirtschaft", in dem es nicht mehr sanktioniert werden darf, wenn man sozial und/oder ökologisch wirtschaftet. Der Wandel hat begonnen, doch mit ausschließlich Selbstverpflichtungen wird er zu lange dauern. Wir müssen uns auch wagen, Kapitalismus neu zu denken und wer jetzt automatisch "Sozialist!" rufen möchte, sollte nochmal nachdenken. Das ist keineswegs gemeint, sondern eine verbesserte Neuauflage der sozialen Marktwirtschaft. Und ja, das lohnt sich auch oder insbesondere, wenn anderswo die Demokratie abnimmt.
  • Nach der Pandemie ist vor der Pandemie. Wie ich schon am 03.07.2021 in meinem Mini-Podcast "Kai for Future" berichtet hatte, warnte der Weltbiodiversitätsrat (Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services, kurz IPBES) Mitte 2020 davor, andere Viren zu unterschätzen, während die globale Aufmerksamkeit auf Sars-Cov-2 ruht. Wörtlich sagte ich dann:

Es wird geschätzt, dass 1,7 Millionen Viren mit Säugetier- oder Vogel-Wirten aktuell noch unentdeckt sind, von denen wiederum 631-827 Tausend das Potenzial haben, Menschen zu infizieren. Nochmal die Zahl: durchschnittlich 730.000 Erreger warten nur darauf, Menschen zu infizieren. Dazu gehören u.a. einige weitere Coronaviren, aber auch der alte Bekannte H5N1 - Vogelgrippe - und dessen Mutationen.
Kai Gondlach in "Kai for Future" am 3.7.2021

Auf der Website des IPBES findet man alle Daten dazu. Kurz: Wir kommen nicht umhin, die Ursachen der Pandemie gründlich aufzuarbeiten und strukturelle Faktoren zum Teil großzügig anzupassen. Wie früher beschrieben, gehören dazu teils drastische Maßnahmen, die weniger drastisch wären, wenn man früher agiert hätte. Stichwort: Zukunftsforschung.

Und dann? Aufbereitung letzte Pandemie, Vorbereitung auf die nächste

Um die Einstiegsfrage aufzugreifen: Wer hat Lust auf noch eine Pandemie?

Ich denke, niemand. Insofern bereiten Sie sich gern innerlich schon mal darauf vor, auch in den nächsten Jahren zum Teil erhebliche Veränderungen im Alltag wahrzunehmen. Die steigenden Energiepreise der letzten Wochen sind ein erstes Indiz dafür, ähnlich wird es mit einigen Lebensmitteln - vor allem weit gereisten und ökologisch wenig nachhaltigen, wie insbesondere Fleischwaren - ablaufen. Hinzu kommen immer weitere Varianten bzw. Mutationen des vorhandenen Virus. Komplexe Lieferketten werden sich umstellen, Produktion weiterhin regionaler stattfinden. Und da haben wir noch nicht über politische Ungewissheiten wie den "neuen" Block Russland-China gesprochen, der sicherlich einige Auswirkungen auf den "Westen" im Gepäck hat. Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.

Ich bleibe dabei: Zukunft ist eine Frage der Perspektive. Wenn wir uns eine gute Zukunft wünschen, müssen wir auch etwas dafür tun.

Photo by Joshua Rawson-Harris on Unsplash


Szenariotechnik

Szenarien geistern durch die Medien wie Fruchtfliegen um einen sommerlichen Obstteller. Ähnlich hilfreich sind sie meist. Der Begriff „Szenario“ ist nicht geschützt, was dazu führt, dass jede*r Journalist*in oder Trendforscher*in sich eine Geschichte ausdenken und diese Szenario nennen kann. Das ist auch bequem. Nur leider hat das nichts mit Forschung oder gar Wissenschaft zu tun. Auch in vielen BWL-nahen Studienfächern ist die Szenarioentwicklung leider stark komprimiert. In der Regel betrachtet man dann nur ein Status-Quo-Szenario, ein positives und ein negatives Szenario. Das hat nur mit den realen Rahmenbedingungen und Einflussfaktoren wenig zu tun, taugt eher für einen internen Strategieprozess, nicht aber für die Abbildung komplexer, externer Sachverhalte.

Daher möchte ich hier die ausführliche Szenariomethode, wie sie die akademische Zukunftsforschung (oft) praktiziert, mit Ihnen teilen. Was ich damit sagen will: Es ist alles andere als trivial, sich Szenarien zu überlegen. Und wie so oft wird im Ergebnis nicht auf den ersten Blick deutlich, wie viel Arbeit und Zeit in den recht formalisierten Prozess fließt.

Wenn Sie eher an einem konkreten Beispiel interessiert sind, schauen Sie am besten hier vorbei: Szenariotechnik US-Wahl

Abgrenzung Szenarien der Zukunftsforschung

Es gibt zwei fundamentale Unterschiede zwischen Alltagsszenarien und solchen, die in formalisierten Prozessen entstehen. Szenarien der Zukunftsforschung sind…

  • formalisiert statt intuitiv. Bauchgefühl kann jede*r.
  • konsistent und plausibel statt wahrscheinlich. Warum das wichtig ist, folgt später.

Wichtig: Mit Szenarien sagen wir nicht die Zukunft voraus, sondern schaffen Orientierungswissen für strategische Entscheidungen, gewissermaßen wenn-dann-Pfade, die im späteren Eintreten oder der Veränderung wichtiger Variablen Gold wert sein können.

Erste Schritte im Szenarioprozess

Zu Beginn eines Szenario-Prozesses müssen zunächst ein paar grundsätzliche Fragen geklärt werden:

  • Modalität: explorative oder normative Szenarien?
  • Zeitbezug: Situations- oder Verlaufsszenarien? Welcher Zeitrahmen – fünf, zehn, hundert Jahre?
  • Fokus: System-, Umfeld- oder Gemischtszenarien?
  • Kontinuität: Referenzszenarien (Trend-, Status Quo- oder Business-as-usual-Szenarien?) oder Kontrastszenarien mit Wild Cards, Worst oder Best Cases?

Des Weiteren sind natürlich die üblichen Fragen eines jeden Strategie- oder Forschungsprojekts zu klären. Welchen Zweck hat dieser Prozess? Welche Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken (SWOT-Analyse) sind bekannt?

Szenariotechnik: Einflussfaktoren identifizieren

Die wichtigsten Einflussfaktoren auf unsere Thematik – ein Unternehmen, eine politische Agenda oder ein Ökosystem? Hierzu habe ich als Analyserahmen einen Zlogbeitrag für die Foresight-Umweltanalyse verfasst. Wir analysieren also die Dimensionen Wirtschaft, Ökologie, Gesellschaft, Ethik, Wissenschaft, Administration, Recht, Politik und Technologie daraufhin, ob sich in diesen Bereichen einflussreiche Treiber, Trends oder Akteure finden lassen. Das klappt am besten im Team.

Dieser Rahmen hilft uns dabei, aus der Fülle verfügbarer Informationen die relevanten zu filtern. Schließlich identifizieren wir Treiber und Trends, die wir auf Faktoren herunterdampfen. In einem Workshop-Setting bewerten wir nun die Relevanz der gefundenen Faktoren – hierzu benötigt es zunächst keine ausufernde Diskussion, sondern je nach verfügbarer Zeit oder Budget die kommentarlose Einschätzung der Teilnehmer*innen auf einer Skala von null bis fünf. Die Null steht für keinen Einfluss, die fünf zählt für sehr großen Einfluss. Die Skala sollte nicht zu groß sein, hier geht es um Tendenzen; und wichtig ist, dass die Anzahl der verfügbaren Optionen gerade ist, damit es keine Mitte gibt. Bilden Sie die Mittelwerte der Einschätzungen; nur bei erheblichen Abweichungen wird diskutiert.

Die daraus resultierende Liste dürfte recht lang sein. Je nach Umfang des Themas und Zeithorizont des Szenarios können sich hier Dutzende, manchmal gar Hunderte Faktoren zusammenfinden. Macht nix, allein diese Liste ist eine stümperhafte Reduktion der reellen Komplexität „da draußen“. Und genau der Aspekt ist mir auch sehr wichtig: es handelt sich schon jetzt um ein Modell der Realität und jede Annahme ist subjektiv, kann und wird also nicht die zukünftige Realität treffen können. Aber wir können uns konsistenten Szenarien der kommenden Wirklichkeit nähern, wenn wir uns wirklich Mühe geben bei der Durchführung dieser Schritte.

Beispiele für gängige Einflussfaktoren:

  • Bruttoinlandsprodukt
  • Arbeitslosenquote
  • Durchschnittstemperatur
  • Anzahl von Unternehmensgründungen
  • Datenschutzregulierung
  • Normen
  • Patentanmeldungen
  • Technologische Innovation
  • Bevölkerungsentwicklung

Es geht hierbei noch nicht um die Ausprägungen, sondern rein deskriptiv um die Sammlung aller denkbaren Einflussfaktoren. Diese sollten möglichst generisch und wertfrei formuliert sein.

Szenariotechnik: Schlüsselfaktoren definieren

_impact uncertainty vorlageWelche der definierten Einflussfaktoren sind die wichtigsten? Sie haben ja jetzt eine lange Liste mit wichtigen Einflussfaktoren. Nun geht’s ans Eingemachte: welches sind die zentralen Treiber der Entwicklung? Welche Faktoren müssen unbedingt berücksichtigt werden, haben also den höchsten Durchschnittswert aus dem letzten Schritt? Und welche wiederum setzen sich in der Wechselwirkungsbetrachtung als besonders vernetzt durch, beeinflussen als ihrerseits viele andere Faktoren? Welche sind besonders ungewiss und trotzdem potenziell einflussreich? Für letztere Frage verwenden Sie am besten eine sogenannte Impact-Uncertainty-Matrix (Einfluss-Ungewissheit-Matrix) wie rechts im Bild.

Jetzt erhalten Sie eine kürzere Liste als eben; wenn Sie eben noch 50 Faktoren hatten, sind es jetzt vielleicht noch zehn. Es ist ratsam, die maximale Anzahl der Schlüsselfaktoren auf 20 zu begrenzen, um nicht allzu ausufernd zu werden. Der komplexen Realität werden Sie natürlich mit mehr Faktoren eher gerecht, doch erhöht jeder weitere Faktor auch den Aufwand, Kosten und benötigte Zeit überproportional.

Beantworten Sie nun für jeden der Schlüsselfaktoren die Fragen, wie stark dieser einzelne Faktor den Untersuchungsgegenstand beeinflusst und wie unsicher die weitere Entwicklung ist. Wenn Sie mögen, können Sie eine Extrarunde machen und die Wahrscheinlichkeit auf einer Skala einschätzen, um mögliche Wildcards zu identifizieren. Die Wildcards fließen nicht explizit in die weiteren Szenarioschritte ein, sind jedoch wichtig, um sie immer wieder ins Bewusstsein zu rufen.

Für jeden dieser nun gewählten Faktoren überlegen Sie in einem Brainstorming-Prozess, welche alternativen Zukunftsentwicklungen bzw. Projektionen denkbar sind. Das sind für jeden Schlüsselfaktor etwa drei bis sechs Varianten. Bilden Sie hierfür auch praktische Grüppchen, denn uns geht es ja nicht um die punktgenaue Vorhersage der konjunkturellen Entwicklung, sondern um Trends. Für den Einflussfaktor „Bruttoinlandsprodukt“ könnte dies etwa so aussehen:

  • Wächst deutlich < 5 %
  • Wächst etwas 2-5 %
  • „Schwarze Null“ 0,5-2 %
  • Stagniert 0-0,5 %
  • Sinkt etwas -0,5-2 %
  • Rezession -2-5 %
  • Starke Rezession > 5 %

Zugegeben, diese Reduktion wirkt schon fast stümperhaft. Wenn Sie sehr viel Zeit und Budget zur Verfügung haben, bilden Sie natürlich kleinere Schritte, bis Sie bei prozentualen Nachkommastellen angekommen sind; am Ende liegt es an Ihnen bzw. am Projektrahmen, wie ausführlich Sie diesen morphologischen Kasten gestalten. Aber fürs Prinzip soll diese Darstellung genügen. Natürlich müssen sämtliche Annahmen noch mit Thesen und Belegen fundiert werden. An dieser Stelle werden oft Experteninterviews im Projektablauf ergänzt, um möglichst viele Projektionen zu identifizieren und ggf. auf unsinnige Ausprägungen zu verzichten.

Szenariokonstruktion und Konsistenzmatrix

Wie angekündigt sind formalisierte Szenarioprozesse auf Konsistenz aus, weniger auf Wahrscheinlichkeit. Konsistenz bezieht sich darauf, dass die Ausprägungen der Schlüsselfaktoren des vorherigen Schritts miteinander kombiniert und für jede mögliche Konstellation in einer Wechselwirkungsanalyse überprüft wird, ob unter gängigen Annahmen eine Koexistenz dieser beiden Ausprägungen möglich ist. Kann beispielsweise das Bruttoinlandsprodukt deutlich wachsen, während die Bevölkerung erheblich schrumpft? Und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen?

Die Konsistenzanalyse kann man kaum ohne Software kaum durchführen, immerhin haben wir es hier bei zehn ausgewählten Schlüsselfaktoren mit jeweils fünf Ausprägungen mit 2250 Kombinationsmöglichkeiten zu tun – je mehr Kombinationsmöglichkeiten, um komplexer wird dann auch die Berechnung der Rohszenarien. In meinem Anwendungsbeispiel zur US-Wahl 2020 haben sich durch 20 Schlüsselfaktoren mit durchschnittlich 3,27 Faktoren gar 85.030.560.000 Kombinationsmöglichkeiten ergeben. Das meine ich mit exponentiellem Wachstum des Aufwands.

Es gibt wenig gute Software für die Szenariotechnik. Im Masterstudium Zukunftsforschung haben wir mit Parmenides EIDOS gearbeitet, welches mir dankenswerterweise auch heute noch direkt von der Stiftung zur Verfügung gestellt wird. Mit dem Werkzeug ist noch viel mehr möglich als die Erstellung von Szenarien, unter anderem Strategiewerkzeuge wie Entscheidungsarchitekturen, visual scoremaps oder Datenkarten. Eine Software wie EIDOS kombiniert nun die Schlüsselfaktorprojektionen miteinander und berechnet den Konsistenzwert der Rohszenarien.

Rohszenarien bilden

Im Idealfall erhalten Sie infolge der softwaregestützten Kombination aller Projektionen mehrere (meist drei bis sechs) deutlich unterschiedliche Cluster mit einer Reihe von Szenarien. Aus jedem Cluster wählen Sie ein besonders konsistentes Rohszenario aus und bewerten nun im Team die Wahrscheinlichkeit und Relevanz für Ihr Untersuchungsobjekt. Je nach Zweck der Szenariotechnik geht es schließlich um die Aufarbeitung für die Kommunikation der Inhalte. Dies kann durch Geschichten, Grafiken, Videos oder andere geeignete Formate geschehen und sollte sich vor allem an den Erwartungen der Adressaten orientieren.

Wichtiger ist aber der strategische Mehrwert von Szenarien. Wenn Sie sauber gearbeitet haben, lassen sich nämlich anschließend sehr gut die Erkenntnisse in standardisierte Strategie-Frameworks einarbeiten.

Fazit (aktualisiert)

Szenarien eignen sich, wenn sie gut gemacht sind, sowohl für die Kommunikation als auch die Strategieentwicklung. In manchen Fällen kann mit ihrer Hilfe sogar das Geschäftsmodell auf externe, plausible Schocks überprüft werden. Seit 2022 arbeite ich mit meinem Zukunftsinstitut PROFORE für Kunden aus Wirtschaft und Verwaltung daran, konsistente Szenarien mit solidem und breitem Fundament zu erstellen. Interessiert Sie der Szenarioprozess? Schauen Sie gern mal vorbei.

Quellen

Gerhold, Lars et al. (2015): Standards und Gütekriterien der Zukunftsforschung. Ein Handbuch für Wissenschaft und Praxis. M. Pausch (Hrsg.), Springer Fachmedien, Salzburg, DOI 10.1007/978-3-658-07363-3.

Popp, Reinhold (2016): Zukunftswissenschaft & Zukunftsforschung. Grundlagen und Grundfragen. Eine Skizze. LIT Verlag, Wien.

Schulz-Monat, Beate; Steinmüller, Dr. Karlheinz (2013): Seminarskript „Szenariotechnik in der Unternehmenspraxis“, Freie Universität Berlin, Institut Futur.

Steinmüller, Dr. Karlheinz (1997): Grundlagen und Methoden der Zukunftsforschung. Szenarien, Delphi, Technikvorausschau. WerkstattBericht 21, Sekretariat für Zukunftsforschung, Gelsenkirchen.


Screenshot Eidos Kalkulation Szenarien

Szenariotechnik US-Wahl 2020

Szenariotechnik im praktischen Einsatz

Sie möchten gern erfahren, wie die Szenariotechnik operativ zum Einsatz kommt? Vielleicht haben Sie meinen Zlog-Beitrag über die US-Präsidentenwahlen gelesen und sind deshalb hier gelandet. Vielleicht interessieren Sie sich aber auch aus anderen Gründen für die Umsetzung einer der wichtigsten Methoden der wissenschaftlichen Zukunftsforschung. Ich möchte Sie nicht enttäuschen: Hier finden Sie einen recht detaillierten Einblick in die Vorgehensweise bei der Szenariotechnik.

Die Anwendung der Szenariotechnik kann, wenn man es ernst meint, unmöglich ohne Softwareunterstützung passieren. Dafür ist die Realität zu komplex – insbesondere, wenn wir uns im Bereich spekulativer Projektionen bewegen. Ich habe das große Glück, die Software EIDOS der Parmenides Foundation nutzen zu dürfen – an dieser Stelle bedanke ich mich nochmals ganz herzlich bei der Stiftung!

Grundannahmen

Folgende Grundannahmen wurden getroffen:

  • Joe Biden erhält etwas mehr Stimmen als Donald Trump vom Wahlmännerausschuss (< 10 % Differenz)
  • Joe Biden erhält erheblich mehr Stimmen durch Bevölkerung (> 60 %)
  • Anhänger beider Lager (Dem./Rep.) haben nachweislich lokale Wahlen manipuliert
  • China, Russland und Iran haben nachweislich Wahlen manipuliert

 

Einflussfaktoren

Funktionsweise Einflussfaktoren: Nach dem Umweltanalyseschema WÖ-gewarpt werden diejenigen Faktoren gelistet, die zum Zeitpunkt der Szenarien (Ende Januar 2021) eine Rolle gespielt und sich auf den betrachteten Gegenstand maßgeblich ausgewirkt haben werden. Weniger relevante Gebiete werden aus Effizienzgründen ignoriert und nicht aufgeführt. Insgesamt wurden 79 Einflussfaktoren aus den Bereichen Wirtschaft, Ökologie, Gesellschaft, Ethik, Wissenschaft, Administration, Recht, Politik und Technologie gelistet.

Hier finden Sie die gesamte Liste:

Wirtschaft

  • Wirtschaft
    • Außen (Welt):
      • Globale Konjunktur
      • Tourismuskrise
      • Finanzmärkte
      • Börsenkurse der Hauptindizes [Dow Jones Global Titans (50 größte Aktiengesellschaften der Welt), MSCI Emerging Markets Index (größte Aktiengesellschaften der Schwellenländer), MSCI World (1600 größte Aktiengesellschaften der Industrieländer), S&P Global 1200 (1200 größte Aktiengesellschaften der Welt), STOXX Global Select Dividend 100 (100 dividendenstärkste Großunternehmen der Welt)]
    • Außenpolitischer Rahmen:
      • Konjunktur NAFTA
      • Konjunktur US-Japan
      • Konjunktur US-UK (insb. Brexit)
      • World Trade Organization
    • Außen (Land):
      • Nationale Konjunktur
      • Nationale Arbeitslosenquote
      • Waren- und Güterverkehr
      • Energiemarkt
      • Immobilienmarkt
      • Ressourcenverfügbarkeit
      • Versorgungssicherheit US-Bevölkerung
      • Verhalten Social Media Plattformbetreiber (Facebook, Twitter, Insta)
    • Innen:
      • Insolvenz Big Player (G-MAFIA)

Ökologie

  • Ökologie
    • Außen (Welt):
      • Klimakatastrophe international
      • Wild Card Klima international
      • Wild Card Meteoriteneinschlag o.ä.
    • Außenpolitischer Rahmen:
      • Wild Card Klima Nordamerika
    • Außen (Land):
      • Wild Card Supervulkanausbruch
      • Waldbrände
    • Innen (White House):

Gesellschaft

  • Gesellschaft
    • Außen (Welt):
      • Covid19-Entwicklung (Gesundheitlich)
      • Globale Berichterstattung
      • Globale Prominente
    • Außenpolitischer Rahmen:
      • Immigration in die USA
      • Emigration aus den USA
    • Außen (Land):
      • Nationale Prominente
      • Nationale Berichterstattung
      • Migration innerhalb der USA
      • Akzeptanz Wahlergebnis US-Bevölkerung
      • Friedlicher Zusammenhalt US-Bevölkerung
      • Gewaltbereitschaft (Extremismus, Bürgermilizen, Bürgerkrieg, Plünderungen etc.)
      • Sozialversicherungssystem
      • Polarisierung zwischen Wählergruppen
      • Alternative Fakten / New World Order Verschwörungstheorien
      • Wild Card Terrorismus
      • Wild Card Unglück (Flugzeugabsturz, Dammbruch, GAU)
    • Innen (White House):
      • Verhalten Melania Trump
      • Verhalten andere Familienmitglieder Trump

Ethik

  • Ethik
    • Außen (Welt):
    • Außenpolitischer Rahmen:
    • Außen (Land):
      • Demokratieempfinden US-Bevölkerung vs. Faschismus
      • Egoismus US-Bevölkerung
    • Innen (White House):
      • Friedliche Übergabe ja/nein

Wissenschaft

  • Wissenschaft
    • Außen (Welt):
      • Wild Card wiss. Durchbruch international
    • Außenpolitischer Rahmen:
    • Außen (Land):
      • Wild Card wiss. Durchbruch USA
    • Innen (White House):

Administration

  • Administration
    • Außen (Welt):
    • Außenpolitischer Rahmen:
    • Außen (Land):
      • Verhalten US-Bundesbehörden
    • Innen (White House):
      • Verhalten Trump-Administration

Recht

  • Recht
    • Außen (Welt):
    • Außenpolitischer Rahmen:
      • Verhalten Supreme Court (Judikative, 9 Richter, Präsident schlägt vor, Senat wählt)
    • Außen (Land):
      • Verhalten Gerichte in Bundesstaaten
    • Innen (White House):

Politik

  • Politik
    • Außen (Welt):
      • Einfluss Russland
      • Einfluss China
      • Einfluss Iran
      • Einfluss EU
      • Internationale Anerkennung Wahlergebnis
      • Militärische Konflikte international
      • Wild Card Atomwaffeneinsatz
    • Außenpolitischer Rahmen:
      • Verhalten NATO
      • Verhalten Vereinte Nationen
      • Verhalten OECD
    • Außen (Land):
      • Verhalten Kongress [= Repräsentantenhaus (Legislative, quasi Bundestag mit Proporz pro Staat, 435 Mitglieder aktuell) und Senat (Legislative, quasi Bundesrat, jeder Bundesstaat 2 Sitze, Vizepräsident ist Senatschef)]
      • Verhalten einzelner Bundesstaaten / Gouverneure (Exekutive Außen)
      • Verhalten Streitkräfte (Exekutive Außen)
      • Verhalten einzelner Bundesstaaten / Staatsparlamente (Legislative Außen)
      • Verhalten Staatsparlamente (Legislative Außen)
      • Parteiverhalten Demokraten
      • Parteiverhalten Republikaner
      • Parteiverhalten andere
      • Militärische Konflikte national
    • Innen (White House):
      • Verhalten Präsident Trump
      • Wild Card Anschlag auf Trump
      • Verhalten Vizepräsident Pence
      • Verhalten Kabinettsmitglieder
      • Verhalten Bundesbehörden (Fokus: CIA, Federal Reserve Bank)

Technologie

  • Technologie
    • Außen (Welt):
      • Technologischer Durchbruch Covid-Impfstoff (global)
      • Quantencomputer global
      • Wild Card globaler Internetausfall
    • Außenpolitischer Rahmen:
    • Außen (Land):
      • Technologischer Durchbruch Covid-Impfstoff (USA)
      • Wild Card nationaler Internetausfall
    • Innen (White House):

Schlüsselfaktoren

Im nächsten Schritt wurden Schlüsselfaktoren definiert. Das sind diejenigen Faktoren, die nach Recherche, Diskussionen und Einfluss-/Wechselwirkungsmatrix als die relevantesten identifiziert wurden. Insgesamt wurden nach Abzug der Wild Cards 20 Schlüsselfaktoren in die Analyse einbezogen. Sie sind oben fett markiert, hier noch einmal als Liste und leicht umformuliert:

  • Börsenkurse Hauptindizes
  • Nationale Konjunktur
  • Energiemarkt
  • Versorgungssicherheit
  • Verhalten Plattformbetreiber Social Media
  • Covid-19 / Sars-CoV-2
  • Emigration aus den USA
  • Akzeptanz Wahlergebnis
  • Gewaltbereitschaft
  • Verhalten Melania Trump
  • Verhalten Supreme Court
  • Einfluss Russland
  • Einfluss China
  • Einfluss Iran
  • Einfluss EU
  • Einfluss Vereinte Nationen
  • Verhalten Kongress
  • Verhalten Bundesstaaten
  • Verhalten Streitkräfte
  • Verhalten Donald Trump
  • Verhalten Bundesbehörden (v.a. CIA und Fed)
  • Covid-19-Impfstoff

 

Für die Schlüsselfaktoren wiederum wurden so gut es geht nach dem MECE-Prinzip (mutually exclusive, collectively exhaustive) Ausprägungen bzw. Projektionen gebildet. Dazu muss erwähnt werden, dass einige qualitative Faktoren aus forschungseffizienten Gründen lediglich wenige dichotome Alternativen enthält, wie beispielsweise das Verhalten Melania Trumps.

Insgesamt wurden 72 Ausprägungen alternative Projektionen gebildet, was einem Durchschnitt von 3,27 Projektionen entspricht. Jeder Schlüsselfaktor und jede Ausprägung wurde zudem mit geschätzten Wahrscheinlichkeiten und der Gewichtung für die Szenarioanalyse bestückt. Dieser Schritt ist übrigens unter Zukunftsforschenden umstritten, ich habe mich aus Zeitgründen dafür entschieden, auch wenn meine Bewertungsgrundlagen nur schwer nachvollziehbar gemacht werden können und ich damit möglicherweise die Gütekriterien der Forschung etwas strapaziere. Bei Rückfragen zu den einzelnen Wahrscheinlichkeiten und Gewichtungen stehe ich gern Rede und Antwort, da die zugrundeliegenden Thesen durchaus dokumentierbar sind.

Screenshot Eidos Kalkulation SzenarienAnschließend wurden für jedes Ausprägungspaar Konsistenzwerte vergeben – wie widerspruchsfrei ist die Koexistenz dieser beiden Ausprägungen im Szenario am Tax x, hier dem 20. Januar 2021? Eine solche Betrachtung ist unmöglich manuell durchzuführen, weshalb ich hierfür die Software Parmenides Eidos genutzt habe. Herzlichen Dank für die Bereitstellung der Software, liebe Parmenides Foundation!

Rohszenarien

Screenshot Eidos Szenarien ClusterDamit ergaben sich für die Kombination aller Ausprägungen 85.030.560.000 Möglichkeiten. Die Berechnung dauerte mit meinem HP Elitebook 840 G6 (Intel i7 @ 1,8 GHz mit 32 GB Arbeitsspeicher) 2:45 Stunden. Im Ergebnis lieferte die Analyse 97 Rohszenarien. Diese waren in sechs unterschiedliche Cluster unterteilt, welche sich wiederum aus den grundlegenden Unterschieden in den Konsistenzwerten, Wahrscheinlichkeiten und inhaltlichen Unterschieden ergaben. Nach der Durchsicht der einzelnen Werte und manueller, qualitativer Überprüfung der Stimmigkeit und Relevanz wurden schließlich zunächst die 97 Rohszenarien auf je ein Rohszenario pro Cluster reduziert, um schließlich ein finales Szenario auszuwählen: es trägt die Ordnungsnummer 70, hat einen Konsistenzwert von 1.44 und eine Wahrscheinlichkeitsbewertung von +++.

 

Dieses Rohszenario 70 hat folgende Werte:

Screenshot Szenario 70 US-Wahl

Hier sind die Schlüsselfaktoren mit den errechneten konsistenten Ausprägungen zum Zeitpunkt 20. Januar 2021. An dieser Stelle nochmals der Hinweis, dass dies keine Prognose, sondern eins von vielen in sich konsistenten, d. h. widerspruchsfreien Szenarien ist:

  • Weltwirtschaft: Börsenkurse der Hauptindizes steigen deutlich > 5%
  • US-Wirtschaft
    • Nationale Konjunktur wächst deutlich > 5%
    • Energiemarkt: Preise / Verfügbarkeit konstant
    • Versorgungssicherheit: Überfluss
    • Verhalten der Plattformbetreiber Social Media: Unterstützung System
  • Weltgesellschaft: Covid-19 / Sars-CoV-2 entwickelt sich moderat mit 1,5 – 2 Millionen Toten weltweit
  • US-Gesellschaft
    • Emigration aus den USA sinkt deutlich > 3%
    • Akzeptanz Wahlergebnis in Bevölkerung erhält starke Unterstützung
    • Gewaltbereitschaft bleibt moderat
    • Verhalten Melania Trump läuft auf einen offenen Konflikt mit Donald Trump hinaus
  • Rechtssystem: Verhalten Supreme Court, dieser bestätigt das Wahlergebnis
  • Weltpolitik
    • Einfluss Russland: keine Einmischung
    • Einfluss China: moderate Einmischung
    • Einfluss Iran: moderate Einmischung
    • Einfluss EU: keine Einmischung
    • Einfluss Vereinte Nationen: keine Einmischung
  • US-Politik
    • Verhalten Kongress: Repräsentantenhaus und Senat unterstützen die Wahlergebnisse
    • Verhalten Bundesstaaten: Mehrheit unterstützt Wahlergebnisse
    • Verhalten Streitkräfte: friedliche Unterstützung des Systems
    • Verhalten Donald Trump: Akzeptanz des Wahlergebnisses
    • Verhalten Bundesbehörden (insb. CIA, FBI und Federal Reserve): Mehrheit unterstützt das Wahlergebnis
  • Technologie: Ein Covid-19-Impfstoff wird in den USA entwickelt.

Szenarioaufbereitung

Nachdem ich mich für dieses Szenario entschieden habe, ging es ans Schreiben des Szenariotextes. Ich habe mich für die Form eines Zeitungsberichts entschieden, um möglichst schlaglichtartig die wichtigsten erwarteten Entwicklungen im Dialogformat umzusetzen. Das Ergebnis finden Sie in meinem Zlog – oder haben es sogar schon gefunden.

So oder so ähnlich kann es also ablaufen, wenn Zukunftsforschende tief in ihren Methodenkoffer greifen. Idealerweise ist die Szenariotechnik nur einer von mehreren Bausteinen eines Forschungsprojekts. Für die Vorbereitung ist eine ausführliche Recherche unerlässlich, am besten werden noch (Experten-)Interviews für die Erweiterung des Thesensatzes und die Beseitigung blinder Flecken geführt. Je nach Untersuchungsgegenstand bieten sich manchmal auch quantitative Erhebungen an.

Sprechen Sie mich gern für die Beratung der passenden Methode an. Gern unterstütze ich Sie bei Ihrem Foresight-Prozess im Prozess, Strategie oder in der Operativen.


Szenario: Joe Biden als neuer US-Präsident vereidigt, Trump in Isolationstherapie

Berlin, 20. Januar 2021

Nun also doch: Joe Biden hat heute vor dem Obersten Gerichtshof in Washington, D. C. den Amtseid abgelegt und folgt damit als 46. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika auf Donald Trump. Dieser ist den Feierlichkeiten wie erwartet ferngeblieben, da er sich auf Anordnung seines scheidenden Amtsarztes in Isolation und damit in sein eigenes Trump International Hotel begeben hat, wo er von einem Psychotherapeutenteam betreut wird. Er erlitt zum Jahreswechsel einen Nervenzusammenbruch infolge der öffentlichkeitswirksamen Trennung von seiner Frau Melania Trump. Infolgedessen beendete er seinen Widerstand gegen die amtlichen Wahlergebnisse von Anfang November und leitete damit die Beruhigung der bürgerkriegsähnlichen Zustände in weiten Teilen des Landes ein.

Mit der Vereidigung des neuen US-Präsidenten Joe Biden beginnt ein neues politisches Weltzeitalter. Biden steht vor einem nationalen Trümmerhaufen und polarisierten politischen Lagern, doch die Sicherheitssituation scheint im Griff zu sein. Die ganze Welt schaut nun auf den Hoffnungsträger einer ganzen Generation, der vor beispiellosen Herausforderungen steht. Darüber sprachen wir exklusiv mit Bundesaußenminister Heiko Maas.

Herr Maas, wie bewerten Sie die aktuelle Lage in den USA?

Zunächst einmal möchte ich betonen, dass wir angesichts der wiederhergestellten Ordnung im Kabinett aufgeatmet haben. Hinter uns liegen insbesondere im Auswärtigen Amt und den diplomatischen Einrichtungen arbeitsreiche Wochen, die oft einer Gratwanderung glichen. Als Deutsche und Bündnispartner der USA standen wir natürlich zwischen den Stühlen, die Faktenlage der Wahlergebnisse musste besonders in den ersten Tagen nach dem finalen Wahltag ständig neu bewertet werden. Donald Trump und seine scheidende Administration waren dabei keine große Hilfe. Natürlich ist es nicht unsere Aufgabe, Partei für einen der Kandidaten zu ergreifen, doch als dann im Eilverfahren der nationale Notstand ausgerufen und das Militär in fast allen Bundesstaaten eingesetzt wurde, um friedliche Proteste der Bürger*innen gewaltsam zu beenden, konnten wir nicht weiter tatenlos zusehen. Glücklicherweise teilte die Mehrheit der internationalen Staatengemeinschaft unsere Einschätzung.

Was dachten Sie, als sich dann Teile des Militärs den Befehlen ihres scheidenden Oberbefehlshabers Trump widersetzten?

Offen gesprochen haben wir bei einer der vielen Krisensitzungen kollektiv den Atem angehalten. Alle Zeichen standen auf Eskalation, solche Bilder kennen wir sonst nur aus Krisengebieten. Unsere besten Analysten waren sich einig, dass die Wahrscheinlichkeit für einen Bürgerkrieg immens war, sodass wir uns gezwungen sahen, einzuschreiten. Immerhin fürchteten die Wahlbeobachter der OSZE und OAS, die unüblicherweise im November die Situation vor Ort im Blick hatten, um ihre Leben. Das Pulverfass aus nationalen Streitkräften, Dissidenten, Bürgermilizen und terroristischer Vereinigungen von außen drohte zu explodieren. Es stand vieles auf dem Spiel, auch für den Rest der internationalen Staatengemeinschaft.

Wie haben Sie Trump und seine Allianz schließlich zum Einlenken bewegen können?

Im Grunde haben wir dafür die klassischen Taktiken einer Verhandlung in Krisensituationen wie zum Beispiel Geiselnahmen angewandt. Unsere Spezialeinheiten sind darauf geschult, mit Gefährdern zu verhandeln und auch unter größtem Stress ihr Ziel zu verfolgen, nämlich die Gesamtsituation möglichst friedlich beizulegen. Immerhin ging es hier um den Weltfrieden, nachdem Trump auf Twitter sogar den Einsatz von Atomwaffen im eigenen Land als Option gegen Protestierende und abtrünnige Metropolregionen angesprochen hat. Es ging also potentiell um die Leben vieler Millionen Menschen und die geopolitische Sicherheitslage. Für uns war klar, dass nur ein Ultimatum und immenser diplomatischer Druck helfen würde. Dazu gehörten auch umfangreiche wirtschaftliche Sanktionen gegen Trump persönlich.

Kein einfacher Job! Sie haben Twitter bereits angesprochen, der Social Media Dienst diente Donald Trump in seiner gesamten Amtszeit als wichtige Resonanzkammer für seine oft eher unpräsidialen Äußerungen. Was denken Sie über die Entwicklungen der Sozialen Netzwerke innerhalb der letzten Monate und ihre Rolle in der Beilegung der Konflikte?

Der Nachrichtendienst Twitter wurde in der Vergangenheit ja gern von Gruppierungen mit extremen Meinungen genutzt, doch bereits vor der Präsidentschaftswahl wurden immer mehr Hürden eingebaut, um die Verbreitung von alternativen Fakten zu erschweren. Facebook als immer noch nutzerstärkste Plattform musste sich ebenfalls dem öffentlichen Druck beugen und deutlich schärfer als bisher gegen Verschwörungstheoretiker vorgehen. Mit Beginn des neuen Jahres nutzen nun sämtliche größere Plattformen KI-gestützte Software, um derartige Äußerungen kenntlich zu machen und Nutzer*innen vor gefährlichen Inhalten zu warnen – sicherlich nicht freiwillig, sondern weil sie es schlicht müssen. Immerhin hat inzwischen ein stets wachsender Teil der Menschen erkannt, dass auch die Covid19-Pandemie real ist und Trump viele Menschenleben wissentlich in Gefahr gebracht hat, um seine politischen und vor allem wirtschaftlichen Interessen zu verfolgen. Dieses Einlenken hat die Konjunktur sowohl in den USA als auch weltweit wieder deutlich angekurbelt, da mit vereinten Kräften viel wirksamere Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie einerseits und zur geregelten Verfolgung des öffentlichen Lebens andererseits ergriffen werden konnten. Nur so konnte sich die Verbreitung des Virus moderat entwickeln – Ende November sah das noch ganz anders aus.

Welche weiteren Auswirkungen erwarten Sie durch die einkehrende Ruhe?

An erster Stelle muss ich Joe Biden meinen größten Respekt aussprechen. Er und seine Administration sind mit allen Entwicklungen der letzten Monate besonnen umgegangen, was man von dem scheidenden Präsidenten nicht gerade behaupten kann. Sie haben alle Mittel des Rechtsstaats genutzt, haben sich nicht durch die polemischen Angriffe einschüchtern lassen und sind würdevoll durch diese Schlammschlacht gekommen. Nun ist es jedoch an der Zeit, nach vorn zu blicken. Biden und sein Kabinett müssen die politischen Grabenkämpfe im Repräsentantenhaus und dem Senat moderieren und gleichzeitig wichtige und dringende Herausforderungen angehen.

Die allgemeine Gesundheitssituation in den Vereinigten Staaten von Amerika ist desolat, die Pandemie hat hier tiefe Gräben verursacht – im direkten wie im übertragenen Sinne. Die Chancen stehen gut, dass eine verbindliche, solidarische Krankenversicherung nach europäischem Vorbild nun endlich auf den Weg gebracht werden kann. In diesem Zuge werden auch wirtschaftliche Sicherungs- und Anreizsysteme insbesondere für die geschwächte Zivilbevölkerung diskutiert.

Innenpolitisch wird nach wiederholter Kritik am Wahl- und Parteiensystem mit den Stimmen beider großer Parteien eine Wahlrechtsreform angestrebt, die in der Tat beispiellos wäre. Worüber noch gestritten wird, ist die Aufspaltung der föderalen USA in mehrere souveräne Staaten, die der kulturellen und politischen Spaltung Rechnung tragen würde. Gleichzeitig erhofft man sich davon wirtschaftliche Zugewinne bei gleichzeitigem Effizienzgewinn hinsichtlich der Geschwindigkeit im Entscheidungsfindungsprozess.

Der deutliche Rückgang der Emigration aus den USA scheint ein erster Indikator dafür zu sein, dass sich die US-Bürger*innen wieder sicherer und wohler fühlen als in den vergangenen vier Jahren. Joe Biden ist als Hoffnungsträger schon fast vergleichbar mit seinem ehemaligen Chef Barack Obama. Auf seinen Schultern lasten die Erwartungen einer gespaltenen Nation.

Als Vizepräsident hat Biden bereits unter Barack Obama in beiden Amtszeiten insbesondere für die außenpolitischen Fragen brilliert. Was denken Sie, welche außenpolitischen Themen ganz oben auf Bidens Agenda stehen?

Für die traditionellen Antrittsbesuche bei anderen Staats- und Regierungschefs ist aktuell weder Zeit noch Platz auf der Prioritätenliste. Natürlich finden kurze Telefonate und Videokonferenzen statt, doch es brennt international an zu vielen Stellen, als dass man sich in aller Seelenruhe mit repräsentativen und formellen Gesten aufhalten könnte. Zuerst wird sich Biden um die diplomatischen Krisen mit Russland, China und dem Iran kümmern müssen. Alle drei haben nachweislich die Wahl in den USA manipuliert, Daten von US-Bürger*innen gestohlen und somit eine souveräne Nation in ihren Grundrechten verletzt. Leider fehlen uns noch die juristischen Mittel, um auf globaler Ebene dagegen vorzugehen, aber das Instrumentarium der Diplomatie reicht fürs Erste. Biden hat bereits angedeutet, dass er – anders als sein Vorgänger – weniger den Konflikt als die Kooperation anstrebt.

Welche Themen geht Biden Ihrer Meinung nach im Anschluss an? Was macht er anders als Trump?

Es gibt eine Reihe globaler Fragen, die größer als Eitelkeiten sind. Die Auswirkungen des Klimawandels sind inzwischen auch in den Industrienationen regelmäßig spürbar, die kontinuierlichen Meldungen über Methangaslecks in Sibirien, Erdbeben und Waldbrände auf allen Kontinenten und der rapide Anstieg des Meeresspiegels können wir nur gemeinsam angehen. Deshalb freut es uns in der Bundesregierung zu sehen, dass Joe Biden nicht nur den Wiedereintritt ins Pariser Klimaabkommen forciert, sondern sogar eine Verschärfung und die Einführung verbindlicher Vorschriften vorgeschlagen hat. Unsere größten Feinde in diesen Zeiten sind keine anderen Nationen, sondern Viren und - mit Blick auf den Klimawandel – die Fehlentscheidungen vergangener Generationen. Diese können wir nur gemeinsam korrigieren.

Das sind viele wichtige Aufgaben für einen neuen Präsidenten. Was wünschen Sie sich und Joe Biden für die ersten 100 Tage, auch mit Blick auf das bevorstehende Ende der Ära Merkel?

Die 100-Tage-Frist wird traditionell jedem neuen Präsidenten gewährt, um von Medien und Opposition eine erste Bewertung zu erhalten. Ich würde in diesem Fall auf 118 Tage erhöhen, denn dann beginnt das Weltwirtschaftsforum in Luzern. Die Staats- und Regierungschefs sowie Unternehmens- und NGO-Vertreter*innen erwarten gespannt den Moment, in dem der mächtigste Mann der Welt erstmals von den Fortschritten seiner Regierung berichten wird. Ich hoffe für uns alle, dass sich die Vorboten für gute Nachrichten bestätigen werden. Dazu gehört eine rasche Verbreitung des US-Impfstoffs gegen Covid-19 in alle Teile der Welt, Fortschritte in der friedlichen Beilegung der genannten Krisen und Konflikte und schließlich eine Beteiligung an dem globalen Green New Deal und der Umschulungsrevolution.

Angela Merkel und ihr Kabinett stehen geschlossen hinter Joe Biden. Wir freuen uns auf eine produktive, partnerschaftliche und gedeihliche Zusammenarbeit. Im Vordergrund der transatlantischen Beziehung stehen nun die Aufräumarbeiten kürzlicher geopolitischer und diplomatischer Krisen sowie die Weichenstellung für die Zukunft.

Herr Maas, wir bedanken uns für das Gespräch!

DISCLAIMER

Sie lasen ein fiktives Szenario über den Zeitraum nach der US-Präsidentenwahl nach dem 3. November 2020 bis zum 20. Januar 2021. Es wurde im Oktober 2020, also noch vor dem finalen Wahltag, mithilfe der Szenariotechnik der wissenschaftlichen Zukunftsforschung erstellt und in den Tagen vor der tatsächlichen Wahl verfasst. Es handelt sich nicht um eine reale Abhandlung, sondern um ein frei erfundenes Szenario als fiktives Interview, das allerdings auf einer ausführlichen qualitativen und quantitativen Recherche sowie Anwendung der Software Parmenides EIDOS basiert. Mehr über die Funktionsweise der Methode erfahren Sie hier.

Auszug der Quellen

  • BuzzFeed News: These Are The Nightmare Scenarios For How The 2020 Election Might End, 13.10.2020, URL (Zugriff am 20.10.2020).
  • Eudaimonia; Umair Haque: America is a Dystopia America’s Weekend of Chaos, Rage, and Despair, 30.05.2020, URL (Zugriff am 20.10.2020).
  • Eudaimonia; Umair Haque: This Election Isn’t Just About Trump. It’s About Whether America Has a Future, 15.10.2020, URL (Zugriff am 20.10.2020).
  • Eudaimonia; Umair Haque: Are These the Last 14 Days of American Democracy? A Desperate Trump Seems to Be Embracing Political Violence. Can America Defeat Him?, 19.10.2020, URL (Zugriff am 20.10.2020).
  • Merkur: Experten erklären Alptraum-Szenario für US-Wahl - Trump könnte Kettenreaktion in Gang setzen, 20.10.2020, URL (Zugriff am 20.10.2020).
  • Tagesspiegel: Milizen in den USA: Sie proben für den Bürgerkrieg, 09.10.2020, URL (Zugriff am 20.10.2020).
  • Wikipedia: 12. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten, URL (Zugriff am 20.10.2020).

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