Was ändert der Ukraine-Krieg für die Zukunftsforschung?
Die Initiative D2030 - Deutschland neu denken e. V. lädt monatlich zu Futures Lounges ein. Am 6. April 2022 war ich einer der eingeladenen Gäste für die Diskussion bzw. Impulsrunde. Wir wurden gebeten, in ca. 5-minütigen Beiträgen der Frage nachzugehen, inwieweit der Ukraine-Krieg unser Metier beeinflusst. Bei der Zoom-Session gab es eine rege Beteiligung, die bei Youtube nachgesehen werden kann (mein Part beginnt bei Minute 28:28). Dies waren die weiteren Impulsgeber:innen:
- Dr. Regula Stämpfli, Vorstandsmitglied swissfuture, Politologin - https://regulastaempfli.eu/
- Dr. Claudia Schwarz, Geschäftsführerin Academia Superior, Linz - https://wiki.academia-superior.at/personen/claudia-schwarz/
- Hanna Jürgensmeier, ScMI AG / Vorständin D2030 e.V. - https://www.scmi.de/de/unternehmen/unser-management-team
- Stefan Wally, Geschäftsführer Robert-Jungk-Bibliothek, Salzburg - https://jungk-bibliothek.org/stefan-wally/
- Ludwig Weh, M.A. Zukunftsforschung, Kapitel 21: Zukunftsforschung - https://www.linkedin.com/in/ludwig-weh-20b684132/?originalSubdomain=de
Meine "Polemik" auf die notwendige Veränderung der Zukunftsforschung
Hurra, diese Welt geht unter...
Mal wieder. Selbst ich als nicht ganz 35-Jähriger bin schon abgestumpft, was Weltuntergangsgesänge angeht.
Ich wurde kurz nach der Tschernobyl-Katastrophe geboren. Kurz darauf folgte das Ende der Geschichte, das dann doch nicht stattfand - genauso wenig wie das endgültige Ende des Kalten Kriegs. Der Jugoslawien-Krieg erschütterte die europäische Idee der friedlichen Koexistenz und dem Ende von Genoziden. Dann kam der Krieg gegen den Terror, der den nüchternen Prognosen entsprechend verloren wurde - Bankenkrise, Klimakrise, Biodiversitätskrise, Pandemien von Sars über Mers bis Covid.
Und nun?
Hurra, diese Welt geht unter -
Wir hocken im Atomschutzbunker
Warum? Weil Tschernobyl kürzlich brannte und Fukushima wieder durch ein Erdbeben erschüttert wurde, weil Putin, Lawrow und Kim Jong-Un wieder atomare Sprengköpfe in Stellung bringen. Wir horten Klopapier und Pasta und sprechen wie selbstverständlich schon vom "New Normal" nach Pandemie und Ukraine-Krieg.
Heute wollen wir eigentlich genau diesen Ukraine-Krieg zum Anlass nehmen, neu zu denken. Aber das ist doch, wenn wir ehrlich sind, nur der Tropfen, der das Fass hoffentlich ENDLICH zum Überlaufen bringt.
Klaus Burmeister und die Initiative D2030 haben uns eingeladen, die Implikationen für die Zukunftsforschung zu diskutieren. Hier meine Einschätzung als Impuls zur Diskussion.
Hört auf zu versuchen, eine objektive Realität nüchtern beschreiben zu wollen!
Erstens gibt es die ohnehin nicht und das sollten auch alle Zukunftsforschenden wissen, wenn sie sich mit Kybernetik und den Ideen des radikalen oder wenigstens relationalen Konstruktivismus auseinandergesetzt haben.
Zweitens hilft es niemandem, wenn wir in Studien, Büchern, Artikeln und Interviews immer nur Fakten aufzählen und neu sortieren, aber nicht die Implikationen für Zukünfte daraus ableiten.
Und drittens ist ohnehin jede Aussage über Zukünfte normativ. Denn in dem Moment, in dem ich ein Narrativ bediene und ein anderes nicht, habe ich ja schon dem einen den Raum in der Zukunft eingeräumt ... und dem anderen eben nicht. Wer in der Zukunftsforschung tätig ist, kann sich also von der Idee verabschieden, objektiv und rein rational über Möglichkeitsräume zu sprechen. Die Welt braucht Gestaltungsräume und -anleitungen zur Disruption, Renovation, Exnovation!
Dass wir dabei auch auf Abstand gehen müssen zur Vorherrschaft der Weißen im globalen Norden, insbesondere zu den alten, weißen Männern, ist zumindest theoretisch längst Konsens. Doch wer A sagt, muss auch B sagen - darf zum Beispiel nicht nur Geflüchtete aus der Ukraine zum Anlass nehmen, einen Systemwandel zu forden, sondern auch jene aus dem Jemen, aus Syrien, aus Mali, aus Kolumbien oder den Philippinen.
Auch dürfen wir keine Gelegenheit auslassen, die mutwillige Zerstörung der Biosphäre, das sechste große Artensterben nach der Auslöschung der Dinosaurier, den grenzenlosen Konsum auch 50 Jahre nach Erscheinen der wohl besten Zukunftsstudie aller Zeiten "Die Grenzen des Wachstums", sowie deren systemisch verankerte Mechanismen und Fortschrittsmythen anzuprangern.
Darum sage ich:
Zukunftsforschende aller Länder, vereinigt euch!
Die Zukunftsforschungsabteilungen in Großkonzernen müssen, so es sie denn noch gibt, zurück zu Anstand und Moral finden, anstatt sich für die primär ökonomischen Ziele der Marketing- und Produkt-Abteilung instrumentalisieren zu lassen. Wachstum ja, aber niemals auf Kosten der Allgemeinheit! Wenn wir das nicht heute begreifen und morgen laut kommunizieren, um es übermorgen umzusetzen, werden wir am Ende alle verloren haben.
Die ach so unabhängigen Thinktanks dieser Welt wiederum sollten endlich verstehen, dass das nächste Gadget, der nächste Hype, die nächste Facebook-Sau, pardon, Meta-Sau, die durchs Dorf getrieben wird, keinen unmittelbaren Wert für die Zukunft hat. Ich vermisse bei den ganzen Trendbooklets den Faktor Verantwortung, das holistische Denken und vor allem eine eigene Haltung abseits von Schwarz vs. Weiß, Gut vs. Böse. Die Menschen, besonders die Unternehmen brauchen EUCH, um ihr Denken neu auszurichten. Wenn ihr nur deren Systemlogik wie ein mittelalterlicher Hofdichter repliziert, haben wir nichts gewonnen.
Die akademischen Einrichtungen der Zukunftsforschung müssen aufhören, sich von ihren Auftraggebern die Suppe versalzen zu lassen. Ihr wisst alle, was ich meine. Ich kann weder im Projektantrag mit Sicherheit sagen, welche Methoden letztlich sinnvollerweise zur Anwendung kommen werden, noch viel weniger kann ich deren erwartete Ergebnisse skizzieren. Und ich kann mit keiner Ethik dieser Welt rechtfertigen, dass Forschungsergebnisse kurz vor Projektende vom Auftraggeber höchstselbst redigiert werden, damit es besser zur politischen Linie passt.
Die Vereinten Nationen, deren Bildungs-Arm UNESCO, die globalen Vereine der Zukunfts- und Trendforschung World Futures Studies Federation und Association of Professional Futurists - es gibt sie, die geteilten Werte von Atlanta nach Indonesien, von Stellenbosch bis Turku, von Bogota bis Berlin und auch von Saudi-Arabien bis Peking. Das sind auch oder besser: vor allem die SDGs, die nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen, für eine gerechte, gesunde, sichere Welt ohne Ausgrenzung und Gewalt.
Die UN allein planen in den kommenden Jahren die Verankerung von Foresight in einem Futures Lab, planen eine Declaration on Future Generations, den UN Special Envoy on Future Generations, einen regelmäßigen Strategic Foresight and Global Risk Report und schon 2023 den Summit of the Future.
Hurra, diese Welt geht unter - oder auch nicht. Letzteres gelingt aber nur, wenn es uns Zukunftsforschenden gelingt, von relevanten Entscheidungsträgern in Politik, Wirtschaft und auch dem Militär ernstgenommen zu werden.
Also: Bringt euch ein, werft eure Glaskugel und den Mantel der Objektivität weg und seid unbequem.
Danke.
Disclaimer
Viele werden es bemerkt haben, der Vollständigkeit halber weise ich darauf hin, dass die Zeilen "Hurra, diese Welt geht unter" und "wir hocken im Atomschutzbunker" Zitate aus einem Song der Berliner Hip-Hop-Formation K.I.Z. aus dem Jahre 2015 sind.
Statement zum Ukraine-Krieg
In den letzten Tagen habe ich auf allen Kanälen sehr viel weniger veröffentlicht als gewohnt. Das ist vermutlich gar nicht groß aufgefallen in einer Zeit, in der die meisten Menschen fassungslos auf den Ukraine-Krieg bzw. die mediale Berichterstattung über die Invasion der Ukraine durch den Irren vom Kreml starren. Doch schon schleicht sich der Allag in vielen Köpfen wieder ein und diesen Moment möchte ich nutzen, um meine Haltung zu dieser Katastrophe zu teilen - nicht, dass es nachher heißt, ich hätte es schweigend ignoriert. Also: Bevor es hier mit dem gewohnten Programm weitergeht, möchte ich kurz Stellung zu dieser historischen Zäsur nehmen. Okay, das "kurz" nehme ich zurück.
Disclaimer - Vorausschau mit Einschränkungen
Ich bin weder Experte für Russland, die Ukraine, Osteuropa im Allgemeinen, noch Militäroperationen. Ich bin Experte für Zukunftsforschung und wie man Vergangenes und Gegenwärtiges in mögliche Zukünfte vorausdenkt, um darin Gestaltungsoptionen zu entdecken. Natürlich spielen Krisen jeder Art grundsätzlich eine Rolle für Projektionen in die Welt von morgen; meist sind dies sogenannte Wildcards, also eher unwahrscheinliche, dafür aber einflussreiche Entwicklungspfade. Diesen Punkt greifen wir gleich noch auf.
Seit Monaten habe ich an manchen Stellen, vor allem im inzwischen eingestellten oder wenigstens pausierten Podcast "Kai for future", über die Entwicklungen an der Grenze zwischen der Ukraine und Russland berichtet. Auch bei Tiktok und Instagram habe ich auf einige Entwicklungen hingewiesen. Eine Eskalation fürchtete ich schon im Dezember, dann kamen aber Aufstände in Kasachstan und die Olympischen Spiele dazwischen.
Will nur sagen: Der Zukunftsforscher in mir war beim Einmarsch der russischen Truppen nicht überrascht. Der optimistische Mensch in mir ist zutiefst erschüttert.
Krieg im Allgemeinen
Krieg ist dumm.
Persönlich finde ich jede Form von Gewalt dumm, die über Gestik, Mimik und leicht erhöhte Sprechlautstärke hinausgeht. Gewalt hat noch nie zu langfristiger Problemlösung beigetragen, zumindest nicht, wenn man Probleme im Kontext und als holistisches, systemübergreifendes Konzept begriffen hat. Und wer wenigstens kurz die Probleme analysiert, vor denen man steht, wird feststellen, dass es keine monokausalen Probleme gibt. Mit Ausnahme vielleicht tropfender Wasserhähne.
Der Ukraine-Krieg im Speziellen
Die Vorgänge in der Ukraine bzw. die Rechtfertigung Russlands dafür sind geschichtsrevisionistisch, wird oft von Analyst:innen gesagt. Back to the roots, sozusagen. Für mich sind die Vorgänge vor allem der Beweis, dass auch unsere politische Führung über Jahre versagt hat - in größerem Maßstab, als vielen bewusst ist. North Stream 2 ist klar, die Annexion der Krim vor 8 Jahren auch.
Wieso wurden weitere Aggressionen Russlands Führung so lange beschwichtigend hingenommen? Warum wurden Hackerangriffe und die langfristige Unterstützung Rechtsradikaler in Deutschland und die gezielte Verbreitung von Falschinformation nicht früher beim Namen genannt oder gar verhindert? Warum wirkt die politische Elite der Nationen im globalen Norden (vor allem Europa und die USA) so überrascht? Oder ist das nur die Show, die die Gesellschaft davon ablenken soll, dass in den Hinterzimmern doch andere Gespräche geführt werden über die wahren Motive des Angriffskriegs? Wie immer in Zeiten politischer Zäsuren entsteht auch jetzt wieder viel Raum für Verschwörungsmythen.
Es ist zu leicht, den schwarzen Peter ausschließlich bei Putin zu suchen. Klar, der Mann und seine gesamte Elite, die sich bis in den letzten Distrikt des größten Landes der Welt erstreckt, sind krank. In unseren Augen. Wechselt man die Perspektive, ergibt alles einen Sinn - aus unserer Sicht einen äußerst perfiden. Zurück zum Zarenreich, zurück zur Stärke und Größe der Sowjetunion, das hat Putin ja in mehreren Reden deutlich gemacht. Wie wahnsinnig diese Vorstellung ist nach weitgehend friedlichen Jahrzehnten, in denen die einzigen Aufstände ehemaliger Sowjetstaaten sich gegen korruptes oder autokratisches Führungspersonal richteten! Nachdem die Ex-Mitglieder des "Warschauer Pakts" in den 1990er, 2000er und 2010er Jahre freiwillig und demokratisch legitimiert Mitglieder von Europäischer Union und/oder Nato wurden! Vor allem unter Vortäuschung falscher Tatsachen und Umdeutung der eigenen Rolle in einen Friedensbringer, der die Bevölkerung der Ukraine befreit!
Leviathanozän und die Folgen für die Weltgemeinschaft
Wir leben immer noch im Zeitalter des Leviathan. Machthungrige Eliten schaffen sich selbst die Rahmenbedingungen, die ihre Macht stärken und festigen. Ein absolut logischer Schritt ist da die Zementierung Putins Machtapparats durch den jetzigen Angriffskrieg, die völkerrechtswidrigen Attacken gegen die ukrainischen Bevölkerung, die Inhaftierung protestierender Russ:innen, die weitere Einschränkung der Medien- und Pressefreiheit und die Androhung eines Atomkriegs, welcher die logische Konsequenz der militärischen Intervention Nato-Verbündeter wäre. Spätestens an der Stelle hinkt auch der Vergleich mit der Nazi-Diktatur, denn die hatten ja (zum Glück) keine Atombombe - wenn die Beschwichtigungspolitik noch lange genug abwartet, könnten wir herausfinden, welche Folgen deren Einsatz hätte. So viel zum negativen und leider nicht mehr komplett unwahrscheinlichen Szenario.
Und dann das: Bundeskanzler Olaf Scholz spricht von einer "Zeitenwende" durch den Ukraine-Krieg. Wenige Tage nach dem Einmarsch russischer Truppen in ukrainisches Territorium wird die 100-Milliarden-Finanzspritze für die Modernisierung und den Ausbau der Bundeswehr beschlossen. Das Aufrüsten Deutschlands und die Solidarisierung mit anderen Nato-Verbündeten kam für meinen Geschmack erstaunlich schnell zustande. Und das getrieben von einer Regierung, von denen zwei Parteien im Gründungsmythos "Pazifismus" stehen haben.
Vieles sortiert sich neu, die geopolitischen Spannungen habe ich hier im Zlog ja auch schon mehrfach angekündigt. Wie die sich im Detail äußern, weiß man vorher oft nie, doch wenn man eins aus der Geschichte gelernt hat, dann dass ein Machtvakuum die Machtexpansion durch Dritte begünstigt, wenn nicht sogar hervorruft.
Lesarten des Verteidigungs-Boosters
Wie immer gibt es verschiedene Perspektiven auf die Realität. Hier eine kleine Auswahl der gängigsten:
- "Das macht ja auch Sinn, immerhin verstehen Autokraten keine andere Sprache als militärische Abschreckung. Reden scheint nichts zu nützen, da muss man eben wieder Säbel rasseln."
- "Wie ist es möglich, dass gerade eine Nation, die historisch nicht gerade für den langfristig vernünftigen Umgang mit einem großen Militärapparat bekannt ist, dieser Tage relativ unkritisiert und im Schweinsgalopp eine derartige Summe für Krieg freigibt? Yuval Noah Harari hat uns zwar seinen Segen gegeben, dass international nun niemand denke, die Nazis seien zurück; doch wenn man sich die Skandale der letzten Jahre im Verteidigungsministerium, der Bundeswehr, Sondereinheiten der Polizei und im Verfassungsschutz ansieht, könnte einem auch direkt übel werden angesichts dieses Schnellschusses."
- "Endlich traut sich mal jemand (Scholz?) und sorgt für eine realpolitische Stärkung der Armee. Die Stunde der Befürworter eines starken Abschreckungsapparats im Verteidigungsministerium und in den Polit-Talkshows hat geschlagen!"
Mich würde übrigens auch Ihre Haltung dazu interessieren. Was denken Sie über den Ukraine-Krieg? Schreiben Sie gern einen Kommentar unten oder eine Mail auf der Kontaktseite.
Ende des Friedenszeitalters durch den Ukraine-Krieg?
Die Jahr(zehnt)e des europäischen Friedens scheinen gezählt, das Ende des Kalten Kriegs habe ich ohnehin nie jemandem abgekauft. Die Blöcke hatten sich zwar wirtschaftlich wieder angenähert, damit haben "wir" aber nun scheinbar der Machtelite in Russland geholfen, die Staatsschulden zu minimieren, eine gigantische Armee aufzubauen, die Atombomben gleichzeitig ordentlich instandzuhalten und genügend Mittel zu haben, um zweckdienliche Posten zu korrumpieren - wir denken nur an Georgien, Aserbaidschan, Tschetschenien, Kasachstan und die Separatistengebiete im Osten der (noch) Ukraine - und auf der anderen Seite einen der effektivsten Geheimdienste der Welt, den FSB, derart zu stärken, um unliebsame Regimekritiker vor den Augen der Weltöffentlichkeit zu vergiften, dann ins Gulag zu werfen, oder auf deutschem Territorium (und anderswo) kaltblütig zu ermorden. Geschäft schlägt Moral, wenigstens in dem Punkt ist alles beim Alten.
Aber das könnte natürlich auch alles nur Ergebnis der erfolgreichen Propaganda des Westens sein, dass ich so denke, oder!? Nein. Ich selbst bin nicht der Experte für solche Themen, aber dank meines Jobs habe ich Zugang zu einer Reihe internationaler Expert:innen und Veranstaltungen. Natürlich lese ich auch viel von dem, was in den deutschsprachigen Medien landet, darüber hinaus aber auch die internationale Presse und ja, auch mit russischen Expert:innen und Menschen aus der Ukraine und anderen Osteuropastaaten stehe ich in Kontakt. Dazu gehört unter anderem die Resilience League, um nur eine der Quellen zu nennen. Das nur am Rande, bevor der klassische Vorwurf einer einseitigen Berichterstattung erhoben werden kann.
Schließlich erscheint mir der Zeitpunkt der Invasion nicht zufällig gewählt. Dmitri Medwedew, der ehemalige Interims-Präsident Russlands, der einerseits Anfang 2019 noch behauptete, Russland hege keine Kriegsplän, soll andererseits einmal gesagt haben: "Wir sind geduldig". Dass die zeitliche Wahl eines Angriffskriegs nun ausgerechnet kurz nach dem Abschied der Putin-Versteherin, ehemaligen BRD-Bundeskanzlerin und mächtigsten Frau der Welt, Angela Merkel, stattfindet, fällt sicherlich nicht nur mir auf. Welches Motiv dahintersteckt, bleibt ungewiss. Immerhin hat sie sich sehr eindeutig und scharf gegen Putins Krieg positioniert - ganz im Gegensatz zum Altkanzler Gerhard Schröder, der zum Zeitpunkt dieses Beitrags noch immer keine Kritik am Vorgehen Russlands in puncto Ukraine-Krieg verlautbaren lässt.
Alle gegen Putin? Fast alle.
Auf der anderen Seite ist es bewundernswert, wie stark "der Westen" sich in Form von Sanktionen und öffentlichen Verurteilungen mit wenigen Ausnahmen gegen Russland bzw. dessen Diktator wendet. Nun kann man Putin inzwischen endlich auch faktenbasiert und nicht bloß polemisch "Diktator" nennen, wenigstens etwas Gutes hat die Sache. Die einzigen Gegenstimmen im UN-Sicherheitsrat stammen von Belarus, Syrien, Eritrea und Nordkorea - allesamt lupenreine Diktaturen - stimmten gegen die Russlandsanktionen, 141 Staaten dafür, der Rest enthielt sich und verspricht sich im Folgenden Vermittlerboni. Israel wiederum vermittelt inzwischen aktiv. Selbst das globale Hackerkollektiv Anonymous hat sich auf die Seite des Westens geschlagen, was mir persönlich immer wieder eine Gänsehaut beschert. Zuletzt wurden russische TV-Sender und Streaming-Dienste gekapert, um darin über den Krieg zu berichten. Wow.
Chinas Präsident Xi Jinping hat zwar einerseits Anfang Februar noch öffentlichkeitswirksam ein Freundschaftsabkommen mit Putin unterschrieben, weshalb als Schnellschuss die Annahme kursierte, nun eine Einheit ungeahnten Ausmaßes als Kontrahenten zur Nato-Allianz zu haben. Zu kurz gedacht! So eindeutig bekennt sich Xi noch nicht zum kriegerischen Putin; doch die nun überflüssigen Rohstoffe nimmt sein Land der Mitte sicherlich gern. Vielleicht hat Putin sich an einer Stelle zu früh gefreut, denn wirklich unterstützend wirkt China aktuell noch nicht. Und die anderen Sanktionsopponenten dürften kaum politisches Gewicht haben, solange Kim Jong-un nicht auch noch die Atom-Keule auspackt.
Herzerwärmend wiederum ist die Anzahl zivilgesellschaftlicher Initiativen, die sich zusammengeschlossen haben, um einerseits Hilfsgüter in die Ukraine zu schaffen (angefangen bei der Deutschen Bahn und tausenden anderen Konzernen und KMU) über die bekannten Katastrophenhilfeorganisationen bis zum Bündnis Unterkunft Ukraine, das von Elinor und der GLS Bank in atemberaubender Geschwindigkeit ins Leben gerufen wurde: Es vermittelt unbürokratisch Unterkünfte für Flüchtende aus der Ukraine in Deutschland und während ich diesen Text schreibe, sind dort 276931 Betten von 122308 Unterstützer:innen registriert (08.03.2022, 15:50 Uhr). Zwei davon befinden sich in meinem aktuellen Nachbarzimmer.
Was wir tun können im Ukraine-Krieg
Das sind nun ein paar Dinge, die wir tun können:
- Spenden, Menschen aufnehmen, Initiativen unterstützen. Der Ukraine-Krieg vertreibt Hunderttausende aus ihrer Heimat, viele werden traumatisiert ihr Fluchtziel erreichen. Wer wie ich weder die Möglichkeit noch die Fähigkeit hat, vor Ort zu helfen, aber helfen möchte, kann Geld oder Kleidung, Lebensmittel oder Medikamente spenden. Wie beschrieben, können auch die eigenen Wohnräume für Geflüchtete angeboten werden - auch kurze Zeiträume für die Ankunft helfen.
- Über die realen Zusammenhänge des Ukraine-Kriegs sprechen und Verschwörungsmythen entlarven. Dabei helfen im Übrigen nach wie vor Factchecks wie Correctiv, Reuters, Mimikama (AT) oder WDR (natürlich gibt es auch hiergegen Verschwörungen des rechtsextremem Spektrums, dass die Anbieter Propaganda verbreiteten).
- Bessere Vorausschau (Foresight) in Institutionen jeder Art und Redaktionen implementieren. Ich mag Überraschungen - aber keine existenziell bedrohlichen wie den Ukraine-Krieg! Präagieren statt reagieren heißt die Devise. Ich erzähle in den letzten Jahren so viel über Resilienz und dass dafür bessere Beschäftigung mit Zukünften nötig ist; immer mehr Unternehmen haben das verinnerlicht und auch öffentliche Einrichtungen wagen erste Gehversuche. Doch gelegentliches Berichtswesen über mögliche Herausforderungen oder Katastrophen reichen nicht aus: Das Systemdesign einer Organisation muss vom Grunde her neu gedacht werden.
Und: Bitte nicht die russischstämmige Bevölkerung für Putins Verbrechen verantwortlich machen. Die wird in den Standardszenarien der nächsten Jahre und Jahrzehnte am schlimmsten unter den Kriegsfolgen leiden. Das ist es, was mich neben dem unsagbaren Leid der ukrainischen Bevölkerung vergleichbar tief erschüttert: Das knallharte Kalkül, mit dem Putin sein Volk langfristig für den eigenen Machtzuwachs opfert, um ein Denkmal von sich selbst in Kiew aufstellen zu können. Toxische Männlichkeit im Quadrat.
Keine Spekulationen, aber ...
Über folgendes möchte ich an dieser Stelle nicht spekulieren, es jedoch wenigstens genannt haben:
- Mögliche Szenarien für die russische Bevölkerung: Da sehe ich dunkel, ich kenne nur die genaue Schattierung noch nicht. Revolten wären möglich, aber nicht besonders wahrscheinlich, solange der Lebensstandard noch einigermaßen stabil ist. Ein Großteil der Bevölkerung hat ohnehin weder Zugang zu Informationen noch wirtschaftliche Mittel, um tagelang die Arbeit niederzulegen; andererseits gab es nun über 100 Jahre keine mehr und zumindest im Sinne der 1905er Revolution hätte es jetzt vergleichbaren Zündstoff. Vielleicht nicht mehr 2022, vielleicht aber nächstes oder übernächstes Jahr.
- Der Verlauf des Ukraine-Kriegs: Bleibt's bei den beiden "unabhängigen" Regionen im Osten als Landbürcke zur Krim, ggf. der Absetzung der Selenskyj-Regierung oder wird das ganze Land geschluckt? Macht die russische Armee an den Grenzen der Ukraine wirklich Halt oder provoziert Putin den Bündnisfall der Nato, um eine Rechtfertigung für noch Schlimmeres hat? Müssen wir wirklich Angst vor einem dritten Weltkrieg haben bzw. ist der längst existent?
- Die wahren Ziele Putins: Ist es wirklich nur toxische Männlichkeit und der Wunsch einer Statue in Kiew? Das wäre wohl zu einfach gedacht, auch wenn einige Russlandexpert:innen ihm eine lupenreine Paranoia und pathologische Hybris attestieren (angeblich merkt das nun auch sein innerster Zirkel, der von "Totalversagen" spricht). Aus der klassischen Spieltheorie wissen wir, dass das Verhandlungsergebnis immer in der Mitte zwischen zwei Angeboten liegen wird; verschiebt Putin durch die "Militäroperation" die Grenzen der Ukraine nun bis direkt an die EU / Nato, dürfte ihm im Ergebnis maximal das halbe Land bleiben. Putin ist nicht unintelligent, also ...
- Die versteckte Agenda westlicher Regierungen: Diesen Punkt darf man nie vergessen, es ist naturgemäß kein schwarz gegen weiß. Die USA dürften von der ganzen Krise langfristig profitieren, sämtliche Alternativen zu russischen Exporten besonders im Energiesektor, Produktionsstätten wichtiger Industrierohstoffe wie Aluminium und Titan und vieles mehr. Welche mittel- und langfristigen Auswirkungen sich ergeben, hat der sehr geschätzte Zukunftsforscher Victor V. Motti kürzlich in einem Futures Wheel zum Ukraine-Krieg antizipiert.
- Merkwürdige Widersprüche in der Förderpolitik der BRD: 100 Milliarden für Panzer und Raketen, aber nicht mal eine Milliarde als Bonus für Pflegekräfte, geschweige denn Modernisierung von Bildungseinrichtungen? Das wird extrem schwer vermittelbar für eine tendenziell linke Regierung.
- Zukünftige Energie- und Rohstoffpreise: Benzin und Diesel wären auch ohne Krieg und Abwendung von Nord Stream 2 teurer geworden ... Jetzt entstehen zwei neue Hubs in Norddeutschland, um schnell unabhängig zu werden von russischem Gas und Benzin, der Ausbau erneuerbarer Energien wird boomen. Letzteres spielt in die Karten der Ampel-Regierung.
- Folgen für den Fachkräftemangel: Vielleicht bringt der Ukraine-Krieg sogar einen positiven Effekt mit sich, immerhin wandern mit Geflüchteten aus der Ukraine Hunderttausende nach Deutschland. Für den Fall, dass in ihrem Heimatland ein zweites Belarus entsteht, was nicht ganz unwahrscheinlich ist, könnte ich mir gut vorstellen, dass sie gern hier blieben.
- Herausforderungen für die Gesellschaft: Wem tönt nicht das 2015er Merkel-Mantra "wir schaffen das!" durch den Hinterkopf? Integration war noch nie unsere größte Stärke, nicht einmal mit der eigenen Brudernation, der ehemaligen DDR. Ersthilfe klappt in der Regel ganz gut, aber was ist mit Visa, Asyl und Arbeitserlaubnis - unbürokratisch? Viele Ukrainer:innen haben zwar deutsche Wurzeln oder sogar heute noch Verwandtschaft, doch wie bekommen wir Sprachkurse, (Aus-)Bildungsprogramme und kulturelle Verständigung zwischen allen Menschen in Deutschland hin?
- Das internationale Wissenschaftssystem hat sehr von der zunehmenden Öffnung der russischen Wissenschaft profitiert; das könnte nun vorbei sein. 7000 Wissenschaftler:innen aus Russland haben sich gegen den Krieg ausgesprochen, was wahnsinnig mutig ist. Doch wenn infolgedessen die Finanzierung für ihre Institutionen wackelt und es ans Eingemachte geht, steht Russland entweder ein massiver Braindrain bevor oder die Wissenschaft in Russland ist tot, zumindest für den Rest der Menschheit. Der weltweit größte Wissenschaftsverlag Springer hat sich bereits deutlich positioniert. Ob die ISS und folglich die international fast romantisch anmutende Kooperation im "New Space Race" das überlebt, steht in den Sternen.
- Der internationale Sport wird etwas Doping-ärmer. Ich denke, das ist zu verkraften, aber ja, das ist ein blödes Klischee und ich habe ohnehin überhaupt keine Ahnung von Sport. Aber bis hierhin lesen ohnehin die wenigsten - Glückwunsch!
Schluss: Ukraine-Krieg macht ohnmächtig
Es sind traurige Zeiten und mehr denn je spüre ich Ohnmacht. Doch wie immer versuche ich, den Blick auch auf Chancen zu richten. Dazu dann später mehr.
Ende des Statements. Weiter geht's hier mit den üblichen Veröffentlichungen.
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