FAQ eines Zukunftsforschers

In diesem Beitrag möchte ich die Fragen beantworten, die mir als Zukunftsforscher in den letzten Jahren am häufigsten in Interviews und im Bekanntenkreis gestellt wurden. Willkommen zu den FAQ (frequently asked questions, dt.: häufig gestellte Fragen) eines Zukunftsforschers - sortiert nach Häufigkeit!

Bei wie vielen Prognosen lagst du richtig?

Die Antwort kann gar nicht anders lauten als: 42. Das ist natürlich Quatsch, denn einerseits zähle ich das wirklich nicht. Natürlich freue ich mich mehr oder weniger, wenn ich richtig liege bei Entwicklungen globalen Ausmaßes. Dass ich 2019 an vielen Stellen eine Pandemie in den nächsten drei Jahren vorhergesagt habe, ist inzwischen bekannt. Ende 2021 überlegte ich unter anderem in meinem eigenen Podcast "Im Hier und Morgen", ob die russische Armee die Ukraine völkerrechtswidrig noch vor oder erst nach Silvester 2021 angreift. Meine Masterarbeit habe ich 2013 über "Kostenlosen ÖPNV" geschrieben und im Wesentlichen das Deutschlandticket als gute Lösung vorhergesagt. Aber wie viele richtige Prognosen nun insgesamt dabei waren, ist schwer zu ermitteln, da ich viele Aussagen ja auch in Diskussionsrunden in mehr oder weniger exklusivem Kreis mache, die womöglich nicht dokumentiert werden. Rein wissenschaftlich ist es also kaum möglich, eine vollständige Statistik zu erstellen.

Andererseits geht es in der Zukunftsforschung nicht unbedingt darum, richtig zu liegen. Wichtiger ist es, die von heute aus plausiblen Zukünfte zu durchdenken und Gestaltungsräume in der kurz-, mittel- und langfristigen Perspektive zu erarbeiten. Allein mit der Formulierung solcher Zukunftsbilder liefern wir also einen Teil dazu, dass die Zukunft anders wird als es heute noch plausibel (umgangssprachlich: wahrscheinlich) wäre. Im Gegenteil spielen auch Warnprognosen oft eine Rolle - das heißt, dass einige Zukunftsaussagen durchaus überspitzt formuliert werden, um Energien zu mobilisieren, sie zu verhindern.

Leider enden wir in meinem Metier oft wie die Kassandra aus der griechischen Mythologie: Wir warnen, zeigen sowohl Chancen als auch Risiken auf, aber letztlich gewinnt oft die Systemträgheit, weil man doch zu neugierig ist, das trojanische Pferd in die Festung zu lassen und zu schauen, ob die Warnung nicht doch falsch war.

Wie wird man eigentlich Zukunftsforscher:in?

Es gibt viele Lager, Beziehungsstatus: kompliziert. Anders ausgedrückt, die meisten, die in den Medien als "Zukunftsforscher" (bewusst nicht gegendert) bezeichnet werden, verdienen diesen Titel nicht. Als Zukunftsforscher werden oft schon Menschen bezeichnet, die aus ihrer Disziplin heraus Aussagen über die Zukunft treffen. Nichts könnte falscher sein, da Zukunftsforschung per se interdisziplinär ist und mindestens transdisziplinär arbeitet. Diese Bildungslücke bei Journalist:innen versuchen die Verbände und Vereine der akademischen Zukunftsforschung seit Jahrzehnten ohne nennenswerten Erfolg zu füllen.

Ich für meinen Teil bin einer derjenigen, die Zukunftsforschung studiert haben. Man muss es aber nicht studiert haben, um als Zukunftsforscher:in zu arbeiten - man sollte aber die Gütekriterien und Standards der Zukunftsforschung kennen und, soweit möglich, achten. Wer seine Quellen nicht hin und wieder offenlegt, keine methodischen Grundlagenkenntnisse hat, sollte sich also eine andere Berufsbezeichnung suchen. Böse Zungen bezeichnen diese Leute als Scharlatane und ich hege gewisse Sympathien für den Begriff.

Wie bitte, man kann Zukunftsforschung studieren??

Ja, seit 2010 gibt es den Masterstudiengang Zukunftsforschung an der Freien Universität Berlin, danach kamen einige ähnliche Studiengänge in Deutschland hinzu, bspw. an der TH Ingolstadt. International ist man da (wie immer) schon weiter. Highlights liegen in Finnland, Südafrika und Hawaii. Die internationale Community der Zukunftsforschung ist gut vernetzt und auf allen Kontinenten sehr aktiv, mit unterschiedlicher struktureller bzw. institutioneller Anbindung. Der international wichtigste Verband ist die World Futures Studies Federation.

Wie lautet der Titel eines studierten Zukunftsforschers?

Master of the Future!

... leider nicht, es ist ganz staubig: Master of Arts Zukunftsforschung.

In welchen Bereichen arbeiten Zukunftsforschende?

Es gibt im Grunde vier Arten der Beschäftigung. Die erste ist wie ich selbstständig bzw. mit einem meist sehr kleinen Forschungsinstitut (PROFORE) unterwegs. Die zweite Art findet man am ehesten in großen Unternehmen in der Nähe der Strategieabteilung - für mich ist die Arbeit im Konzern ungefähr das Gegenteil von Selbstständigkeit und passt nicht zu meinem Naturell. Der Mittelstand springt so langsam auf das Thema auf, nennt es aber meist "Trendscouting" oder ähnliches. Die dritte Beschäftigungsart für Zukunftsforschende ist in der Wissenschaft oder wenigstens freien Forschung, bspw. beim IZT oder verschiedenen Fraunhofer-Instituten; hier besteht ein nennenswerter Anteil der Arbeit darin, Förderanträge zu befüllen, um die kommenden Projekte zu finanzieren - auch nicht meine Lieblingsbeschäftigung. Die vierte und wohl bekannteste Art sind Trendforschungs-"Institute", die im Wesentlichen aktuelle Trends analysieren und relativ oberflächlich in die Masse tragen. Einige nennen sich Thinktank bzw. Denkfabrik, andere behaupten sogar, sie seien Zukunftsforschungsinstitute, wieder andere gehen sehr offen damit um, dass sie Trendwissen herunterbrechen auf einzelne Branchen und Unternehmen. Auf Anfrage gebe ich gern konkrete Auskunft, welches der Unternehmen in diesem Feld zu welcher Gattung zählt.

Darüber hinaus gibt es natürlich auch zunehmend Aufmerksamkeit in der Politik und öffentlichen Verwaltung sowie zahlreichen NGOs, Vereinen und Verbänden.

Und wie wird die Zukunft?

Diese Frage kommt fast immer als typische Cocktailparty-Frage, wenn ich sage, dass ich Zukunftsforscher bin. Wer kurz darüber nachdenkt, merkt dann schnell, dass die Frage an sich natürlich unmöglich zu beantworten ist. Ich antworte in der Regel mit Gegenfragen; welches Jahr? Für wen? Welcher Bereich der Gesellschaft? Eher die zuversichtliche oder bedrückende Perspektive? Manchmal sage ich aber auch einfach: "Alles super." Zukunft ist erst einmal nur eine grammatische Zeitform und je weiter wir uns von der Gegenwart entfernen, desto mehr Möglichkeiten gibt es - irgendwo zwischen Weltuntergang und Kant'schen ewigem Frieden liegt die Antwort.

Wo auf der Welt ist die Zukunftsforschung bzw. Foresight besonders aktiv?

Das ist schwer zu beantworten. Ursprünglich stammen viele Methoden und damit auch Institutionen aus den USA, aber auch Frankreich, Großbritannien und Deutschland waren grundlegend früh dabei. Aktuell dominieren in der World Futures Studies Federation Stimmen aus Dubai und Singapur, doch auch die lateinamerikanische Community ist sehr aktiv. Eine der wichtigsten internationalen Vordenkerinnen ist wiederum Jennifer Gidley aus Australien, die unter anderem das fantastische Buch "The Future: A Very Short Introduction" (Oxford University Press) geschrieben hat.

Was hältst von Megatrends?

Die ursprüngliche Idee stammt von John Naisbitt aus den 1980er Jahren und wurde nicht nur hierzulande von einigen findigen Unternehmern gekapert und vergoldet. Dass Megatrends empirisch nicht haltbar sind und auch theoretisch bei näherer Betrachtung unsinnig sind, verraten diese Unternehmer selten. Megatrends sind letztlich nicht viel mehr als das Abbild einer globalisierten Welt, in der bestimmte Themen in der kollektiven Wahrnehmung eine größere Rolle spielen als andere. Megatrends sind praktisch der Stammtisch der Trendforschung - man kann kaum widersprechen, aber konkret wird's dann doch nicht. Außerdem entfalten Megatrends auch dadurch eine eigene Dynamik, dass sie gebetsmühlenartig wiederholt werden und gewissermaßen als sich selbst erfüllende Prophezeiung immer wieder die Sau durchs Dorf treiben. Allein der Begriff "mega" sollte aber seriöse Entscheider:innen davon abhalten, sich genau davon infizieren zu lassen.

Die Trend- und Zukunftsforschung hat es in Deutschland nicht leicht. Woran liegt das?

Ich vermute, dass dies genau mit dem missbräuchlichen Umgang mit Trends zu tun hat. Das ist ähnlich wie mit Meinungsumfragen: Wenn ich nicht genau weiß, welche Annahmen und welches Sample die Grundlage für eine Umfrage gelegt hat, sollte ich sie meiden. Trendforschung hat in Deutschland erheblichen Schaden dadurch angerichtet, dass Narrative beispielsweise aus dem Silicon Valley übernommen und als erstrebenswerte Realität verkauft wurden. Aber so einfach ist das Geschäft mit der Zukunft nicht. Doch wer sich als Prophet in der Tradition von Nostradamus sieht und unsinnige, verallgemeinerte Aussagen verbreitet, die kaum jemandem wirklich helfen, sät das Chaos.

Wie erhebt man Daten über die Zukunft?

Gar nicht. Wir arbeiten leider - im Gegensatz zum Video auf meiner Startseite - ohne Zeitmaschine und können nur Daten aus der Vergangenheit und "Gegenwart" erheben und auswerten. Was wir dafür sehr gut können, ist Plausibilität abzubilden und dadurch Gestaltungsräume zu finden, die vorher im Verborgenen blieben. Dadurch sind wir selten wirklich überrascht, wenn im Großen oder Kleinen mal wieder etwas "Unerwartetes" passiert, weil wir uns zwar meist nicht über das konkrete Ereignis, sehr wohl aber ein vergleichbares Event mit ähnlichen Auswirkungen Gedanken gemacht haben.

Wie weit schauen Zukunftsforschende in die Zukunft?

Das hängt von der Fragestellung ab. Für gewöhnlich möchten Unternehmen eher einen Zeitraum von fünf bis zehn Jahren dargestellt bekommen, da sie selbst mit ihrer Strategie und Vision bereits die nächsten fünf Jahre antizipiert haben. Sie wollen sich auf das vorbereiten, was dahinter kommt, aber bitte auch nicht allzu weit. Fair. Öffentliche Auftraggeber sind meist am Zeitraum 10-25 Jahre interessiert. Dann gibt es auch Projekte, in denen es zum Beispiel um die Bau-, Immobilien- oder Forstwirtschaft geht, wo man seit eh und je in einem Jahrhundert denkt. Das ist herausfordernd und ehrlicherweise auch oft inspiriert durch Science-Fiction. Für alles weitere kombinieren wir alles, was wir wissen (die sogenannten known knowns), mit allem, von dem wir wissen, dass wir es nicht wissen (known unknowns). Wir machen aber auch Aussagen darüber, was wir nicht wissen, nicht zu wissen (unknown unknowns) und schätzen auf Nachfrage die potenziellen Auswirkungen ein.

Woran erkenne ich gute Zukunftsforschung?

Das ist wahnsinnig schwierig, da es (noch) keine Standards nach DIN oder ISO gibt. Immerhin hat sich die UNESCO schon vor vielen Jahren dem Thema "Futures Literacy" (dt.: Zukünftebildung) angenommen und einen eigenen Leitstuhl (Chair) dafür eingerichtet. Daneben wäre es aus Sicht eines Auftraggebers unbedingt empfehlenswert, danach zu fragen, ob der:die Auftragnehmer:in die Standards und Gütekriterien der Zukunftsforschung kennt und befolgt - dazu gehört dann Transparenz, Offenlegung der Annahmen, Nachvollziehbarkeit und ein paar weitere. Einen Pocketguide Zukunftsforschung zum Thema gibt es kostenlos auf der Website der FU Berlin.

Gibt es ein Gütesiegel für gute Zukunftsforschung?

Nein, noch nicht - das wäre mal eine gute Aufgabe für das Netzwerk Zukunftsforschung! Dieses hat auch den Sammelband der Standards und Gütekriterien (s.o.) initiiert.

Was ist der Unterschied zwischen Trend- und Zukunftsforschung?

Trendforschung schaut eher auf sehr spezifische Branchen- oder Modetrends. Beispiele dafür sind Prognosen, welche Farbe nächstes Jahr in den Bekleidungsläden dominiert, welcher Antriebsstrang bei Fahrzeugen in zehn Jahren das Rennen gemacht haben wird oder wie die Gen Z* demnächst wählen wird.

Zukunftsforschung stellt grundsätzlich zuerst Fragen, welche Intention mit einem Vorhaben verbunden ist, welcher Zeitraum relevant ist, welche Vorarbeit schon geleistet wurde und ob es wirklich angestrebt wird, bestehende Muster infrage zu stellen. Meine erste Frage bei Projekt- oder Keynote-Anfragen ist: Beauftragt mich die Kommunikation oder die Strategie?

Ich vergleiche die beiden Herangehensweisen, die durchaus beide ihre Berechtigung haben (siehe Beitrag über die Methoden der Zukunftsforschung), gern mit einer Erstbegehung eines dunklen Kellers in einem leer stehenden Haus (= Zukunft). Um herauszufinden, was sich dort unten befindet, geht die Trendforschung vorsichtig die Treppe herunter und hält sich am Geländer fest (= bekannte Rahmenbedingung). Am Ende des Geländers bleibt sie stehen und überbringt den oben Wartenden die frohe Botschaft, dass das Geländer aus Kirschholz besteht, die Verzierungen wunderbar kreativ sind und die Treppenstufen nicht genormt sind. Das ist alles, was im Schein des von oben herunter scheinenden Tageslichts wahrnehmbar war. Was den Rest des Kellers betrifft, bleibt die Trendforschung vage - es war auch nicht ihr Auftrag. Die Zukunftsforschung überlegt sich vorher, ob dort unten im Keller eine Taschenlampe, ein Schutzhelm, eine Fliegenklatsche, vielleicht sogar eine Verteidigungswaffe nötig sein könnte; man weiß ja noch nicht, was einen nach der Treppe erwartet! Allein für die Vorbereitung wendet sie mehr Zeit auf, geht dann aber nach der Treppe deutlich weiter. Sie leuchtet alle Winkel aus, hebt möglicherweise Möbel hoch, und übersieht dennoch garantiert etwas. Und das sagt sie dann auch, wenn sie wieder zurück im Erdgeschoss ist. Weitere Antworten über dort unten befindliche Gegenstände, den Luftdruck, den Staub, etc., gibt sie weiter, wenn sie für die Fragestellung der Erdgeschossler relevant sind.

*Gen X, Gen Y, Gen Z, Gen Alpha... diese Konzepte sind empirisch übrigens kompletter Unsinn und sollten mit Vorsicht behandelt werden! Siehe dazu den glorreichen Aufsatz von Dr. Martin Schröder "Der Generationenmythos". Umgangssprachlich zusammengefasst: es gibt mehr Wert-Unterschiede innerhalb von Geburtenjahrgängen als zwischen diesen Jahrgängen. Noch umgangssprachlicher: Oma und Enkel sind sich in puncto Werte meist ähnlicher als deren Mitschüler oder Kolleginnen.

Was ist der Unterschied zwischen Science-Fiction und Zukunftsforschung?

Science-Fiction (SF) ist eine ernstzunehmende Literaturgattung und einige Werke (Romane, Filme, Serien) machen wirklich einen guten Job in der Modellierung von Zukünften. Das heißt, sie sind in sich plausibel und man könnte argumentieren, dass die beschriebenen Geschichten unter bestimmten Voraussetzungen meist technologischer Natur auch "realistisch" sind. Doch SF ist immer auch polarisierend, denn so funktioniert Unterhaltung: Ich brauche zwar einen Anker, in den ich mich aus meiner heutigen Realität hineinversetzen kann, doch dann muss das Zukunftsbild mit einigen meiner Werte und Weltanschauungen kollidieren, um Emotionen in mir auszulösen.
Zukunftsforschung hingegen extrapoliert und polarisiert weniger. Es geht vielmehr um die Sammlung von quantitativen und qualitativen Daten über einen Forschungsgegenstand, anschließend bilden wir - oft mit Auftraggebern - Annahmen über plausible Projektionen der wichtigsten Schlüsselfaktoren, schätzen dann ein, inwieweit bestimmte Projektionen logisch miteinander koexistieren könnten und dann berechnen wir softwaregestützt, welche Szenarien im Bereich des Möglichen liegen. Insofern sind wir eher Zukunftsarchäologen als Wahrsager oder fiktionale Autor:innen. Natürlich gibt es auch Projekte, in denen wir eher wünschenswerte Szenarien entwerfen, aber die kommen selten aus der Wirtschaft und Verwaltung, eher von NGOs oder einzelnen Teams, die in einem Visionsprozess stecken.

Wenn die Zukunft nicht feststeht, nicht deterministisch ist, warum gibt es dann Zukunftsforschung?

Einfach: Tunnelblick - Geschlossene Systeme sind schlecht in der 360°-Betrachtung, weil sie um ihren Nukleus kreisen. Anders ausgedrückt: Der Zweck jedes Systems - Zelle, Familie, Firma, Regierung - ist, sich permanent darum zu kümmern, dass die Daseinsberechtigung erhalten bleibt (Autopoiesis). Da kann man nur auf Sicht fahren und das ist okay. … Wir bieten ein umfangreiches Set an Orientierung, aus denen sich Gestaltungsmöglichkeiten ergeben, die natürlich von bestimmten Parametern abhängen. Einfach gesagt: Wir modellieren eine sehr komplexe "wenn, dann"-Matrix, sprechen auch über Wildcards wie Pandemien, Vulkanausbrüche oder sonstige eher unwahrscheinliche, im Eintreten aber einflussreiche Entwicklungen. Daraufhin liegt die Verantwortung wieder beim Auftraggeber, entsprechend die Prozesse, Verträge und Strategien zu überprüfen.

Letztlich verstehe ich mich eher als Komplexitätsmanager und Impulsgeber, um Organisationen zu befähigen, im Rahmen der plausiblen Zukünfte wirksam ihre eigenen Einflusssphären im Einklang mit sozialer und ökologischer Umwelt zu gestalten. Es ist meine feste Überzeugung, dass so viele Menschen wie möglich mehr Zeit mit der Antizipation möglicher Zukünfte verbringen sollten; dann wäre die Welt im besten Fall ein besserer Ort. Im schlimmsten Fall würden einige Menschen etwas Zeit am Tag mit Grübeln verbringen.

Warum hältst du Vorträge (Keynotes) über die Zukunft?

Das hat viele Gründe. Persönlich macht es mir einfach Spaß und ich habe eine Neigung dazu, mich auf Bühnen wohlzufühlen. Wichtiger ist aber, dass besonders auf Veranstaltungen aller Art Impulse über mögliche Zukünfte wahnsinnig wichtig sind. Denn in dem Moment, in dem Zukunftsbilder diskutiert werden, erhöht sich die Chance, dass diese auch eintreten (Propensität) - deshalb neige ich auch zu zuversichtlichen Botschaften. Das Ganze basiert zu einem guten Teil auf Erkenntnissen aus der Forschung und individueller Vorbereitung, letztlich aber natürlich in einem oft eher Entertainment-lastigen Format auch auf einer stringente, unterhaltsamen Argumentation.

Welche Quellen nutzt du für deine Recherchen?

So viele wie möglich, so wenige wie nötig. Pragmatisch gesprochen hängt das auch vom Budget ab. Was aber kontinuierlich passiert, ist das Verfolgen der großen Entwicklungen (Trends) in den Nachrichten (aber bitte nicht täglich), die Lektüre wichtiger Studien nennenswerter Markt- und Meinungsforschungsinstitute, Beobachtung potenzieller Wildcards und natürlich ein gut trainierter Google News Stream. Darüber hinaus führen wir Interviews mit Expert:innen für bestimmte Themen in Projekten oder Podcasts, um tiefgründige Einblicke in deren Zukunftsbilder zu erhalten. Last but not least tausche ich mich mit anderen Zukunftsforschenden und Foresight-Leuten regelmäßig aus, beispielsweise über den Alumniverein des Masterstudiengangs Zukunftsforschung "Kapitel21: Zukunftsforschung", den ich 2013 mitgegründet habe.

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10/2021: 2050: Eine Reise in die Zukunft - Keynote von Kai Gondlach (KGSt®-FORUM)

Anfang Oktober war ich für eine Keynote in Bonn - eingeladen hat mich die Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsmanagement (KGSt) zum beim KGSt®-FORUM 2021 mit Rekordbeteiligung von 3700 Teilnehmenden!

Die beim KGSt®ist ein von Städten, Gemeinden und Landkreisen gemeinsam getragener Fachverband für kommunales Management, bezeichnet sich selbst als kommunalen Fachverband für Managementthemen. Die Themen der Keynote orientieren sich entsprechend an den Bedarfen des Kommunalmanagements, also von Städten und Gemeinden. Ich hatte großen Spaß, nicht zuletzt mal wieder vor einer solchen Menge von Menschen sprechen zu dürfen! Aber auch im Vorgespräch mit den Veranstalter:innen, Bonns Oberbürgermeisterin Katja Dörner, Verwaltungsratsvorsitzendem Prof. Dr. Hans-Günter Henneke und dem Moderator Bill Mockridge.

https://youtu.be/v_l7z2XXYjg

Urheberrechte liegen bei den in der Präsentation angegebenen Rechteinhabern. Die Musik im Intro und Outro ist lizensiert via https://www.fesliyanstudios.com/license/?id=36a846a2-bd94-41f9-a067-ec043d94ed93


Gigatrend: Die Mutter der Megatrends

Was ist ein Gigatrend? Wer sich mit Zukunft beschäftigt, kennt das Konzept der Megatrends: Globalisierung, Female Shift, Konnektivität, Urbanisierung, Individualisierung, New Work und einige mehr. John Naisbitt hat das Konzept vor gut 40 Jahren entwickelt und damit der Zukunfts- und Trendforschung in weiten Teilen der westlichen Welt zu großem Ansehen verholfen. Megatrends sind Entwicklungen, die sich über mehrere Jahrzehnte erstrecken und mehrere Gesellschaftsbereiche (Wirtschaft, Gesellschaft, Umwelt etc.) über einen längeren Zeitraum beeinflussen. Wobei: beeinflussen? Das ist sprachlich nicht ganz korrekt, natürlich sind es einzelne Treiber wie Unternehmen, (politische) Entscheidungsträger oder zivilgesellschaftliche Gruppen, die den Unterschied machen.

Megatrends gehören zu diesen Konstrukten, die sich wahnsinnig gut dazu eignen, Wandel sichtbar und vor allem kommunizierbar zu machen. Und doch greifen sie meiner Beobachtung nach zu kurz, wenn wir den Blick etwas weiten wollen. Sie wissen schon, Zukunft ist eine Frage der Perspektive - und ich möchte Sie hiermit einmal mehr einladen, Ihre Perspektive zu weiten. Denn in meinen Studien der letzten Jahre ist mir immer mehr aufgefallen, dass es noch größere Muster gibt, die sich über mehrere Jahrhunderte erstrecken.

Megatrends wirken jahrzehnte-, Gigatrends jahrhundertelang

Während sich die junge Disziplin der Zukunftsforschung schwer tut, Trends und Megatrends zu operationalisieren, habe ich nach größeren Mustern gesucht. Wozu? Die Antwort liegt im Zeitgeist. Das aktuelle Jahrzehnt ist schon jetzt ein Jahrzehnt der Superlative. Ein paar Beispiele:

  • Die Klimakrise ist die größte Herausforderung der Menschheitsgeschichte.
  • Künstliche Intelligenz könnte in diesem Jahrzehnt die Singularität erreichen - Millionen Arbeitsplätze sind von der "Automatisierung" bedroht.
  • Quantencomputer stehen kurz vor dem Durchbruch zur kommerziellen Nutzung.
  • Genmanipulation ermöglicht erstmals die Veränderung von Lebewesen oder Stammzellen.
  • Die hegemoniale, geopolitische Weltordnung wird neu geschrieben (Aufstieg der BRICS-Staaten, Bedeutungsverlust der alten Mächte).
  • Die Menschheit wird zur interplanetaren Spezies und plant erste Siedlungen auf Mond und Mars.
  • Gesellschaftliche Spannungen eskalieren immer häufiger zwischen alten und neuen Konfliktlinien.

Um Veränderungen besser einordnen und Strategien längerfristig planen zu können, greifen die bekannten Megatrends zu kurz. Gigatrends hingegen beziehen deutlich mehr Signale und Trends in ihre Beschreibung ein und stehen somit auf einem breiteren, wissenschaftlichen Fundament. Und bevor ich Sie zu lange auf die Folter spanne, möchte ich hier einen kurzen Überblick in die (noch unveröffentlichten) Gigatrends gewähren. Sie haben sich seit mehreren Jahrhunderten angebahnt und wirken auch noch weit in die Zukunft - und zwar global und in allen Bereichen der Gesellschaft, Wirtschaft und Umwelt.

Gigatrend 1: Leviathanozän

Leviathanozän bezeichnet das Meta-Muster, welches zur Klimakrise geführt hat. Einige Hintergründe sind menschliche Eingriffe in die Ökosphäre sowie der verantwortungslose Umgang mit natürlichen Ressourcen, welcher maßgeblich von blinder Gier und einem Fehlverhältnis zu kapitalistischen Mechanismen herbeigeführt wurde. Die Geowissenschaften sprechen seit einigen Jahren vom Anthropozän, da sich die Folgen menschlichen Handelns längst in den Gesteinsschichten zeigen; andere schlagen bspw. den Begriff (engl.) "Chthulucene" vor. Mein Vorschlag geht weiter und verbindet die Elemente Erdzeitalter (-zän) mit dem Leviathan nach Thomas Hobbes Abhandlung über Politik und Macht (1651). Damit wird direkt begrifflich angedeutet, dass es sich um eine mehrere Jahrhunderte alte Entwicklung handelt.

Es ist schon faszinierend zu sehen, dass es gut 4,6 Milliarden Jahre gedauert hat, bis die Evolution des Planeten Erde eine mutmaßlich intelligente Spezies (homo sapiens) hervorbrachte - und der es innerhalb von knapp 300.000 Jahren schafft, seine eigene Lebensgrundlage zu zerstören. Noch ist es nicht so weit, doch die Zeit wird knapp. Dieser Gigatrend beschreibt damit die wichtigsten Ursachen und Auswirkungen des Leviathanozän - und vermittelt auch ein Gefühl dafür, wie es weitergeht.

Gigatrend 2: Postkapitalismus

In Zeiten der Globalisierung und Digitalisierung ist inzwischen vielen klar geworden, dass das Wirtschaftssystem, das unsere Vorfahren durch die ersten Wellen der Industrialisierung getragen hat, einer Neuausrichtung bedarf. Die ursprüngliche "New Work"-Idee nach F. Bergmann, Konzepte der "Doughnut-Economy" oder Kreislaufwirtschaft behandeln bereits die Fragen, wie eine sozial inklusive und ökologisch verträgliche Wirtschaft funktionieren kann. Leider haben es diese Ideen sehr schwer, zur etablierten, tendenziell konservativen Entscheidungsriege vorzudringen. Agilität, Kollaboration und Exnovation bieten Lösungsansätze, wie sowohl Unternehmen als auch Volkswirtschaften die Transformation schaffen können; doch alles beginnt bei einem neuen Menschenbild, das wenig mit dem anachronistischen Humankapital- und Controlling-Ansatz zu tun hat. Oft wird der Begriff Postkapitalismus reflexartig mit einer Abneigung gegen Kommunismus quittiert, doch darum geht es hier nicht; eher um eine Integration unterschiedlicher Systeme. Welche Elemente kennzeichnen die Ökonomie der Zukunft?

Gigatrend 3: Große Beschleunigung

Wir sprechen von Digitalisierung, Konnektivität, Vernetzung und Internet - doch wenige erkennen das große Muster dahinter. Die Bevölkerungsentwicklung seit der Zeitenwende, Ausbreitung der Menschheit über dem Globus, Konfrontation mit unterschiedlichen klimatischen Bedingungen und folglich "Innovation" bahnbrechender Entwicklungen haben sich schon früh angedeutet. Vielleicht ergeben sie auch erst in der Retrospektive eine logische Verknüpfung, doch genau darum geht es ja. Fragt sich: Wohin geht die Entwicklung? Bleibt die exponenzielle Kurve der technologischen Entwicklung erhalten? Wie verhält sich die technologische Geschwindigkeit im Verhältnis zur gesellschaftlichen und biologischen Komplexität?

Gigatrend 4: Vereinte Weltgemeinschaft

Kaum wurden die Menschen sesshaft und entwickelten komplexe Sprache (vor etwa 100.000 Jahren), begannen die Konflikte. Eine Prise Religion, dann der Maschendrahtzaun und schon hatten wir jahrzehntelange Kriege, Weltkriege, Kalte Kriege - Sie wissen schon. Wenn man die geopolitischen Konfliktlinien und -herde der letzten Jahre und sich andeutende Krisen analysiert, könnte man annehmen, dass es auch genauso weitergehen wird. Doch seit der Gründung der Vereinten Nationen, etwas später regionalen, transnationalen Verbünden wie der Europäischen Gemeinschaft, später Union, oder der Nato sollten größere Kriege der Vergangenheit angehören (was nicht immer gut funktioniert, wie wir aus den Kriegen im Irak, Afghanistan, der Krim, Bergkarabach, dem Nahost-Konflikt etc. wissen).

Doch seit Entwicklung von Atombomben stehen Mittel zur Verfügung, um in einer unkontrollierten Auseinandersetzung das Leben in weiten Teilen der Erde auszulöschen. Erzwungene Kooperation, wenn man so will. Fragt sich, wie es weitergeht, wenn die BRICS-Staaten, allen voran China und Indien, weiterhin ihr wirtschaftliches Wachstum aufrechterhalten können. Ein Ansatz zur friedlichen Integration und Inklusion findet sich in der uralten Idee der Tianxia. Im Gigatrend endet die Beschreibung der globalen Politik nicht heute, sondern einige Jahrzehnte oder Jahrhunderte in der Zukunft - wie kann es die Menschheit schaffen, sich nicht gegenseitig auszulöschen?

Gigatrend 5: Teilhabe

Der Zugang zu Nahrung, Sicherheit, Gesundheit, Einkommen, Bildung, Demokratie und anderen essenziellen Bestandteilen eines nach UN-Definition lebenswerten Lebens sowie gesetzlich verankerte Garantien für Minderheiten haben in den letzten 80 Jahren stetig zugenommen - wenn man von einigen Rückschlägen absieht. Immer mehr Staaten basieren auf rechtsstaatlichen Prinzipien, organisieren freie Wahlen für Parlamente oder Präsidentinnen, Minderheiten werden mindestens durch die Justiz geschützt. Auch die Gleichberechtigung von Frauen und nicht-binären Menschen (LGBTIQ*) hat sich drastisch verbessert. Es liegt noch ein weiter Weg vor uns bis zur wahren Gleichberechtigung, doch wir sind bereits ein gutes Stück vorangekommen. Angefangen hat diese Entwicklung nicht etwa nach dem Zweiten Weltkrieg oder in der Zeit der Aufklärung, sondern einige Jahrhunderte früher. Wohin führt uns der Weg der gleichberechtigten Teilhabe in Zukunft - dürfen dann auch Künstliche Intelligenzen an Wahlen teilnehmen?

Gigatrends: Kein Superlativ, sondern eine erweiterte Perspektive

An dieser Stelle endet meine kleine Einführung und, wenn Sie so wollen, die Vorschau auf mein Buch "Gigatrends". Es befindet sich noch in Entstehung, doch der Rahmen steht. Wenn Sie über die Veröffentlichung informiert werden wollen, tragen Sie sich am besten jetzt für meinen Newsletter ein; dieser erscheint maximal einmal im Monat, Sie brauchen also keine Angst vor einer E-Mail-Flut haben. Und wer weiß, vielleicht sehen Sie das Buch nächstes Jahr auch in Ihrem Buchladen - ich freue mich auf Ihr Feedback!

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Methoden der Zukunftsforschung

Zukunftsforschung ist eine wissenschaftliche Disziplin

Nicht selten werde ich mit großen Augen angeschaut, wenn ich über Zukunftsforschung als ernsthafte, wissenschaftliche Disziplin spreche. Das liegt unter anderem daran, dass das Metier der Zukunftsforschenden im deutschsprachigen Raum in erster Linie durch Trendforscher geprägt wird, die aus wissenschaftlicher Sicht keine ernstzunehmende Forschung betreiben. Die Bewertung dieser Zuschreibung überlasse ich jedem einzelnen, aus meiner Sicht gibt es für beide Strömungen eine Daseinsberechtigung. Mir persönlich liegt es jedenfalls am Herzen, Zukunftsforschung als Disziplin zu stärken und an geeigneter Stelle von der Trendforschung abzugrenzen – nicht im Sinne einer Rivalität, lediglich als zwei verschiedene Spielarten eines Forschungsobjekts: Zukunft bzw. Zukünfte. Möglicherweise sind Sie genau aus diesem Grund auf dieser Seite gelandet, weil ich bei einem Auftritt oder in einem Interview eine Referenz hierher gemacht habe. Diese Gelegenheit möchte ich nutzen und einen groben Überblick über die Methoden der Zukunftsforschung geben; so kurz wie möglich, so ausführlich wie nötig.

Grundsätzlich ist die Zukunftsforschung vor allem durch eine inhärente Interdisziplinarität gekennzeichnet. Zukunftsforschende begreifen sich nicht als Expert*innen einer Fachrichtung, sie haben eher die Fähigkeit, mit den richtigen Fragestellungen und der Anwendung der geeigneten Methoden diejenigen Quellen zu identifizieren, die für die Beantwortung einer spezifischen Zukunftsfrage zur „besten“ Antwort führen. Inzwischen wissen wir, dass kein*e Expert*in der Welt sämtliche Informationen über ein breites Forschungsfeld haben kann, sei es über die letzte Eiszeit oder Quantenverschränkung. Zukunftsforscher*innen tragen diesem Umstand dadurch Rechnung, dass wir geeignete Verfahren, Techniken und Methoden der qualitativen und quantitativen Forschung derart kombinieren, dass die weißen Flecken möglichst minimiert werden. Schließlich benötigen Zukunftsforscher*innen ein gutes, wohl trainiertes Gespür für mehr oder weniger ernstzunehmende Informationen und Quellen. Im Ergebnis sprechen wir auch nicht von Prognosen, sondern in sich konsistenten, plausiblen Zukunftsbildern bzw. Szenarien.

Das Netzwerk Zukunftsforschung – das wichtigste Gremium im deutschsprachigen Raum für akademische Zukunftsforscher*innen – stellt für die Standards und Gütekriterien der Zukunftsforschung einen hilfreichen „Pocketguide für Praktiker und Studierende“ zur Verfügung (online kostenlos). Mit diesem 51-seitigen Dokument und den zahlreichen Checklisten lassen sich hervorragend einzelne Projekte daraufhin überprüfen, ob diese unverbindlichen Anhaltspunkte für seriöse Zukunftsforschung eingehalten werden bzw. wurden – oder eben nicht.

Delphi-Methode

Die Delphi-Methode ist keine ausschließlich für Zukunftsfragen entwickelte Methode, wurde jedoch schon früh von der Zukunftsforschung als wichtiges Instrument entdeckt. Im deutschsprachigen Raum gilt Prof. Dr. Kerstin Cuhls (Fraunhofer ISI) als Koryphäe auf dem Gebiet der methodologischen Weiterentwicklung von Delphi.

Kernbestandteil der Delphi-Methode sind Interviews mit mehreren Expert*innen sowie mehrere Befragungswellen im Rahmen eines Forschungsprojekts. Die Interviews werden nach den Regeln der empirischen Sozialforschung geplant und durchgeführt, je nach Untersuchungsgegenstand werden die Kriterien für die benötigte Expertise, die Anzahl der zu befragenden Expert*innen und die Art der Befragung (quantitativ oder qualitativ, telefonisch oder face-to-face oder online, Transkriptionsart, Auswertungsschema etc.) festgelegt.

Nach Auswertung der Interviews in der ersten Befragungsrunde werden die Ergebnisse verdichtet und in aufbereiteter Form zur erneuten Bewertung in eine oft schriftliche Runde an dieselben Experten oder einen erweiterten Empfängerkreis gesendet; die Expertenrunde soll dann die Aussagen schärfen und beispielsweise den Zeithorizont bestimmter Thesen schätzen, verschiedene Thesen untereinander abwägen oder angesichts des kumulierten Feedbacks der Experten eigene Standpunkte nachjustieren. In seltenen Fällen werden noch weitere Runden durchgeführt, wenn das Ergebnis der zweiten Welle noch nicht zufriedenstellend hinsichtlich der Forschungsfrage(n) war. Mit dieser Vorgehensweise erhalten die Forschenden breite und tiefe Einblicke durch mehrere Menschen mit relevantem Fachwissen. Ein gutes, schlichtes und dazu noch kostenloses Online-Delphi-Tool ist eDelphi.

Neuer ist die Anwendung als Realtime-Delphi, bei dem in einem vorgegebenen Zeitraum, bspw. 14 Tage oder acht Stunden, alle eingeladenen Expert*innen live mitverfolgen können, wenn neue Ergebnisse hinzukommen. Diese sehr dynamische Methode eignet sich besonders, wenn die Zeitschiene sehr weit in die Zukunft reicht oder aus anderen Gründen die Ungewissheit über den Forschungsgegenstand besonders hoch ist. Ein toller Anbieter für Realtime-Delphis ist Thinkscape.ai

Szenario-Methode

Die Szenariotechnik (genau genommen ist es keine Methode, sondern eine Technik bzw. eine Aneinanderreihung verschiedener Tools) hat ihre Wurzeln in der Wirtschaftswissenschaft, wurde in den letzten Jahrzehnten jedoch zunehmend durch Zukunftsforscher*innen verfeinert. Die Idee ist es, auf der Grundlage aggregierten Wissens – durchaus oft in Kombination mit anderen Erhebungsmethoden als der reinen Literaturrecherche – Einflussfaktoren auf die Zukunft des Untersuchungsgegenstandes zu identifizieren, diese in Schlüsselfaktoren zuzuspitzen, welche besonders relevant sind, und im Ergebnis mögliche, wahrscheinliche und konsistente Szenarien zu entwickeln. Konsistenz ist dabei ein elementarer Bestandteil: in einem aufwendigen Verfahren bewerten die Forschenden die mögliche Koexistenz verschiedener Ausprägungen von Schlüsselfaktoren in der Zukunft (bspw. ein Anstieg des Bruttoinlandsproduktes und der Rückgang von Steuereinnahmen). Ich mache das seit dem Studium sehr gern mit Parmenides Eidos (Transparenzhinweis: Ich bin auch Kooperationsparnter der Parmenides AG).

Schließlich erhält man Rohszenarien, die die jeweils passenden Ausprägungen von Schlüsselfaktoren beinhalten; die Aufbereitung dieser Rohszenarien wiederum obliegt den Forschenden oder Auftraggebern. Beliebt sind narrative Szenarien, im weitesten Sinne Geschichten, die die Szenarien durch den bevorzugten Stil (belletristisch, sachlich,…) veranschaulichen. Ebenso beliebt ist die bildliche Aufbereitung in Form von Schaubildern, Comics oder Videos. Forschungs-/Beratungsprozesse für Szenarien realisiere ich seit 2022 mit meiner Firma, dem PROFORE Zukunftsinstitut.

Datenanalyse / Horizon Scanning

Helmut Kohl hat am 1. Juni 1995 in einer Bundestagsrede gesagt: „Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten.“ Ganz unabhängig von der Person und seiner Politik steckt viel Wahrheit in diesem Zitat. So ist es die Bürde der Zukunftsforschenden, nicht nur Methoden zur Anwendung auf Zukunftsfragen zu kennen, sondern auch ein umfangreiches Wissen und Verständnis der Geschichte vorzuweisen. Als dritte wichtige Methode ist entsprechend die qualitative oder quantitative Datenanalyse zu nennen. Manche nennen dies auch moderner "Horizon Scanning".

Selbstverständlich ist es die oberste Pflicht von Zukunftsforschenden, den aktuellen Stand der verfügbaren Fachliteratur über das Forschungsthema zu analysieren, wozu in technologischen Fragen natürlich auch eine oberflächliche, oft quantitative Patentrecherche gehört. Die wichtigsten Werkzeuge der Zukunftsforschung sind daher wohl die üblichen wie auch wissenschaftliche Suchmaschinen sowie Patent-Datenbanken. Hinzu kommen ggf. spezifische Trend-Suchmaschinen (oft Trendradar genannt; ich arbeite gelegentlich mit der Lösung von Itonics), welche inzwischen mithilfe von Algorithmen künstlicher Intelligenz semantische Zusammenhänge in den online verfügbaren Daten erkennen, wofür menschliche Augen blind sind.

Überblick alle Methoden

Zukunftsforschung Methoden Diamant nach Rafael PopperNatürlich kommen noch viel mehr Methoden zum Einsatz, auf die ich aber hier nicht im Einzelnen eingehen möchte; zu groß ist die Gefahr, etwas zu übersehen, und der Pflegeaufwand. Das können andere besser als ich. Deshalb belasse ich es an dieser Stelle mit einer schönen, grafischen Darstellung und Zuteilung der häufigsten Zukunftsforschungsmethoden von Rafael Popper [2009: Mapping Foresight. Revealing how Europe and other world regions navigate into the future. European Foresight Monitoring Network, European Union, S. 72, online] aus dem Jahr 2009.

Inzwischen kamen einige neuere Ansätze und Methoden hinzu. Nennenswert sind hier die Werke von Sohail Inayatullah (bspw. Six Pillars, Causal-Layered Analysis), Jennifer Gidley (v.a. partizipatorische Ansätze), Riel Miller (Futures Literacy / Zukünftebildung) und René Rohrbeck (v.a. Corporate Foresight).

Unterm Strich kann ich nach einigen Dutzend Projekten vor allem sagen, dass die Zukunftsforschung bzw. Foresight einen großen Vorteil bietet: Wir sind nicht festgelegt auf einige wenige Methoden, sondern wählen die Kombination, die den größten Erkenntnisgewinn verspricht.

 

Dieser Beitrag wurde im August 2024 aktualisiert.